Blick Log Retro: Erweckt das Echtzeitweb den Laplaceschen Dämon?

by Dirk Elsner on 15. Mai 2013

Es ist weiter Urlaubszeit im Blick Log. Heute daher wieder ein zeitloser Beitrag aus dem Archiv des Blogs: screaming demons in the crypt Das sogenannte "Echtzeitweb" verändert unsere Gegenwart. Aber verändert es auch unsere Zukunft in dem Sinne, dass wir sie besser vorhersehen können? Erwacht mit der umfassenden Verfügbarkeit von Informationen über das Internet der "Laplacesche Dämon", den der Mathematiker und Philosoph Pierre-Simon Laplace als Denkfigur geschaffen hat? Dieser "Dämon" soll bei Kenntnis sämtlicher Naturgesetze und Initialbedingungen jeden zukünftigen Zustand vorhersehen können. Laplace, der als Mitbegründer der Wahrscheinlichkeitsrechnung gilt, glaubte, dass eine wie auch immer geartete Intelligenz alle Orte, Bewegungen und allgemeinen Beziehungen für alle Zeitpunkte vorhersagen könne, wenn man den "richtigen Überblick" hat und schnell genug rechnen könne1.

Ohne Zweifel beeinflusst das "Echtzeitweb" unsere Gegenwart und hat damit auch Auswirkungen auf die nähere Zukunft. Die Frage im Mittelpunkt dieses Beitrags ist aber, ob wir durch die jederzeitige Verfügbarkeit von Informationen aus Vergangenheit und Gegenwart mehr über unsere Zukunft erfahren und sie besser vorhersagen zu können.

Information At Your Fingertips

 

Anfang der 90er Jahre des letzten Jahrthunderts erstaunte Microsoft Gründer Bill Gates mit einer Vision die Öffentlichkeit und prägte das Schlagwort von den "Information at Your Fingertips"2. Die Idee, so erklärte er damals, bestehe darin, dass alle Daten, die für Geschäfte, Schule oder andere Zwecke notwendig seien, sofort per PC zugänglich sein sollten. Damals stellte Microsoft gerade Windows 3.0 vor und das Internet spielte nur in Kreisen der Wissenschaft und des Militärs eine Rolle. Online-Informationsquellen in Deutschland waren auf Mailboxen und den Bildschirmtext der Deutschen Bundespost begrenzt. Informationen standen in der Tiefe nur über Bibliotheken zur Verfügung.

Die Vision von Bill Gates ist mittlerweile Realität geworden. Tatsächlich stehen uns an jedem Ort mit entsprechender technischer Infrastruktur gewaltige Informationsmengen zur Verfügung. Heute können wir per Smartphone und Tablet PCs von beliebigen Plätzen auf das vermeintliche "Wissen der Welt" zurückzugreifen. Allein die online gespeicherten Informationen sind dabei kaum noch sinnvoll zu verarbeiten. Bestand bis in die 90er Jahre des letzten Jahrhunderts die Herausforderung des Wissenserwerbs darin, die richtigen Informationen überhaupt zu beschaffen, besteht sie heute darin, aus dem nahezu kostenlos zur Verfügung stehenden Informationsgebirge die richtigen Informationen herauszufiltern.

Echtzeitweb als Informationsfilter

Seit einiger Zeit verspricht das Echtzeitnetz uns bei der Filterung der Informationsfülle zu helfen. Echtzeitnetz ist ein schillernder und mittlerweile inflationär verwendeter Begriff. Darunter werden Informationsdienste, Nachrichtenseiten, Weblogs und Social Media-Dienste verstanden, deren Mitglieder oder Mitarbeiter sehr schnell über für von ihnen als relevant gehaltene Ereignisse berichten oder diese kommentieren. Der Begriff suggeriert, dass Informationen über Sachverhalte quasi mit ihrer Entstehung für Jedermann verfügbar sind. Dies gilt aber nur für Fälle, in denen über ein bestimmtes Ereignis ein Livestream via Internet bereit gestellt wird. In den meisten Fällen werden die Informationen freilich erst nach einem Ereignis von einer Person technisch erfasst und über ein Onlinemedium veröffentlicht.

Insbesondere der US-Kurznachrichtendienst Twitter wird häufig als Synonym für das Echtzeitweb angesehen. Tatsächlich kann jeder über diesen Dienst Mitteilungen mit maximal 140 Zeichen pro Nachricht weltweit verbreiten. Unmittelbar nach dem Absenden eines Tweets, so heißen die Kurzmeldungen bei Twitter, können diese weltweit gelesen und mittlerweile auch per Suchmaschine gefunden werden. So können vom Entstehungsort eines für relevant gehaltenen Ereignisses Kurzinformationen und Meinungen übermittelt werden3.

