Kernschmelze der Information oder wann wird Deutschland evakuiert?

by Dirk Elsner on 17. März 2011

imageSelten seit dem 11. September wurde in Deutschland so viel und so aufgeregt (des-)informiert, wie in diesen Tagen der Erdbeben-, Tsunami- und Atomkatastrophe in Japan. Sondersendungen, Talkshows, Tageszeitungen, Websites usw. spucken im Sekundentakt Schlagzeilen und Deutungsversuche aus, die mit viel Halbwissen und Dramatik die Informationslücken füllen, die das offizielle Japan hinterlässt. Trotz dieser Informationsquantität fühle ich mich durch die professionellen Medien mittlerweile schlecht informiert.

Da versuchen “Experten” per Ferndiagnose aus Deutschland den Zustand des Reaktors in Fukushima zu beurteilen. Im TV suggerieren leere Regalausschnitte, dass Japan kurz vor einer Hungerkatastrophe steht. Das was die Bild als “Flucht aus der Todeszone!”, ist für Japaner eine Reise in den Süden. Mit dramatischer Musik untermalt sendet der frühere Nachrichtensender N24 Endlosschleifen über den Tsunamieinschlag. Einige Journalisten scheinen fast frustriert zu sein, dass sie keine in Panik versetzten Japaner finden.

Zeitweise springen mich so drastische Schlagzeilen an (Beispiele in den Kästen), dass ich mich frage, wann wir hier aus Deutschland eigentlich evakuiert werden. Überall in deutschen Landen drohen plötzlich Kernreaktoren, für die sich bis vor einer Woche kaum jemand interessiert hatte, zu explodieren. Da ist es sinnvoll, dass wir uns Deutsche eindecken mit Jodtabletten und Geigerzählern und zügig vor der Kernschmelze in Sicherheit gebracht werden.

Viel eher sieht es aber nach einer Informationsschmelze aus, denn wirkliche sachliche Einordnungen findet man in der Aufgeregtheit der deutschen Nachrichtenprofis kaum (siehe aber hier in der FAZ oder hier in der Zeit) , sondern muss sie auf Seiten suchen, die sich professionell mit Reaktorsicherheit befassen oder um eine fachliche ausgewogene Darstellung bemühen, wie der Physik Blog. Sogar die Wetterberichte versehen uns mit düsteren Szenarien und beginnen statt in Europa neuerdings in Asien. Der Informationsgehalt bleibt dabei mangelhaft. Lücken, die der mangelnden Information aus japanischer Behörden geschuldet sind, werden auch hier einfach mit dramatischen Spekulationen ausgefüllt. Und signalisiert eine Information Entspannung, dann werden sofort Konjunktive mit potentiellen und bedrohlichen Eskalationen hinterher geschoben. Sogar die Finanzmärkte in Deutschland reagieren mit Ausschlägen, die fast japanische Verhältnisse erreichen.

Gekrönt wird die Berichterstattung über die Verwunderung, dass Japaner so gelassen auf die Krise reagieren und nicht in Panik aus dem Ballungsraum Tokio fliehen. Eine im Morgenmagazin interviewte Journalistin vermutete bereits, die Einwohner Tokios seien einer Gehirnwäsche unterzogen worden.

Nicht auszudenken, was hier im Lande los wäre, wenn es in Deutschland tatsächlich in einem Ballungsraum zu einer vergleichbaren Krise kommt. Beginnt dann ein Hauen und Stechen um den ersten Platz in der Warteschlanger? Wird dann im Land der Autobahnvordrängler um die letzten Notrationen gekämpft, während diese in Japan geteilt werden?

Möglich, dass Japan tatsächlich vor einem GAU steht, in jedem Fall scheint Deutschland derzeit einer (Medien-)Panik näher als die Japaner.

