Das immer beliebter werdende Gift des Nationalismus

by Karl-Heinz Thielmann on 12. September 2014

Christopher Clark hat vor einem Jahr ein sehr bemerkenswertes Buch veröffentlicht, „Die Schlafwandler: Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog“. In ihm beschreibt er, wie im Europa des beginnenden 20. Jahrhunderts ein Selbstzerstörungsmechanismus einsetzte, bei dem sich nationalistische Strömungen gegenseitig selbst verstärkten, bis alles dann in einer Katastrophe endete.

Ich weiß, dieses Buch ist nicht unumstritten, viele Historiker haben das eine oder andere zu bemäkeln. Doch dies ist für mich nicht das Entscheidende. Wirklich verstörend finde ich die Parallelen, die dieses Buch zur heutigen Zeit aufzeigt, speziell, wenn man die aktuellen Entwicklungen im Ukrainekonflikt betrachtet. Es ist im Grunde unbegreiflich, dass sich exakt 100 Jahre nach Ausbruch des massenmörderischen Ersten Weltkrieges wieder genau die gleichen Mechanismen abspielen. Paranoide Ängste vor fremden Mächten, nationalistische Propagandalügen im Machtpoker und manipulierte Medien bestimmen die Informationslage.

Politiker misstrauen und missverstehen sich, was dazu führt, dass sie eine Lösung in der Flucht nach vorne (und damit weiterer Eskalation) suchen, wenn sie sich durch die Entwicklungen in die Ecke gedrängt sehen. All dies sind Faktoren, die sich immer weiter hochschaukeln können und die einem bei der Lektüre von Clarks Buch seltsam vertraut vorkommen.

Nationalistische Ideologien spielen derzeit bei allen Konfliktparteien in der Ukraine eine herausragende Rolle. Damit ist diese Auseinandersetzung symptomatisch für die immer weiter ansteigende Popularität nationalistischer Ideen in der ganzen Welt. Diese finden zwar durchaus unterschiedliche Ausdrucksformen, letztlich ist eine Konsequenz aber überall die gleiche: wirtschaftlicher Niedergang.

Unabhängig davon, ob sich für den Ukrainekonflikt doch noch eine halbwegs vernünftige Lösung finden lässt oder nicht, ein Kollateralschaden ist schon festzuhalten: Die Wirtschaftsbeziehungen zwischen Russland und dem Rest der Welt sind nachhaltig gestört. Als Konsequenz aus Sanktionen und Gegensanktionen wird die wirtschaftliche Isolation Russlands wieder stark zunehmen. Dies ist gerade im Moment gefährlich, weil sich die Wirtschaftsstruktur der osteuropäischen Großmacht in den vergangenen Jahren dramatisch verändert hat.

Russland ist einer der größten Rohstoffexporteure der Welt, mit den erwirtschafteten Devisen wurden Käufe in ausländischen Konsum- und Technologiegütern finanziert. Die schon zu Sowjetzeiten nicht wirklich wettbewerbsfähige Industrie und die Agrarproduktion wurden zu einem großen Teil verdrängt, und keine neue Infrastruktur aufgebaut. Damit folgte Russland einem alten Muster, der „Dutch Disease„: Ein Rohstoffland, das einen unkontrollierten Exportboom bei seinen natürlichen Ressourcen zulässt, hat mit schwerwiegenden negativen Nebenwirkungen für die Nicht-Rohstoff-Wirtschaft zu rechnen. Wenn irgendwann die Rohstoffdevisen ausbleiben, ist eine schwere Strukturanpassungskrise unvermeidlich.

Derzeit kann Russland ohne ausländische Technologie seine Rohstoffausbeutung (und viele andere industrielle Projekte) nicht weiter vorantreiben; ohne ausländische Nahrungsmittel ist die Bevölkerung nicht ausreichend zu ernähren. Abkoppelung vom Rest der Welt ist jetzt genau das falsche Rezept.

