Amok der Medien in Winnenden: Blick auf die Medienkritik in Medien und Blogs

by dels on 15. März 2009

Mit dem Amoklauf in Winnenden hat sich der Blick Log aus vielen Gründen bisher nicht befasst. Wohltuend von den Artikeln und Berichten über Mutmaßungen, schnellen Erklärungen (“Killerspiele”, “Waffengesetz”) und haufenweise O-Tönen, die voyeuristische Grundbedürfnisse abdecken, hob sich heute die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung ab. Unter der Überschrift “Wir Voyeure” setzte sich Philip Eppelsheim kritisch mit der eigenen Zunft auseinander und wird sich so manchen Ärger von seinen Kollegen einfangen.

Die “Arbeit” seiner Kollegen beschreibt er dabei u. a. wie folgt:

“Ein Heer von Kameras umgibt den Schulkomplex, unzählige Reporter sind unterwegs und haben selbst ihre Anreise als Nachricht verkauft. Die Fotografen und Kameramänner nehmen die Klassenzimmer ins Visier, hoffen am Mittwoch darauf, zumindest festhalten zu können, wie die Särge mit den Toten aus der Schule gebracht werden. Jedes Kind, jeder Jugendliche, jeder Erwachsene, der irgendetwas über den Amoklauf wissen könnte, wird ausgefragt. „Kannten Sie den Täter?“, „Kannten Sie Opfer?“, „Können Sie sich vorstellen, warum Tim K. so etwas getan hat?“, „Warst du in einer der Klassen, in die Tim K. gegangen ist?“ Und dankbar wird jede Antwort niedergeschrieben und ausgestrahlt. Ohne sie auch nur ansatzweise in Frage zu stellen. So sind am Mittwochabend Profile des Täters zu sehen, die am Donnerstag schon wieder überholt sind, von denen sich so gut wie nichts bewahrheitet hat.”

Und zum Nachdenken regen die folgenden Sätze an, in denen Eppelsheim vorsichtig eine Mitschuld der Medien an solchen Taten andeutet.

“Die Medien sollten umsichtiger sein, heißt es immer wieder. Wie könnten die Journalisten nur. Und schnell werden sie gar zu Schuldigen des Amoklaufs gemacht, die die Antwort auf das „Warum“ sind. Hätte Tim K. nicht gewusst, dass er nach seiner Tat zum Medienstar wird, er, der angeblich „Unauffällige“, über Tage hinweg alle Schlagzeilen bestimmen wird, dann hätte er womöglich gar nicht den Amoklauf begangen. So wäscht sich der rein, der gerade seinen Voyeurismus unter dem Deckmantel der Anteilnahme befriedigt hat – denn nicht zuletzt sind die Schlagzeilen schließlich auch gebunden an Nachfrage.”

Der Artikel veranlasste mich, noch etwas weiter zu suchen nach kritischen Beiträgen zum typischen Reiz-Reaktionsschema der Medien in solchen Fällen. Und immerhin, nicht nur die FAS setzte sich selbstkritisch mit der Sensationsgier auseinander. Der Focus hat auf seiner Webseite bereits am Tag nach dem Amoklauf die Berichterstattung thematisiert:

“Auch die Journalisten wissen, sie bewegen sich auf einem schmalen Grat. Viele haben Tränen in den Augen beim Anblick der Bilder, die sie hinaus schicken in ihre Heimatredaktionen. Auch sie müssen die Gesichtsausdrücke der traumatisierten Jugendlichen verkraften, die ihnen chronologisch und detailliert berichten, wie die Mitschülerin am Nebentisch tot zusammensackt. Einige stehen stumm vor dem Meer aus Kerzen und Trauernachrichten. Andere geben Interviews auf Englisch, auf Französisch, auf Türkisch. Es scheint, als verarbeiteten sie das Erlebte, indem sie es immer und immer wieder in die Mikrofone sprechen.
Darf das sein? Dürfen 13- bis 15-Jährige, die vor wenigen Stunden nur knapp dem Tod entronnen sind, der Öffentlichkeit derart präsentiert werden – auch wenn sie es wollen? Die Debatte über Winnenden und das Verhalten der Medien wird kommen.”

Die TAZ berichtete am Tag danach von den ablehnenden Reaktionen vieler Bürger auf den Medienrummel, vergisst aber die Selbstkritik.

