Generation Y fragt: Ist der Kapitalismus eine Religion?

by Gastbeitrag on 2. September 2014

Gastbeitrag von Tim Ernsting*

Der Kapitalismus ist in unserer modernen Gesellschaft allgegenwertig. Sei es in der Familie, auf der Arbeit oder unter Freunden, überall kommt früher oder später die Frage nach dem Geld auf. Durch diese Allgegenwärtigkeit und für alle verständliche Gewissheit, kommt, in den meisten Fällen, die Frage nach der Realität von Geld viel zu kurz. Genau wie Gott und die Religionen entstammt das Gedankenkonstrukt „Geld“ dem Wunsch des Menschen nach Sicherheit. Der Wert des Geldes, ob nun digital oder haptisch, besteht rein in dem Glauben, dass jemand anderes dies als ebenso wertvoll ansieht wie man selbst. Aufgrund dieser recht offensichtlichen Hinweise kam ich zu dem Schluss, dass das Geld und sein Verfechter der Kapitalismus als Religion gelten müssten. Also versuche ich nun die Religionsdefinition durch den Funktionalistischen Religionsbegriff darzulegen.

Der funktionalistische Religionsbegriff besagt, dass eine Religion für das Individuum und die Gesellschaft eine prägende Rolle spielt und diese mitgestaltet. Dies ist für das Konzept des Kapitalismus und der Finanzmärkte eindeutig gegeben. In unserer Gesellschaft dreht sich vieles, wenn nicht sogar alles, ums Geld. Kein Tag vergeht, an dem man nicht bangend auf den Kontostand oder in sein Portemonnaie starrt und hofft, dass doch noch irgendwo etwas versteckt ist. Jeder versucht möglichst viel zu verdienen da eine gefüllte Brieftasche ein besseres Leben verspricht. Die Religionswissenschaftlerin Emile Durkheim definiert Religion als solidarisches System von Überzeugungen und Praktiken, die sich auf heilige Überzeugungen und Praktiken beziehen, die in einer moralischen Gemeinschaft, die Kirche genannt wird, alle Personen vereint, die ihr angehören. Auch dies trifft auf die Finanzmärkte zu, da diese, ebenso wie etablierte Religionen, ihre festen Praktiken und Regeln haben, die vom Klerus, den Banken, vorgegeben und von der Gemeinschaft des Wirtschaftssystems zu einer Einheit zusammen geschweißt werden.

Durch die direkt an die Kinder weitergegebenen Lehren der Finanzwelt und das „Hineingeborenwerden“ aller Menschen im System, zählt der Kapitalismus nach Max Webers zur Kategorie der Kirche und nicht der Sekte, da bei der Religion ein willentlich vollzogener Ausstieg nötig ist. Im Gegensatz zur Sekte, bei der ein willentlich vollzogener Einstieg nötig ist. Durch diese feste Organisation der Religion und ihre stetig wachsende Mitgliederzahl, entstehen schnell religiöse Führer, wie Priester und Propheten. Und auch hier hat der Kapitalismus sein Pendant. Durch die Börse und ihre ständigen unvorhergesehenen Schwankungen, sehen viele ihre Chance an schnelles Geld zu kommen und wenden sich an Menschen, die angeblich wissen, was der „Allmächtige Markt“ als nächstes vor hat und profilieren sich so selbst als Finanzpropheten.

Auch auf nicht genau definierten Gebieten gibt es starke Parallelen zwischen Religion und Wirtschaft. Denn ebenso wie die Kirche, bis zur Renaissance und in vielen Ländern bis heute, die viele Entscheidungen der Politik beeinflusst und diktiert hat, oder sogar den Anführer ins Amt hob, so ist das Geld und die Lobbyisten der Wirtschaftsunternehmen heute Dreh- und Angelpunkt von Entscheidungen. Die USA sind in dieser Hinsicht ein gutes Beispiel. Die Finanzkraft eines Kandidaten oder seiner Unterstützer ist hier von entscheidender Bedeutung für das Wahlergebnis. Doch auch in Deutschland ist der Druck der „Oberen Liga des Kapitalismus“ auf die Politik deutlich spürbar. Ob es sich nun um die Abschaffung der Atomkraft, die Genehmigung von Fracking, oder um die Subventionierung einer bestimmten Verfahrensweise geht. Überall ist es wichtig für die Politik, was die Wirtschaft sich wünscht.

Natürlich gibt es auch deutliche Unterschiede zu den etablierten Religionen. Allen voran, dass sich der Kapitalismus selbst nicht als Religion, sondern als Wirtschaftssystem sieht. Trotzdem kann man die Parallelen zwischen den beiden Richtungen nicht verleugnen; vor allem vor den immer weiter steigenden „Wirtschaftskriegen“, die stark an die, als rückständig und „kindisch“ angesehene, Religionskriege erinnern.


* Tim Ernsting ist 24 Jahre und studiert an der  WAM Medienakademie Dortmund. Mit seinem Abschlussfilm “Im Auge des Betrachters” befasst er sich mit den Wirkungen des Konsumdrucks unserer Gesellschaft.

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