Szenenwechsel: China vor ca. 600 Jahren

Um 1400 war China ökonomisch und kulturell jedem anderen Land in der Welt weit überlegen. Während in Europa große Teile der Bevölkerung am Existenzminimum dahin vegetierten, herrschte im asiatischen Großreich der Ming-Dynastie vergleichsweise Wohlstand. Fortschrittliche Agrarbautechniken ermöglichen es, die Bevölkerung gut zu versorgen. Darüber hinaus hatte man Technologien wie die mechanische Zeitmessung, Porzellanherstellung oder den Buchdruck entwickelt, die in Europa erst lange Zeit später nachvollzogen werden konnten. Die chinesische Flotte unter dem legendären Admiral Zheng He dominierte das Meer bis hin nach Afrika. Sie hatte Schiffe, die bis zu 120 Meter lang und 50 Meter breit waren, in Europa zu dieser Zeit unvorstellbar.

Im Jahr 1435 starb jedoch der Kaiser Xuande, seine Nachfolger reduzierten die Kontakte mit dem Ausland, die eigene Flotte wurde irgendwann vernichtet. 1551 wurde Seehandel verboten. Welche Gründe im Einzelnen dafür verantwortlich waren, lässt sich heute nicht mehr genau rekonstruieren. Klar ist aber, dass die Abschottung Chinas viel mit dem Gefühl kultureller Überlegenheit gepaart mit der Angst vor dem Fremden zu tun hatte. Hierfür verantwortlich war im heutigen Sinne also Nationalismus. Die Folgen sind bekannt: Das einstmals mächtige China verpasste Innovationen und versank in Stagnation, während die europäischen Länder und später auch die USA einen deutlichen und lang anhaltenden Aufschwung erlebten. Die industrielle Revolution versetzte Europa und Nordamerika in eine überlegene Position, während China den Anschluss verpasste.

Nächster Szenenwechsel: Europa 2014

Die Europawahl im Mai 2014 hat einen gewaltigen Aufschwung bei rechtspopulistischen Parteien gebracht, welche die wirtschaftliche Integration zurückdrehen wollen und wieder mehr Vorrechte für Inländer fordern. In Ungarn verfolgt die Regierung seit einiger Zeit schon einen rechtspopulistischen Kurs und erfreut sich damit bei der Bevölkerung großer Beliebtheit. In Schottland hat die linkspopulistische Scottish National Party ein Referendum am 18. September erzwungen, mit dem über den Verbleib in Großbritannien abgestimmt wird.

Sieht man sich die Forderungen dieser Gruppen an, so stellt man fest, dass sie vor allem gegen etwas sind, i. d. R. aber große Probleme haben, konkret zu sagen, wofür sie sind. Dies macht sich kurioserweise besonders gut an der Währungsfrage fest:

  • Die schottischen Nationalisten versprechen in der Währungspolitik die Quadratur des Kreises: Sie wollen zwar formell unabhängig von Großbritannien sein, aber mit dem Pfund die alte Währung behalten. Denn es wäre offensichtlich tödlich für die Finanz- und Handelsbeziehungen vieler schottischer Unternehmen, wenn sie in einer neuen Währung abrechnen müssten. Andererseits wäre es schon skurril, von Unabhängigkeit zu sprechen, wenn man sich ausgerechnet in der Geldversorgung völlig und ohne irgendeine Einflussmöglichkeit von einem Nachbarland abhängig macht, mit dem man sonst nichts mehr zu tun haben will.
  • In Kontinentaleuropa hingegen soll der Euro weg, es ist aber unklar, wie die Alternative aussehen soll: Rückkehr zu D-Mark, Schilling, Franc oder Peseta? Das wäre reichlich kostspielig. Oder Aufspaltung in Nord- und Südeuro? Doch wozu sollen dann Ex-Krisenland Irland oder das reiche, aber stagnierende Frankreich gehören? Norden oder Süden?

