Maturana und Varela oder was Ökonomen von Biologen über Vorhersagen lernen könnten

by Dirk Elsner on 29. August 2010

Als der Blick Log vor zwei Wochen in die Pause ging, da hätte ich mich mit der Vorhersage weit aus dem Fenster wagen können, dass der Blog nach zwei Wochen Pause wieder neue Beiträge veröffentlicht. Aber konnte ich wirklich sicher sein? Natürlich nicht, denn ich hätte im Urlaub auf die Idee kommen können, den Blog einzustellen oder wir hätten den Urlaub nicht gesund überstehen können oder aus vielen anderen Gründen wäre es heute nicht weiter gegangen. Was ich damit sagen will: die Wahrscheinlichkeit, dass der Blog nach der Urlaubspause den ersten Beitrag wieder veröffentlicht war zwar hoch, sie lag aber nie bei 100%. Einzig die Absicht ihn heute wieder zu starten, lag vor dem Urlaub nahe bei 100%.

Der Umgang mit ökonomischen Vorhersagen der “Experten” gehört seit dem Start dieses Blogs zu den gern genommenen Beobachtungsobjekten nebst der Kritik am Umgang mit ihnen und der Berichterstattung darüber. Gerade Medienberichte über spektakuläre Vorhersagen lassen häufig eine notwendige kritische Distanz vermissen. Insbesondere, wenn ein “Experte” aus welchen Gründen auch immer richtig prognostiziert hat, dann stürzt man sich gern auf seine neue Einschätzung. Die Wahrscheinlichkeit einer medialen Wiedergabe steigt dabei mit der Spektakularitätsgrad der Prognose.

Es fällt auf, dass sich zumindest die medial verbreiteten ökonomische Vorhersagen durch erhebliche Mängel an Distanzierung, Vorsicht und Risikoeinschätzung auszeichnen und damit erhebliche Zweifel an ihrer Ernsthaftigkeit aufkommen lassen. Seriöse Analysten verweisen zumindest auf ihre Modelle und nennen ihre wesentlichen Annahmen. Dabei endet aber meist die Vorsicht. Ganz selten sind Hinweise darauf zu lesen, dass ein Modell nur eine Annäherung sein kann, dadurch nicht die gesamte Komplexität der Realität abgebildet wird und die Annahmen erheblich schwanken könnten. Da die Modelle außerdem nicht offen gelegt werden, entziehen sich die Vorhersagen einer kritischen Würdigung und können so tatsächlich nur als das bezeichnet werden, als was der Blick Log sie wahrnimmt: als Anekdoten, die der Unterhaltung und dem Smalltalk dienen und bestenfalls als Meinungsäußerungen.

Diese Gedanken sind für regelmäßige Besucher dieser Seite nicht neu. Zuletzt hatte ich Anfang August darauf hingewiesen, wie groß der qualitative Unterschied zwischen dem Anspruch von Ökonomen und Physikern in Bezug auf die Qualität eigener Vorhersagen ist. Im Urlaub hatte ich nun das große Vergnügen endlich einmal den modernen Klassiker der Erkenntnistheorie von Humberto Maturana und Francisco Varela lesen zu können: Der Baum der Erkenntnis. In diesem Buch mit dem Untertitel “Die biologischen Wurzeln menschlichen Erkennens” bemühen sich die beiden chilenischen Forscher u.a. um eine Differenzierung zwischen der Erklärung der biologischen Entwicklung in der Vergangenheit und den Problemen aus diesen Erkenntnissen eine Vorhersage ableiten zu können. Die folgende Darstellung aus dem Buch könnte nach meiner Ansicht auf die Ökonomie übertragen werden:

Den Versprechungen eines Hellsehers, er könne uns mittels seiner Kunst die Zukunft voraussagen, begegnen wir im allgemeinen mit gemischten Gefühlen. … Wir wünschen uns, einen freien Willen zu haben und so jenseits von jedem Determinismus zu sein. … [Wir] können nur in dem Maße eine wissenschaftliche Erklärung abgeben, in dem wir das zu erklärende Phänomen als Ergebnis der Arbeitsweise eines strukturdeterminierten Systems behandeln. … Nun ist es an der Zeit, sehr deutlich zwischen Determinismus und Voraussagbarkeit zu unterscheiden. Wir sprechen von einer Voraussage, wenn wir nach Betrachten des gegenwärtigen Zustandes irgendeines von uns beobachteten Systems behaupten, dass ein anderer Zustand folgen wird, der sich aus der strukturellen Dynamik des Systems ergeben und ebenfalls unserer Beobachtung zugänglich sein wird. Eine Voraussage enthüllt deshalb, welche Geschehen wir als Beobachter erwarten.