Bettina Röhl hat in der Welt ebenfalls am Tag danach begriffen, dass die Medien überziehen:

“Es sind aber immer nur singuläre Fälle, die meist aus Zufall medial ausgeschlachtet werden. Natürlich nach dem Motto von Mitleid und Aufklärung. Amokläufe bringen das Medienfass zum Überlaufen und reißen die Politik, die Institutionen und auch die medialen Institutionen mit in einen widerwärtigen Betroffenheitssumpf. Gottesdienste mit vielen Prominenzen und sich vor den Kameras in den Armen liegende weinende Teenager: die kamerabewaffneten Voyeuristen zerstören jedes authentische Gefühl.”

Und auch Röhl vermutet bei den Medien zumindest den Anfangsverdacht einer Mitverursachung:

“Wer Revue passieren lässt, was der Amokfall von Erfurt an Reaktionen von der Staatsspitze bis hinunter zum kleinsten Bürger an Reaktionen ausgelöst hat, der kann ernsthaft nicht darüber hinweg sehen, dass dieser Veröffentlichungshorror mindestens eine Conditio für den Amoklauf von Winnenden gewesen ist.”

Sucht man unter Google News nach Winnenden und Medienkritik erhielt man am Sonntag gerade mal einen Treffer. Die Blogsuche offenbart da schon mehr Beiträge der Blogosphäre, nämlich immerhin 22. Natürlich gibt es weitere Beiträge, die sich kritisch mit dem Medienverhalten auseinandersetzen, jedoch nicht die Suchbegriffe enthalten.

Der Blog homo homini lupus setzt sich bereits am Tag nach der Tat kritisch mit den typischen Reflexen der Branche auseinander:

“Kippt irgendwo auf der Autobahn ein Bus mit Senioren um, interessiert das im Vergleich nicht die Bohne. Hier wird nicht auf eine Sonderliveberichterstattung geschaltet oder über teuflische Rennsimulationscomputerspiele, die den Fahrer möglicherweise negativ beeinflusst haben, philosophiert. Es werden auch keine Fernsehpsychologen erklären, dass der Fahrer schon seit seiner Kindheit von allen anderen Verkehrsteilnehmern gemobbt wurde und dadurch in seinen sozialen Kompetenzen beeinträchtigt zu einem Unglücksfahrer mutierte. Es gibt aber auch wirklich keine so gute Story her, wenn 30 Senioren auf dem Weg zurück von einer Wärmedeckenpräsentation unter einem Bus begraben werden.”

Im Blog Literatur-Cafe ist etwas über die medientypischen Reflex in solchen Fällen  zu lesen:

Für Amokläufe gibt es strenge, ungeschriebene Regeln. Diese gelten nicht nur für die Tat selbst, sondern auch für die Reaktionen der Presse, der Politiker, der »Experten« und »der Öffentlichkeit«. Visuell hat sich für einen Amoklauf in den Medien zudem das Bild des langhaarigen weiblichen weinenden Teenys durchgesetzt. Zum Standard gehört mittlerweile auch die Ankündigung der Tat im Internet.

Nach den Ereignissen in Winnenden wird die Schuld erwartungsgemäß bei Computerspielen (»Killerspielen«) gesucht. Dass ein männlicher Jugendlicher Counterstrike auf seinem Rechner hat, dürfte heutzutage mit fast 100%iger Sicherheit der Fall sein.

Weitere Berichte, die sich mit der Winnenden und dem Reiz-Reaktionsschema der Medien befassen

Think Strange: Weiterführende Gedanken anlässlich des Amoklaufes in Winnenden

HB: Debatte um Amoklauf-Berichterstattung im Web

FTD: Digitale Wahrheiten

Spreeblick: Rotten Media

HB: Wer die Wahrheit will, braucht Zeit

FTD: Volksvertreter und Internet-Enten: Wenn sich Politiker im Netz verheddern

Stefan Niggemeier: Leider nicht wirklich eine Satire

HS: Die Institutionalisierung von Amokläufen

Querblog: Die Wahrheit getwittert oder keinem mehr irgendwas glauben

Handaktie WebLawg: Die Twitter-Regeln der deutschen Medien

Westropolis: Die Kultur der Hyperaufmerksamkeit

Zeit: Der Markt schreit immer mehr nach Sensation

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