Noch ein Szenenwechsel: Weltwirtschaftskrise 1929

Als Reaktion auf die beginnende Krise verfolgten fast alle wichtigen Wirtschaftsnationen in den 30er Jahren des vergangenen Jahrhunderts eine sogenannte „Beggar-thy-neighbor“-Politik (dt. „den Nachbarn auszuplündern“ bzw. „den Nachbarn anzubetteln). Sie setzen auf wirtschaftspolitische Maßnahmen, die eine Steigerung der Exporte bei gleichzeitiger Behinderung von Importen im Inland das Einkommen und die Beschäftigung erhöhen sollten. Hierzu gehörten:

  • Aggressive Abwertung der heimischen Währung.
  • Einfuhrbeschränkungen für ausländische Waren.
  • Maßnahmen zur Exportförderung.
  • Beeinflussung ausländischer Direktinvestitionen.

Da alle Länder kurzfristige eigene Vorteile zulasten einer langfristigen Zusammenarbeit suchten, war das Resultat desaströs: ein Währungskrieg, der die Weltwirtschaftskrise entscheidend in die Länge zog sowie Massenarbeitslosigkeit und Elend für die meisten Menschen mit sich brachte. Damit wurde auch der Nährboden für den großen Erfolg der faschistischen Bewegungen in vielen Ländern Europas bereitet, welcher letztlich im Zweiten Weltkrieg mündete.

Letzter Szenenwechsel: Argentinien 2012

Im April 2012 kamen sich die spanischen Führungskräfte des argentinischen Ölkonzerns YPF vor wie im falschen Film. Nicht nur, dass ihre Firma quasi über Nacht verstaatlicht worden war, ohne dass die Regierung eine Entschädigung hierfür vorgesehen hatte. Damit verlor der Eigentümer Repsol auf einen Schlag 45% seiner ausgewiesenen Reserven. Bewaffnete Polizei vertrieb die Manager medienwirksam aus ihren Büros, die damit unfreiwillig Teil des Showprogramms „Böse ausländische Kapitalisten werden aus dem Land gejagt“ wurden.

YPF war lange Jahre das Musterbeispiel für einen maroden und ineffizienten Staatskonzern, der trotz Teilprivatisierung 1993 mit seinen internationalen Konkurrenten nicht einmal ansatzweise mithalten konnte. Erst als der spanische Ölmulti Repsol 1999 die Kontrolle über die Gesellschaft übernahm, ging es operativ deutlich voran. Bis 2011 wurde das Engagement von Repsol in Argentinien als großer Erfolg gefeiert. Doch dann passierte Folgendes:

  • Das Rohstoffland Argentinien rutschte 2011 bei der Energiebilanz in eine Defizitposition, musste also trotz chronisch klammer Finanzlage auf einmal auch noch Devisen für Ölimporte aufwenden. Die argentinische Regierung wollte das Problem lösen, indem sie politischen Druck auf Repsol-YPF ausübte, die Ölförderung einfach zu erhöhen. Der Konzern verweigerte dies jedoch mit Blick auf die mangelnde Rentabilität zusätzlicher Produktion, die nicht zuletzt mit staatlichen Eingriffen wie Preiskontrollen etc. zusammenhing.
  • Im November 2011 entdeckte YPF in „Vaca Muerta“ ein riesiges Schieferölfeld, in dem Reserven vermutet werden, die mehr als 20 Mrd. Barrel Öl entsprechen, die zweithöchsten der Welt. Dies weckte Begehrlichkeiten: bei Provinzpolitikern, bei anderen Ölunternehmen, bei der Zentralregierung. Alle wollten von dem großen Kuchen etwas abhaben. Repsol war aber nicht bereit, angesichts der mangelnden Rentabilität in Argentinien dort zu viel Kapital zu binden; und hat vermutlich auch nicht (genug) Schmiergelder gezahlt.