Nachtrag

Nach Angaben des Handelsblatts kritisierten mehrere Ökonomen die gestrigen Äußerungen des EU-Kommissars Günther Oettinger zur Lage in Japan. Das Blatt schreibt u.a. auf der Webseite:

„Eine Einschätzung zu den Ereignissen in Japan von Oettinger hatte am Mittwoch Nachmittag an der Frankfurter Börse einen regelrechten Ausverkauf ausgelöst: Der deutsche Leitindex Dax stürzte binnen Minuten um mehr als 100 Punkte ab, nachdem Oettinger im EU-Parlament vor „weiteren katastrophalen Ereignissen in den nächsten Stunden“ gewarnt hatte. Eine Sprecherin sagte später, die Äußerungen Oettingers beruhten nicht auf besonderen Informationen, sondern auf Medienberichten. Er habe nicht von einer bevorstehenden Katastrophe gesprochen, sondern lediglich seine Ängste geäußert.“

Franz März 22, 2011 um 18:01 Uhr

Als Österreicher dachte ich schon allein auf der Welt zu sein, oder zumindest nur mit ein, zwei, weiteren Verrückten.
Es tut wirklich gut von euch zu hören.
Hier ist alles außer Rand und Band geraten. Das Beben und die Flutwelle wurden nur mehr am Rande erwähnt. Die Katastrophe hat es nur mehr im AKW gegeben.
Das unsere Grünen das ausgenützt haben versteh ich irgendwie. Wieso aber alle anderen Parteien (ÖVP, SPÖ, FPÖ, BZÖ) auch voll durchgedreht haben, wird mir wohl immer ein Rätsel bleiben.

nigecus März 19, 2011 um 20:54 Uhr

Schon gemerkt? Jetzt ist Gadafi wieder Titelthema. Japan? Das war gestern…

Unsere Medien sind extrem kurzfristig ausgelegt. Keine Ahnung warum.

War am Wochenende nach dem Erdbeben daheim. Vater ein absoluter Kernkraft-Verfechter (und Dipl. E-Techniker für Starkstrom) meinte nur platt es läuft auf Kernschmelze hinaus, wenn nix mit dem Notstrom passiert, aber bei der zerstörten Infrastruktur wird sauschwer da noch etwas zu drehen. Dann laberten wir kurz über Physik. Über die Ja/Nein-Politik-Frage reden wir schon lange nicht mehr, weil das nicht gut für die Familienharmonie ist. Nun ist es so gekommen wie geahnt und mit Prognose oder Wahrscheinlichkeit haben Eskalationsstufen nix zu tun. Vater würde sagen, das Problem haben die jp. Ingenieure noch in den Griff bekommen. Mag zwar beim Anblick auf das Kraftwerk übertrieben erscheinen – Aber nicht wenn einen bewusst ist wie welcher Störfall am Ende aussehen kann.

Insgesamt waren die Japaner gut auf das Erdbeben gut vorbereitet. Es hatten auch x-mal mehr Leute sterben können ohne Fruhwarnsystem.

dels März 21, 2011 um 07:04 Uhr

Tja, Japan ist schnell wieder weit weg. Die Aufmerksamkeitsökonomie ist halt unteilbar.

nico März 17, 2011 um 23:29 Uhr

Hallo Dirk,

Sehr guter Artikel, vor allem die Überschriften sind echt teilweise übel.

Beste Grüsse

Nico

dels März 18, 2011 um 06:35 Uhr

Danke Nico,
und auch jetzt, wo sich die Lage wieder entspannt, werden die Hoffnungsmeldungen mit viel Skepsis und Pessimismus begleitet. Meist wird darauf abgestellt, was im schlimmsten Fall passieren könnte, wenn bestimmte Maßnahmen schief gehen. Dabei wird nicht einmal ein Gefühlt für die jeweiligen Eintrittswahrscheinlichkeiten vermittelt. Eine Aussagen, es könnte schief gehen, suggeriert ja meist, es bestehe eine 50:50 Chance. Vielleicht sind die Chancenverteilung aber auch ganz anders.

Bea März 17, 2011 um 19:24 Uhr

In unserer Medien- und Politiklandschaft zeigt sich seit voriger Woche sehr deutlich, wie sehr wir – das Volk – doch als dumm und sicher auch katastrophengeil dargestellt werden (es gibt ja leider auch einige solcher Vertreter).
Tschernobyl wurde 2000 endgültig abgeschaltet und bis dahin wurde über die Jahre nach dem Gau nur nachlässig und zögerlich berichtet. Jetzt aber stehen Wahlen in Deutschland an und da macht es sich doch ganz gut für die Politik das Thema Atomkraft auszuschlachten und die Medien verdienen auch fleissig mit. . .
Erbärmlich ist, wie wenig Menschlichkeit in Berichterstattungen, Diskussionen und Zukunftsplänen auftaucht. Grosse Deals mit Industrien werden kleingeredet oder geleugnet, Gesetzesänderungen werden ins Spiel gebracht und aus jeder Ecke bläst ein Experte in das ihm angebotene Horn.
Wo sind die Vertreter der erneuerbaren Energien? Wann wird da mal genau hingehört und übernommen?
Politikverdrossenheit und Medienzweifel werden durch die jetzige Situation hier in Deutschland massiv gestärkt.