Hieraus folgt, dass Voraussagbarkeit nicht immer möglich ist und dass es nicht dasselbe ist, den strukturdeterminierten Charakter eines Systems zu behaupten wie dessen vollständige Voraussagbarkeit zu behaupten.

Maturana und Varela schreiben in der Folge über Systeme, über dessen Operieren wir nicht alles das wissen, was wir wissen müssten, um eine Voraussage machen zu können. Dazu rechnen sie etwa die Meteorologie, die unter der Schwierigkeit leidet alle relevanten Variablen für eine Voraussage zu erkennen. Sie sprechen zwar ebenfalls von einem Determinismus, also der theoretischen Erklärbarkeit und Abhängigkeit von beobachteten Phänomen und deren Ursachen. Es gäbe aber Phänomene wie die Turbulenz, hinsichtlich derer wir nicht einmal über die Elemente eines Konzepts verfügen, die uns erlauben würde, uns ein sie erzeugendes deterministisches System vorzustellen. Etwas weiter erteilen sie der Zufälligkeit eine Absage: “Was wir als zufällig ansehen, erweist uns als Beobachter, die unfähig sind, dafür ein wissenschaftliches Erklärungssystem vorzuschlagen.”

Nun bin ich weder Biologe noch Erkenntnistheoretiker, dennoch darf ich mir als Betriebswirt und Wirtschaftspraktiker erlauben, ihre Aussagen so zu interpretieren, dass zwar alle Phänomene grundsätzlich erklärbar sind, deswegen aber noch lange keine vollständigen Voraussagen möglich sind. Und genau das passt gut zur Ökonomie. Hochaggregierte ökonomische Kennzahlen, wie etwas das Sozialprodukt, werden aus einer Vielzahl von Kennziffern ermittelt, die aus dem Verhalten und der Interaktion einer unüberschaubaren Anzahl von Subjekten mit anderen Subjekten und ihrer Umwelt erfolgt (Maturana und Varela sprechen von Strukturkopplung zwischen Organismus und Milieu). Die Vorhersehbarkeit ist hier auch deswegen eingeschränkt, weil kein adäquates Modell existiert, dies abzubilden und nicht jedes Verhalten beobachtet werden kann.

Dazu kommt, dass wie etwa in der Physik und der Meteorologie ähnliche Bedingungen und ähnliche Einflussfaktoren nicht zwingend zu ähnlichen Ergebnissen führen müssen. Daneben hinterlassen vergangene Ereignisse Spuren, die Einfluss auf nachfolgende Ereignisse oder Verhalten nehmen. Dazu zeichnen Maturana und Varela im Abschnitt über “natürliches Driften” ein interessantes Bild, in dem ich ebenfalls eine auf die Ökonomie übertragbare Analogie sehe:

Dazu stelle man sich vor, man sitze über einem großen Berg und lässt Wasser in immer die gleiche Richtung hinunter tropfen, wobei durch die Mechanik des Werfens geringfügige Abweichungen auftreten. Die Wassertropfen hinterlassen eine Spur auf dem Boden. Bei mehrmaliger Wiederholung dieses Experiments wird man daher unterschiedliche Ergebnisse bekommen. “Einige Tropfen werden geradewegs hinunterfließen; andere werden Hindernisse auf ihrem Weg antreffen und ihnen infolge ihrer geringen Unterschiede an Gewicht und Impuls auf verschiedene Weise ausweichen, indem sie zu der einen oder anderen Seite tendieren. Vielleicht wird die Windrichtung sich ändern und die Tropfen hierhin oder dorthin ablenken, vielleicht werden die Spuren vorangegangener Tropfen den Grund für den Weg der nachfolgenden veränder haben – uns so weiter und so weiter.”

Um hier nicht falsch verstanden zu werden. Diese (vielleicht sogar unzulässige) Analogie, die ich hier zwischen Biologie und Ökonomie ziehe, soll kein Plädoyer dafür sein, auf Vorhersagen zu verzichten und die Suche nach besseren Modellen einzustellen. Aber gerade weil die Modelle der Ökonomen mit ihrem platonischen Reduktionismus nicht perfekt, nicht alle Einflussfaktoren bekannt sind und selbst kleine Einflussfaktoren große Wirkungen haben können, zeigt dies die Zerbrechlichkeit und Unvollständigkeit von Vorhersagen. Dazu kommt der Einfluss dieser zerbrechlichen Prognoen auf zentrale politische Entscheidungen. Basieren politische Entscheidungen auf falschen Vorhersagen, dann kann auch die politische Entscheidung falsch sein

Für die öffentliche Darstellung wünsche ich mir daher von einer Prognose, die ernst genommen werden will, Transparenz über das Modell und die verwendeten Daten, so dass Fachleute die Vorhersage prüfen können. Und vor allem wünsche ich mir eine Art Risikokennzahl, die Hinweise auf den Grad der Unsicherheit gibt (Beispiel dazu hier). Von professionell arbeitenden Wirtschaftsmedien wünsche ich mir, dass sie die Qualität einer Prognose nicht allein mit dem Renommee des Vorhersagenden begründen, sondern explizit die vorgenannten Faktoren abfragen.

dels August 30, 2010 um 18:57 Uhr

Danke für die Rückmeldungen und die Vertiefungen, die ja tatsächlich zeigen, dass die Ökonomie sich hier etwas abschauen kann.

