Das verlorene Jahrzehnt: Die große Null der Wirtschaft

by Dirk Elsner on 12. Januar 2010

In den USA haben die Wirtschaftsmedien eine interessante Diskussion über “The Lost Decade” in der Wirtschaft angestoßen (siehe Beiträge am Ende des Artikels). In Deutschland widmete der Spiegel dem verlorenen Jahrzehnt eine Titelgeschichte. Und auch das Handelsblatt fasste jüngst einige Daten des Börsenjahrzehnts zusammen:

“US-Aktien etwa sind heute rund 2,5 Billionen Dollar (1,74 Billionen Euro) weniger wert als noch zu Beginn des Jahrzehnts; die Inflation ist da nicht einmal mit eingerechnet. Der S&P 500 schloss zum ersten Mal eine Dekade mit einem dicken Minus ab. Vom Stand Anfang 2000 bei 1469 Zählern ist der Index um rund 23 Prozent auf 1126 Zähler gefallen. Der Dax kratzte im Jahr 2000 an der 8000er-Marke, um sich bis Frühjahr 2009 zu halbieren. Langfristig betrachtet, fällt die Erholung der letzten Monate also nicht wirklich ins Gewicht.”

Das Wall Street Journal hat sogar herausgefunden, dass für den Dow Jones das vergangenen Jahrzehnt die schlechtesten zehn Jahre überhaupt waren (siehe Grafik Worst Decade Ever)*. Der Blog Wirtschaftsquerschuss hat in dem Blogbeitrag "Das verlorene Jahrzehnt" der vergangenen Woche eine hervorragende Übersicht mit volkswirtschaftlichen Daten der USA zusammen getragen.

In einem Blogbeitrag Ende vergangenen Jahres zeigte ich mich erstaunt über die Entwicklung, die beschränkt ist auf die westlichen Industrienationen. Aktienindizes gelten als kollektives Spiegelbild der Leistungsfähigkeit und Performance von Unternehmen. Diese Leistungsfähigkeit hat in der Durchschnittsbetrachtung erheblich nachgelassen. Und noch hat keine intensiven Diskussionen darüber begonnen, worin eigentlich die Ursachen dieses verlorenen Jahrzehnts in der Wirtschaft liegen könnten.  

Gerade in den letzten 10 Jahren haben so viele Fachleute wie nie zuvor in der Menschheitsgeschichte ihren Rat verbreitet, wie alles besser zu machen ist. Noch nie war wissenschaftlich gesichertes Wissen über Organisationen, Methoden und Technologien so einfach und schnell verfügbar wie in der vergangen Dekade. Ohne Beispiel ist es, wie wir weltweit gute und schlechte Erfahrungen über Geschäftsmodelle austauschen konnten. Und haben wir nicht ebenfalls alle Register und Weisheiten der Management- und Mitarbeitermotivation ziehen können, um die optimale Performance hinzulegen? Preisen nicht seit Jahren Gurus und Berater in der Wirtschafts- und Managementpresse ihre Tipps, wie Unternehmen noch effizienter und Märkte noch erfolgreicher erobern können?

Woran liegt es also, dass wir uns trotz dieser Informationen wirtschaftlich in der Summe nicht wirklich fortentwickeln? Hat uns der so gern propagierte wirtschaftliche Egoismus, der von vielen in opportunistischer Weise ausgelebt wird, doch in ein kollektives Gefangenendilemma geworfen? Schadet vielleicht doch die individuelle Interessenmaximierung mehr als die kooperative Suche nach der gemeinsamen Nutzenerhöhung? Sitzen in den Unternehmensspitzen doch nicht, wie viele glauben, trotz bester Bezahlung die besten Leute, sondern nur diejenigen, die sich selbst am besten verkaufen können? Kosten die persönlichen Machtkämpfe der Alphatiere in den Unternehmen zu viel Performance oder vergeuden wir die durch Informationstechnologie gewonnene Zeit mit zu viel Ablenkung von betrieblich relevanten Themen? Können wir uns möglicherweise gar nicht mehr auf langfristige Ziele konzentrieren, weil uns die Realtimegesellschaft täglich neue Ziele “empfiehlt”?