Die technischen Beschränkungen von Twitter schließen aus, das qualitativ umfassendere Inhalte, wie auch immer diese definiert werden, mit diesem Dienst selbst versendet werden. Allerdings erlaubt es der Dienst auf URLs zu verweisen, die Informationen zu einem Thema enthalten. Über diesen Weg schafft der Dienst eine Verbindung zu qualitativ hochwertigen über das Netz verfügbaren Informationen, die in Datenbanken und auf Webseiten liegen.
Bevor das Netz zum Heiligtum für die Verfügbarkeit von Informationen erhoben wird, sollten nicht vergessen werden, dass immer noch sehr viel Wissen in Büchern verankert ist, auf die online nicht zugegriffen werden kann. Dazu gehören viele herausragende Werke, die sich möglicherweise auf Dauer der Digitalisierung entziehen. In der Echtzeitwelt, die sich zu sehr auf elektronische Informationen verlässt, neigen wir dazu, dieses Wissen zu vernachlässigen. Stattdessen wird den Informationen mehr Bedeutung beigemessen, die über soziale Netzwerke wie Twitter oder Facebook empfohlen wird. Die Relevanz von Informationen wird also nicht mehr dadurch gewährleistet, welchen Erklärungsbeitrag sie leisten kann, sondern nur von wieviel Personen sie empfohlen wird.

Nutzung des Echtzeitweb für heuristische Erklärungen

 

Kann nun das verfügbare Wissen genutzt werden, um mehr über die Zukunft zu erfahren? Wird unsere Zukunft besser vorhersehbar durch die Technik des Web 2.0? 4. Eine Vorhersage setzt, in welcher Form auch immer, ein Modell voraus. Dieses kann z.B. ein explizit ausformuliertes Modell sein, das mit Daten aus Vergangenheit und Gegenwart gefüttert wird und nach einem bestimmten Verarbeitungsalgorithmus Zukunftsdaten auswirft. Gemeinhin akzeptierte Modelle kennen wir aus den Naturwissenschaften. So lässt sich etwa sehr präzise vorhersagen, zu welcher Uhrzeit am 1.4.2012 in Bielefeld die Sonne aufgehen wird5.

Neben solchen wissenschaftlichen Modellen verwenden wir im Alltag vor allem heuristische Ansätze, bei denen aus Erfahrungen und Beobachtungen der Vergangenheit, Schlussfolgerungen für die Zukunft abgeleitet werden. Diese Erklärungsheuristiken6 setzen wir bewusst oder unbewusst ein, wenn wir nach Erklärungen für bestimmte Ereignisse oder für bestimmtes Verhalten suchen. Psychologen sprechen hier auch von Kausalattribution. Sie beschreibt einen Vorgang der Ursachenzuschreibung des eigenen oder fremden Verhaltens. Beobachtete Ereignisse werden dabei auf "naiv psychologische und wissenschaftliche" Art und Weise erkundet und auf eine mögliche Ursache zurückgeführt7.

Wir begegnen heuristischen Erklärungsansätzen und Kausalattribution täglich im Umgang mit Menschen und der Medienlektüre. Besonders augenfällig sind die Erklärungen, die nach bestimmten Ereignissen schnell einen Ursache-Wirkungszusammenhang anbieten. Ich nenne das Post-hoc-Erklärungen. So versuchen insbesondere Journalisten mit Unterstützung von "Experten" die Zusammenhänge besonderer Ereignisse zu erklären. In Wirtschaftsnachrichten sind sie täglich zu finden, etwa wenn besondere Kursbewegungen an Aktienbörsen erklärt werden oder der Erfolg oder Mißerfolg von Unternehmen analysiert wird.

Das Schema solcher Post-hoc-Erklärung erinnert an wissenschaftliche Modelle, wenn ein Ereignis X erklärt wird. Weil A, B und C eingetreten sind, ist X passiert. Beobachten wir nun mehrere Ereignisse X1, X2 und X3, bei denen jeweils A, B und C die Voraussetzungen liefern, dann wird ein kausaler Zusammenhang vermutet und mit der Hypothese gearbeitet: Immer wenn A, B, und C zu beobachten ist, dann wird X passieren.

Nun könnte man auf die Idee kommen, dass mit Hilfe des Echtzeitwebs solche Modelle noch schneller gefunden und mit Daten gefüttert werden können und so die Zukunft besser vorhersehbar gemacht werden könnte. Tatsächlich ist dies sehr problematisch.

In dem hier genannten Beispiel scheitert die Vorhersehbarkeit schon durch die Einschränkungen der Untersuchungsstichprobe. Es werden nämlich nur die Fälle X1, X2 und X3 untersucht. Wissenschaftlicher wäre es aber zu untersuchen, welche Ergebnisse jeweils herauskommen, wenn A, B und C eintreten  und eine Hypothese über den Kausalzusammenhang formuliert wird. Man wird dann feststellen, dass die Ergebnisse gar nicht so eindeutig sind und neben X auch Y oder Z als Ergebnisausprägung auftauchen können.