Thomas Schneider August 30, 2010 um 11:35 Uhr

Das war jetzt sehr zart an der Oberfläche.
Ein wenig mehr gefällig?

Wir leben in Sprache. Sprechend. Die Biologen haben schon seit längerem gefragt, ob es beim alltäglichen und ökonomischen Handeln/Managen/Organisieren tatsächlich nur verarbeitende (aber eben sehr komplexe) Maschinen sind die da agieren oder ob das aufgrund der erkennbaren biologischen Fakten nicht doch anders läuft. Sodass merkwürdige/unlogische/miese Entscheidungen/Einordnungen/Vorurteile nicht grundsätzliche Fehler oder Mangel von Charakteren wären, sondern etwas möglicherweise doch noch Korrigierbares. Das hätte mehr Beweglichkeit, weniger Verbissenheit, z.B. ein leichteres Wechseln von mieser zu guter Entscheidung zur Folge.

Wo endet die grundsätzliche (biologische) Möglichkeit meines Kollegen/Chefs/Mitarbeiters/Auftraggebers und wo beginnt die Sozialisierung (sein KnowHow/Handeln in seiner Sprache) an der ich mit den richtigen Worten so viel ändern kann, dass er in meinem Sinne mitspielt? Wo ist da die Hör-, Aktions– und Reaktions-Schwelle?

Daran haben sich zig Fachleute versucht. Das Besondere beim Ansatz der „Lebenden Systeme“ Maturanas ist, dass sie aus den Untersuchungen über das Sehen und „Verarbeiten“ von Reizen zu anderen Schlüssen kamen als die übrigen Neuro-Forscher (diverse Literatur unter seinem Namen, auch in Deutsch). Hier ist nur interessant: In diesem Ansatz sind Lebende Systeme Vorhersage-Systeme. Die tun gar nichts anderes! Aber – sie tun es in Sprache, mit Worten und Begriffen die für und in sich selbst wieder dauerhafte Bedeutung haben. Also die Leute als lebende Systeme sind in ständiger action und Veränderung, aber ihre Worte und das was sie bedeuten sind konstant und nachhaltig.
Man kann beobachten, dass für alle das Ziel besteht, möglichst erfolgreiche/sichere Vorhersagen für sich zu machen. Das ist soz. biologisch fundamental für alle! Und damit sind die sozialen Elemente die oft als Grundlagen von Handlungen und Aktionen gesehen werden, („wo bekomme ich mein nächstes Essen her, meinen nächsten Job, mein nächstes Auto….“), so gesehen nicht mehr so basic wie‘s die Volkswirtschaft gern hätte sondern schon verhandelbar und Teil einer Absprache mit anderen. Das so cool zu sehen bedeutet einen rieseigen Schmonzes von psychologischer Theorien und Kombinationen einfach weg streichen zu können wie bei einer Bruch-Rechnung. Es so zu sehen spart beim Managen Zeit und Nerven und bleibt dem einzelnen gegenüber angemessen.

Wenn man das anwenden will muß man sich klar machen, dass wir im west-europäischen und anglo-amerikanischen Raum Verhalten als Teil einer Situation beschreiben in der wir dann miteinander oder übereinander reden. Wenn man jedoch schaut was Körper und Nervensystem dann tatsächlich machen kann man diese Grund-Beschreibung nicht mehr aufrecht erhalten. Da ist SITUATION das, was sich vom jew. eigenen System an Vorhersagen in Worten zusammenfassen lässt – nämlich nur noch eine Beschreibung, nie das „richtig erkannte“ Original. Und Beschreibungen – das weis jedes Kind – kann man ändern und anpassen. An die Situation? Nein, an den Adressaten, den Zuhörer. Das widerum weis jeder erfolgreiche Verkäufer. Diese Interaktion oder Kommunikation zwischen Leuten zu einem bestimmten Zeitpunkt beschreiben wir dann in der 3. Person widerum als „die Situation“.
Wenn ich‘s jetzt einigermaßen richtig hinbekommen habe müssten Sie erkennen, dass es in dieser Sicht mind. 3 aktive Ebenen gibt mit denen man ständig zu tun hat und die drei verschiedene Einschätzungen von Vorhersagen anderer sinnvoll machen: 1. Die eigenen Vorhersage-Cluster (…was wir wissen…), 2. die Vorhersagen der benutzten Begriffe einer Meldung (die wir als Sachwissen z.B. in der Volkswirtschafts– und Betriebswirtschafts-Lehre weiterreichen), und 3. der Vorhersage-Cluster dessen der die Meldung verfasst hat.