Alles dies sind Fragen, auf die es keine schnellen Antworten gibt. Aber ich will mich mit dem Blick Log in diesem Jahr auf den Weg machen und nach Antworten in der Literatur und der Wirtschaftspraxis suchen. Einen ersten Vorschlag liefert der deutsche Wissenschaftler Prof. Klaus Schwab, Gründer und Präsident des Weltwirtschaftsforums. In einem Beitrag für die Süddeutsche beklagt er die Erosion der Unternehmensziele und schreibt:

“Was zunehmend geschah, war die Transformation des Unternehmens von einer "Sinn"- zu einer "Zweck"-Einheit. Der Sinn, gemeinsam Güter und Dienstleistungen zum Wohle der Gesellschaft zu erzeugen, wurde ersetzt durch den Zweck, kurzfristig möglichst hohen Gewinn und damit steigende Aktienkurse zu erzielen. Wenn dabei gleichzeitig die unternehmerischen Entscheidungsprozesse von der Verantwortung für eigene Risiken abgekoppelt werden, haben wir es mit einer Pervertierung des unternehmerischen Systems zu tun.

Das Unternehmen ist in diesem Kontext keine organische Gemeinschaft mehr, sondern eine mechanische "Gewinn-Erwirtschaftungsmaschine", bei der alles auswechselbar ist, was dem Zweck nicht optimal entsprach: Führungskräfte, Mitarbeiter, Produkte, Standorte usw. Diese Entwicklung war besonders im intermediären Sektor sehr ausgeprägt, das heißt dem Finanzsektor, also dort, wo mit dem eigentlichen Sinn eines Unternehmens, der Erzeugung von substantiellen Werten, kaum noch ein Zusammenhang bestand.

Das hat Konsequenzen für das Verhalten: Ein Individuum, welches weiß, dass es jederzeit auswechselbar ist, wird von Eigennutz geleitet sein. An die Stelle einer Welt geleitet vom gemeinsamen Pflichtbewusstsein gegenüber der Gesellschaft ist damit ein individuelles Anspruchsdenken getreten, bei dem das Gemeinwesen eine untergeordnete Rolle spielt.”

Schwab fasst damit gut eine Erkenntnis zusammen, die häufig Gegenstand betriebswirtschaftlicher Untersuchungen ist. Tatsächlich dürften die Ursachen darauf allein nicht zu beschränken sein. Daher soll damit die Suche nach weiteren Erklärungsansätzen erst beginnen. Ich habe dazu wieder eine Mindmap angelegt, in der Informationen zum “verlorenen Jahrzehnt” Schritt für Schritt zusammen getragen werden.

Methodisch müsste man sich natürlich vorher die Frage stellen, ob das vergangenen Jahrzehnt wirklich so verloren war, wie es die reinen Performancezahlen vermuten lassen. Es gibt selbstverständlich noch eine Fülle weiterer Indikatoren, die zu betrachten wären, bevor das negative Etikett vergeben wird. Die erste Fassung der Mindmap kann daher nicht mehr als ein Entwurf sein. Aber an einer Stelle muss man die Diskussion ja schließlich beginnen. Gern lade ich die Leser der Blick Logs ein, die Übersicht um weitere Vorschläge zu erweitern.

* Die Ergebnisse der Aktienrenditen lassen sich übrigens noch schlechter rechnen, wie dieser Blogbeitrag im Handelsblatt, der auf einen allerdings kostenpflichtigen Artikel verweist, zeigt.

US-Wirtschaftspresse zur Lost Decade

Business Week: A Decade of Decay

NYT: The Big Zero (v. Paul Krugman)

WSJ: The Lost Decade of Stock Investing

NYT: For Stocks in the Developed World, It Was a Decade of Zeros

Time: The ’00s: Goodbye (at Last) to the Decade from Hell

WSJ: A Low, Dishonest Decade

NYT: Op-Ed Columnist – Decline Is Relative

NYT: For Savers, It Was Hardly a Lost Decade

WSJ: A Decade Of Overreaching

innovationandgrowth: Economic Statistic of the Decade Award:Finalists

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