Peter Paul März 17, 2011 um 15:38 Uhr

Ich melde mich aus Tokyo und danke Ihnen. Auf diesem Narrenschiff sind nicht mehr die Politiker die Macher, sondern die Medien, die Politiker & Publikum wie Tanzbären am Ring in der Nase vorführen. Ich bin hier mitten drin in der „Atom-Hölle Japan“ (Bild) und verweigere mich diesen Machenschaften, indem ich ganz einfach nicht mehr in die deutschen Medien schaue. Ich habe keinerlei Informatiosdefizit dadurch. Ihren Link erhielt ich duch eine e-mail.

Die japanischen Medien (die vielen TV Sender sind mit einer Ausnahme privat und stehen in starkem Wettbewerb miteinander) behandeln das übergroße Thema sensibel, konstruktiv, sachlich, immer informativ, gesellschaftlich vereinend. Ein Lehrstück. Umsomehr schäme ich mich für das, was in Deutschland uns zugemutet wird (bis ich wie gesagt nicht mehr hinschaute).

Was die einzelnen Menschen und Familien im Katastrophengebiet auch in diesem Moment erleiden, ist so herzzerreisend. Aber mit welcher vorbildlichen Haltung ertragen sie es und tun, was in einer solchen Situation zu tun ist: Sie helfen sich gegenseitig, ohne Hysterie und Jammern. Was uns deutsche Medien teilweise vorführen, ist unseriös. Abschalten!

Martin März 17, 2011 um 09:37 Uhr

P.S. auch wenn dieser Post sich anscheinend mit den schlechten Artikeln befasst, bin ich trotzdem deiner Meinung

dels März 17, 2011 um 12:36 Uhr

Ich glaube, ich habe nicht einmal die dramatichsten Überschriften heraus gesucht. Ich denke, die BILD wird alle übertroffen haben. Die sachlichste Berichterstattung habe ich in Deutschland bisher sonst in der FAZ gefunden und, wie oben geschrieben, auf einigen Spezialwebseiten.

Martin März 17, 2011 um 09:29 Uhr

Hallo Dirk,

du sprichst mir aus der Seele, ich sehe das genauso. Deshalb habe ich auch das Interview auf Boersenpoint veröffentlicht, denn Frau Bräuer machte genau die Erfahrung. Während Sie in Japan mit anderen über das Erlebte spricht, merkt Sie in Deutschland wie viel Panik hier in Deutschland gemacht wird. Die Betroffenen in Japan haben mein vollstes Mitgefühl, aber was die Medien daraus machen, ist Panikmache.

PeterK März 17, 2011 um 08:24 Uhr

Sind das die rein kommerziellen Interessen der Medien, die wieder einmal sich ein Wettrennen um das düsterste Szenario liefern?

Leon Hartner März 17, 2011 um 07:57 Uhr

Dem post zum Verhalten der Medien kann ich nur zustimmen und auf den aktuellen (17.03. / 07:50hrs) Kommentar in Zettels Raum verweisen.

Anekdötchen aus der gestrigen N-TV-Berichterstattung: Ein Greenpeace-Mitarbeiter wird interviewt, N-TV fragt, was denn das Best-Case-Szenario sei – lange Pause, anschließend Mr. Greenpeace: „Ein Best-Case-Szenario ist kaum mehr möglich“ xO

Stefan März 17, 2011 um 02:32 Uhr

Den Eindruck teile ich. Die Panikmache generiert bei mancher Sendung richtiggehend Abscheu bei mir. Am meisten stört, dass der GAU erst gar nicht abgewartet wird, er wird einfach vorher ausgerufen. Jeder (vermeintliche) Experte wird gefragt, was im schlimmsten Fall passieren wird. Was denn im günstigsten Fall geschehen wird, interessiert anscheinend nicht einen einzigen Reporter.

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