Funktional haben wir haben es dann also nicht mit „richtigen“ und „falschen“ Einordnungen/Entscheidungen in dem und dem Markt zu tun, sondern mit Strategien jeweils eigener Vorhersagen desjenigen der da veröffentlicht, die bis dato für ihn zutrafen und die er nun mit seiner aktuellen Aussage ergänzt (zur Markt-Entwicklung oder was immer). Für viele scheint es praktisch zu sein, nur noch zu schauen von wem die Mitteilung ist und wer sie überbrachte. Das sieht auf den ersten Blick ökonomisch aus, aber die Dinge funktionieren eben nicht so! Wenn‘s trotzdem gut ging damit war es in erster Linie Glück!

Das bedeutet, dass man wenn man Vorhersagen über wichtige ökonomische oder politische Dinge durch die Medien bekommt gar keine „Nachrichten“ im dem Sinne erhält (selbst wenn die Überschrift das behauptet) sondern immer eine Bestätigung dessen was man ohnehin schon auf dem Zettel hat von einer bestimmten Person die man irgendwie einschätzt.
Für einen Manager bedeutet das, sich etwas zurück zu nehmen wenn neue externe Vorhersagen eintreffen und kurz die ganze Bandbreite zu durchdenken bevor er gleich darauf reagiert. Das ist die durchaus bekannte Haltung: „Ich weis dass ich nichts weis – also lass uns mal schauen“. In unserer Maschinen Vorstellung heute tut das ein wenig weh und manche legen es gar als Entscheidungs-Schwäche aus, aber in den meisten Fällen macht es schon Sinn, mehr Entscheidungs-Möglichkeiten zu haben.
H. R. Maurana und H. von Foerster haben das soz. aus der Sicht der Biologie und der Steuerung begründet, (Fachbegriff: Selbstorganisation, der Kybernetik zwischen lebenden Systemen). und die Reihenfolge vom Kopf wieder auf die Füße gestellt. Das ist an sich nicht sensationell, aber es macht ein paar Sachen im Management schlanker und schneller. (Denken Sie z.B. an den ganzen St. Gallener Ansatz).

enigma August 30, 2010 um 01:21 Uhr

Der Verdienst von Maturana und Varela liegt m.E. auf einer anderen Ebene, nämlich auf einer Änderung der Grundvorstellung, wie soziale Systeme funktionieren.

Knapp gesagt: sie argumentieren, daß das Hauptanliegen von sozialen Systemen die Prozessierung eines systemspezifischen Sinnes ist, welches die Systemidentität definiert. Dazu prägen Systeme spezifische Kommunikationsformen aus, die es dazu befähigt, zu unterscheiden, was systemzugehörig ist und was nicht. Diese Sinndefinition ermöglicht es, zwischen systeminternen und systemexternen Interaktionen zu unterscheiden. Diese Aufrechterhaltung der Systemgrenze bedeutet, daß systemspezifischer Sinn einerseits Abgrenzung von der Umwelt bedeutet, andererseits auch definiert, wie das Überleben des Systems gewährleistet werden kann.

In der Konsequenz heißt das, daß erste Priorität von Systemen das Überleben qua Anpassung ist! Und hier ist die Differenz zur üblichen Ökonomie. Denn gegenwärtige Ökonomie ist eine Lehre von Optimierungen für die es von der „allgemeinen Gleichgewichtstheorie“ lediglich einen Existenzsatz über ein (im Pareto – Sinne) Preis – Gleichgewicht gibt. Wenn man Ökonomie für ein soziales System hält, ist es für Maturana/Varela durch eine Optimierungstheorie grundsätzlich falsch dargestellt.

Diese Sichtweise wurde mal von Luhmann vorgestellt, allerdings seinerseits von ihm falsch interpretiert. Egal. Wesentlich ist, daß das o.a. Konzept der Autopoiese viel mehr Inhalt hat, als jegliches Optimierungsmodell, denn dadurch kann man endlich mal einen Unterschied von der Werttheorie zur Geldtheorie ziehen, der sich, auf seinen Kern heruntergebrochen, darin zeigt, daß man sich insbesondere in den Wirtschaftswissenschaften man an den aus der Informatik bekannten Dualismus von Hardware und Software gewöhnen muß.

Manchmal sind Dinge so einfach, wenn man sie auseinanderhalten kann!

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