Viele im Alltag verwendete Modelle ziehen häufig aus solchen unvollständigen Korrelationen einen kausalen Schluss. Viele abschreckende Beispiele dafür liefert die Managementliteratur. Hier verspricht eine Flut von Fachartikeln und Büchern wie man ein Unternehmen durch die "richtige" Neu- oder Umorganisation erfolgreich macht. Viele dieser Konzepte geben sich sogar einen wissenschaftlichen Anstrich und "beweisen" ihr Modell anhand "wissenschaftlicher Forschung". Phil Rosenzweig, Professor an der Lausanner Business-School IMD, hat in seinem Buch “Der Halo-Effekt” diese Managementkonzepte untersucht und kommt zu dem Schluss, dass kaum eines dieser Modelle die Versprechungen erfüllt8.

Chaos und Narren des Zufalls

 

Nehmen wir jetzt einmal an, es würde methodisch sauber gearbeitet, dann bliebe immer noch die Frage, ob die verwendeten Modelle stimmen. Tatsächlich werfen aber gerade viele wissenschaftliche Modelle, die wirtschaftliches Verhalten erklären und vorhersagen wollen, sehr große Probleme auf. Dies hat insbesondere die Finanzkrise gezeigt, die wirtschaftswissenschaftliche Erklärungsansätze und Vorhersagemodelle selbst in die Krise gestürzt hat.

Zwei bei vielen Ökonomen noch um Akzeptanz kämpfende Wissenschaftler haben sehr eindrucksvoll die Schwächen vieler Modelle aufgezeigt und der Vorhersehbarkeit Grenzen gesetzt. Benoit Mandelbrot mit "Fraktale und Finanzen" und Nassim Nicholas Taleb mit  "Narren des Zufalls" haben  die Rolle der Unberechenbarkeit in der Wirtschaft und insbesondere an den Finanzmärkten untersucht.  Ohne diese Ansätze  hier vertiefen zu können, was sie freilich verdient hätten, verdeutlichen die beiden Autoren, dass Chaos und Zufall eine viel größerer Rolle spielen, als wir dies zugeben mögen9. Im Alltag und in der Wirtschaftspraxis haben wir Probleme mit ihren Ansätzen. Wir mögen es nicht, dass sich viele Zusammenhänge gar nicht eindeutig erklären lassen und in einem hohen Maße von Zufällen bzw. von Faktoren abhängen, deren Wirkungen wir nur sehr begrenzt vorhersehen können10.

Kommen wir damit zu der Ausgangsfrage zum Thema Vorhersehbarkeit der Zukunft zurück. Helfen uns nun die auf Knopfdruck verfügbaren Informationen über Vergangenheit und Gegenwart die Zukunft besser vorherzusagen? Meine Antwort ist nein. Das Echtzeitweb und die jederzeitige Verfügbarkeit von Informationen lassen uns, wenn überhaupt, nur glauben, wir wüssten mehr über die Zukunft. Tatsächlich gibt es  aber bisher keine nachvollziehbare Argumentation, die vermuten lässt, dass der verbesserte Informationszugriff die Vorhersagequalität erhöht.

Daneben führt allein die Fülle verfügbarer Daten zu einer an persönlichen Interessen ausgerichteten Selektion von Informationen. Selbst wenn es ein Modell gäbe, führt die Fragmentierung des Wissens dazu, dass kein Mensch aus dem verfügbaren Material genau die Informationen herausfiltern kann, die er für eine korrekte Vorhersage benötigen würde. Daher sind die meisten Vorhersagen, die wir täglich hören oder lesen, selbst wenn sie überzeugt und eloquent vorgetragen werden, spekulativ und meist interessengeleitet. Nirgends wird das derzeit einer breiten Öffentlichkeit besser vorgeführt, als in der praktischen Ökonomie, die ich mit meinem Blog beobachte. Freilich ist die Informationsbasis vieler Handlungsempfehlungen aus praktischen Gründen häufig gar nicht zu verbessern, es sei denn, man ließe sich vor Handlungsempfehlungen für die Analyse deutlich mehr Zeit.

Um hier abschließend nicht missverstanden zu werden. Die hier vertretene Ansicht, zielt nicht darauf ab, dass alle Entwicklungen auf Zufall basieren und heuristische Modelle verworfen gehören. Tatsächlich liefern viele auf Erfahrungen beruhende Modelle für viele praktische Entscheidungen und Alltagssituationen gute Näherungen. Und selbst die Chaostheorie schließt in nichtlinearen Systemen "Inseln der Ordnung" mit erleichterter Vorhersehbarkeit nicht aus. Wir sollten uns allerdings häufiger die Zerbrechlichkeit vieler Vorhersagemodelle und Erklärungsheuristiken bewusst machen. Dies gilt umso mehr, da die Aktivitäten in der Wirtschaftspraxis von Menschen beeinflusst werden, deren Verhalten noch schwerer vorherzusagen ist als das Wetter. Das Echtzeitweb und die Information at our fingertip können daran nichts ändern. Der Laplacesche Dämon wird weiter schlafen. Das Informationsrauschen und die hohe Fragmentierung von Wissen werden diesen Schlaf sogar noch fördern.

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Anmerkungen

1 Vgl. Stefan Greschik, Das Chaos und seine Ordnung, 4. Aufl. München 2005, S. 12 f.
2 New York Times v. 12.11.1990: Microsoft’s Bold New Game Plan
3 Siehe auch Pressetext.de v. 11.3.2010 "Twitter mutiert zu Newsfeed statt Social Network".
Allerdings wird über Twitter auch viel überflüssiger "Informationsschmutz" verbreitet, so dass es nicht einfach ist, relevante Informationen herauszufiltern und deren Glaubwürdigkeit zu bewerten.
4 Die Nutzung des Echtzeitwebs für Vorhersagezwecke ist übrigens keine Vision mehr, sondern bereits seit einiger Zeit Realität. So gibt es erste Versuche, das Echtzeitweb für Vorhersagen zu nutzen. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) setzt z.B. für verbesserte Prognosen der Arbeitslosenzahlen zusätzlich Daten aus dem Fundus von Google ein. Siehe Wissenschaftliche Prognosequalität mit Google verbessern
5 Während an dem Eintreten dieser Vorhersage kaum Zweifel geäußert werden dürfte, gibt es andere Modelle, deren Vorhersage kaum jemand glauben wird, wie etwa einem Wettermodell, dass die Niederschlagsmenge für Bielfeld am 1.4.2012 vorhersagen will. Wissenschaftler sprechen im ersten Fall von einem deterministischen oder linearen Modell. Im zweiten Fall sprechen Fachleute von einem nicht-deterministischen Modell. Wir werden gleich noch sehen, warum die Unterscheidung wichtig ist.
6 Als Heuristik bezeichnet man die Kunst, mit begrenztem Wissen und wenig Zeit zu guten Lösungen zu kommen.
7 Siehe dazu Beiträge in der Wikipedia zur Kausalattribuierung und Attributionstheorien, sowie Fischer u. Wiswede, Grundlagen der Sozialpsychologie, München 1997, S. 268 ff.
8 Diesen Fehler haben etwa die Autoren des Management-Klassiker „Auf der Suche nach Spitzenleistungen" gemacht. Die McKinsey-Berater haben nur "erfolgreiche" Unternehmen ausgewählt und ihre Eigenschaften und Verhaltensweisen untersucht und daraus Handlungsempfehlungen abgeleitet. Rosenzweig hat festgestellt, dass die 43 betrachteten Unternehmen bereits kurz nach der Veröffentlichung des Bestsellers gar nicht mehr so erfolgreich waren, wie dies Peters und Watermann behaupteten. Das Urteil von Rosenzweig fällt vernichtend aus: Die Empfehlungen erfolgreicher Management-Bücher taugten weder als Entscheidungshilfe für Führungskräfte noch als Input für wissenschaftliche Forschungen. Die Autoren der Ratgeber stellten letztlich unbewiesene Behauptungen auf. Vgl. auch Anja Müller, Management-Ratgeber: Nichts als Seifenblasenin: Handelsblatt Onlinve v. 21.9.09). Peters hat übrigens mittlerweile selbst zugegeben, dass die Unternehmen damals so ausgewählt wurden, dass das bereits vor der Untersuchung feststehende Ergebnis auf die Unternehmen passte (siehe dazu Tom Peters’s True Confessions auf Fastcompany.com).
9 Tatsächlich werden Mandelbrot, Taleb und wohl auch Rosenzweig angefeindet von ihren wissenschaftlichen Kollegen und natürlich vielen Praktikern. Denn das, was sie vertreten, stört handfeste wissenschatliche und vor allem auch ökonomische Interessen.
10 Auch die Hirnforschung hat übrigens herausgefunden, dass wir Menschen Erklärungen mögen, die plausibel erscheinen und auf nachvollziehbaren Erfahrungen beruhen.

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Dieser Beitrag ist eine um Anmerkungen und Hyperlinks erweiterte Fassung des Artikel für Ausgabe 4 (Mai/Juni) des Magazins agora42. Ein Blick in das Magazin ist hier über Issuu möglich. Dieser Beitrag ist urheberrechtlich geschützt.

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