Inzwischen hat sich diese Verstaatlichung als Riesendebakel für Argentinien herausgestellt. Repsol wehrte sich vor internationalen Gerichten und konnte am Ende eine Entschädigung von 5 Mrd. US$ heraushandeln. Die Rechtsstreitigkeiten blockierten effektiv für 2 Jahre dringend benötigte ausländische Investments in die argentinische Ölindustrie. Das Energiedefizit hat sich von 3,4 Mrd. US$ (2011) auf 6,2 Mrd. US$ (2013) fast verdoppelt.

Ironischerweise wird „Vaca Muerta“ jetzt wohl vorwiegend durch die in Lateinamerika ansonsten nicht besonders beliebten „Gringos“ von Chevron entwickelt. George Soros hat sich kürzlich eine Beteiligung an YPF gekauft, deren Aktienkurs zwischenzeitlich kollabiert war. Dies ist schon ein sehr merkwürdiges Nebenergebnis einer Politik, deren Nationalismus sich auch gerne einer lauten anti-US-amerikanischen und Hedgefonds verdammenden Rhetorik bedient.

Auf der Verliererstraße

Nationalismus ist verführerisch, da er in einer komplexen Welt eine einfache Richtschnur bietet: Wir machen die Dinge besser als andere. Wenn etwas schief geht, sind schlecht gesinnte Fremde daran schuld. Damit spricht er gerade diejenigen besonders an, die eben die Dinge nicht besser machen als andere, sich dies aber nicht eingestehen wollen.

Auffällig bei einer solchen Einstellung ist, dass sie nicht auf einem Stolz auf die eigene Kultur basiert, die durch ein gesundes Selbstbewusstsein gewachsen ist. Wer ein unverkrampftes Verhältnis zu sich selbst hat, benötigt keine Ausländer als Sündenböcke. Stattdessen beruht Nationalismus entweder auf Selbstüberschätzung oder paranoider Angst vor dem Fremden. Deswegen ist er auch in mehrfacher Hinsicht zerstörerisch: Nicht nur weil er Konflikte anheizt; sondern auch, weil er in die Isolation führt.

Fatal am Nationalismus ist dabei vor allem, dass er immer mit Aktionen des vermeintlichen Stärkebeweisens verbunden ist, die effektiv aber zur eigenen Schwächung führen. Und speziell die Isolation ist ein heimtückisches, weil langsam wirkendes Gift. Sie erscheint attraktiv, weil man sich scheinbar von allen Problemen der Welt abkoppeln kann. In der heimeligen Umgebung des Zuhauses igelt man sich ein, was draußen passiert, interessiert nicht mehr. Aber wer sich isoliert, verliert den Anschluss an die Welt und degeneriert.

Mit Nationalismus begibt man sich wirtschaftlich auf die Verliererstraße, einmal ganz abgesehen von sonstigen Auswirkungen. Dass viele Menschen dies trotz aller Lektionen der Geschichte immer noch nicht begriffen haben, ist schon für sich genommen erschreckend. Dass sich aber der Nationalismus sogar noch weltweit auf dem Vormarsch befindet, finde ich äußerst beunruhigend.

David September 12, 2014 um 05:28 Uhr

Das ist ein sehr einseitiger, gleichwohl auch sehr interessanter Kommentar. Vielleicht nur eine Anmerkung: Ihr Spielen mit dem durch die politische Korrektheit vorbelasteten Wort „Nationalismus“ ist natürlich Absicht. Richtiger wäre etwa zu fragen, ob

– nicht gerade in der Vielfalt regionaler Besonderheiten eine Stärke liegt,
– der EU-Superstaat nicht alle zu einer Gleichmacherei führt, die dann alle in den Abgrund zieht,
– das zur Zeit zu beobachtende Sich-Aufgeben von Staaten durch übermäßige Einwanderung wirklich zu Vorteilen führt und ob nicht
– Ideologien (links, grün, Genderismus, Globalisierung, Ökoreligion, allgemeiner Werteverlust) heute derart beherrschend sind (cui bono?), daß sie und nicht die Reste von Nationalismus die wahre Bedrohung darstellen.

Comments on this entry are closed.

Previous post:

Next post: