Die aktuellen Modelle des Finanzbetrugs – Teil 1

by Karl-Heinz Thielmann on 11. November 2014

Im September 2014 hat es auch Warren Buffett erwischt. Mit seiner Holdinggesellschaft Berkshire Hathaway hielt er 3,7% des britischen Supermarktkonzerns Tesco. Der Kurs der Aktie brach ein, nachdem das Management eingestehen musste, dass die Geschäftszahlen vom 1. Halbjahr mittels Bilanztricks geschönt worden waren. Der berühmteste Investor der Welt wurde durch manipulierte Unternehmenszahlen getäuscht und ist damit Opfer einer Form von Finanzbetrug geworden. Damit wurde er im Prinzip genauso hereingelegt wie in anderen Fällen ganz normale Anleger.

Finanzbetrug ist eines der großen Tabuthemen an den Kapitalmärkten. Bei jedem Fall, der auftritt, ist die Aufregung in der Fachpresse groß, doch ebbt sie meist schnell wieder ab. Nur selten gibt es ein breiteres Interesse in der Öffentlichkeit. Stillschweigend wird davon ausgegangen, dass Finanzbetrug ein Makel des Kapitalmarktgeschehens ist, mit dem man irgendwie leben muss. Jeder Fall wird dabei als Ausnahmefall gesehen. Dass es inzwischen eine erdrückende Fülle von Ausnahmefällen gibt, scheint kaum zu beunruhigen. Nach Zusammenhängen fragt kaum jemand.

Zudem hält sich das Mitleid mit den Opfern zumeist in engen Grenzen, oft müssen sie auch noch Spott und Häme ertragen. „Gier frisst Hirn“ ist eine beliebte Schlagzeile, wenn wieder einmal bekannt wird, dass Anleger mit angeblich hochrentierlichen Investments wie Aktien, geschlossenen Fonds oder Mittelstandsanleihen aufgrund von Finanzbetrug ihr Geld verloren haben. „Selbst schuld“ lautet nicht selten der selbstzufriedene Hintergedanke vieler Nichtbetroffener, als ob das Betrugsrisiko untrennbar mit dem unternehmerischen Risiko verbunden wäre, das man mit einer solchen Anlage meistens eingeht.

Finanzbetrug im Wandel der Zeiten: von der Gewinnvortäuschung zur Scheinsicherheit

Gerade heutzutage ist es ein völlig falscher Eindruck, Getäuschte als Opfer der eigenen Gier anzusehen: Denn der moderne Finanzbetrug versucht weniger, das Gewinnstreben des Menschen auszunutzen, als sein Bedürfnis nach Ruhe und Normalität. Bei ihm geht es vor allem darum, Kosten, Risiken oder Fehlentwicklungen für Kunden von Kapitalanlageprodukten zu verstecken. Sicherheit wird vorgetäuscht, wo in Wirklichkeit extremes Risiko ist.

Der klassische Finanzbetrug besteht im Vorspiegeln von unrealistisch hohen Gewinnen oder Gewinnmöglichkeiten, z. B. durch die sog. Schneeballsysteme. In Hinblick hierauf sind die Käufer von Finanzprodukten – und auch die Aufsichts- sowie Strafverfolgungsbehörden – inzwischen stark sensibilisiert. Auf Renditeversprechungen im zweistelligen Bereich fällt heutzutage nur noch selten jemand herein. Etwas anderes ist es jedoch, wenn man relativ moderate Renditen bei sehr niedrigem Risiko verspricht. Angebliche Sicherheit wird weniger kritisch hinterfragt als Gewinnprognosen, insbesondere wenn die Behauptungen von scheinbar objektiven Zahlen und Berechnungen belegt werden. Die Glaubwürdigkeit erhöht sich, wenn die Zahlen durch Wirtschaftsprüfer testiert oder mit wissenschaftlichen Methoden errechnet wurden.

Moderner Finanzbetrug bedient sich daher im Wesentlichen zweier Vorgehensweisen:

  • Die unverhältnismäßig aggressive Bewertung von Umsätzen, Gewinnen und Vermögensgegenständen im Rahmen des „Fair-Value Accounting“.
  • Die Verschleierung von Zusammenhängen zwischen Ertragschancen und Risiken mittels finanzmathematischer Methoden oder Kennzahlen.

Wenn Bilanzkosmetiker zu viel Make-up auftragen …

Bilanzfälschung als Methode des Finanzbetrugs ist an sich nichts Neues. Seit es Kapitalgesellschaften gibt, haben Schwindler versucht, mithilfe manipulierter Bewertungsmethoden Vermögenswerte vorzutäuschen, um überteuerte Wertpapiere zu verkaufen. Insbesondere die Erfahrungen aus dem Börsencrash 1929 führten zur Anforderung an die Bilanzierung, ein solches Vorgehen möglichst stark zu erschweren. Daher – und auch um die generelle Risikovorsorge zu verbessern – war jahrzehntelang das sogenannte „Niederstwertprinzip“ als oberster Grundsatz für Bewertungsverfahren bei der Aufstellung von Unternehmensbilanzen zu beachten. Hierbei werden Vermögensgegenstände in einer Bilanz grundsätzlich zu niedrigsten Wert erfasst, der entweder dem Marktwert oder den um Abschreibungen bereinigten Anschaffungskosten entspricht.

Diese konservative Methodik folgt ganz dem Vorsichtsprinzip, hat jedoch einen entscheidenden Nachteil: Sie ermöglicht es, dass Vermögenswerte bei Unternehmen versteckt werden; sich diese also „arm rechnen“. Anleger, Gläubiger und Steuerbehörden können so vom Management über die wahre Ertragskraft des Unternehmens getäuscht werden. Als Konsequenz hieraus hat sich mit den internationalen Bilanzierungsstandards IFRS in den vergangenen Jahrzehnten eine Philosophie durchgesetzt, die als „Fair-Value-Accounting“ bezeichnet wird: Ihr Ziel ist es, in den Unternehmenszahlen einen möglichst „wahren Wert“ der Finanzlage einer Firma darzustellen.

Problem bei IFRS ist aber, dass wirklich objektive Standards zur Ermittlung von Vermögensgegenständen oftmals fehlen. Im Wesentlichen werden daher die Bewertungen – soweit vorhanden – aus Marktwerten abgeleitet. Wenn es keine Marktwerte gibt, wird nach anderen Vergleichswerten gesucht; wenn diese ebenfalls nicht vorhanden sind, muss man die Bewertung auf der Basis von finanzmathematischen Modellen durchführen. Diese abgestufte Vorgehensweise hat sich jedoch als Einfallstor für finanzbetrügerische Methoden herausgestellt. Denn Marktwerte und Vergleichsmaßstäbe können verzerrt sein, Modelle sind manipulierbar. Dabei haben sich folgende Praktiken als besonders geeignet für die betrügerische Verfälschung von Finanzzahlen erwiesen:

  • Die überhöhte Bewertung von immateriellen Vermögensgegenständen; insbesondere wegen Goodwill; Markenrechten oder der Aktivierung von Forschungsaufwendungen.
  • Das Vorbuchen von Umsätzen und Nachbuchen von Kosten; insbesondere im Zusammenhang mit Geschäften mit eigenen Tochtergesellschaften oder Lieferanten.
  • Die direkte Verrechnung von Verlusten mit dem Eigenkapital, ohne dass diese in der Gewinn-und-Verlust-Rechnung erscheinen.
  • Die heutige Aktivierung von prognostizierten zukünftigen Gewinnen.
  • Die Bewertung von außerbörslich gehandelten Derivaten.

Wie kommt man Fehlbewertungen auf die Spur?

Seit 2004 gibt es die Deutsche Prüfstelle für Rechnungswesen (DPR), welche die Bilanzen von börsennotierten Aktiengesellschaften stichprobenartig untersucht: aus dem DAX, MDAX, SDAX sowie TecDAX ca. alle vier bis fünf Jahre und bei anderen Unternehmen ca. alle acht bis zehn Jahre. Bisher sind die Ergebnisse erschreckend: Allein 2010 waren 26% der untersuchten Jahresbilanzen mangelhaft (2013: 14%). Selbst große und bekannte Unternehmen wie Continental, Fielmann, Infineon, Metro oder die Postbank waren bei den Ertappten; Adidas und Puma wurden gleich zweimal erwischt. Ernsthafte Konsequenzen muss außer einer Nachkorrektur des Jahresabschlusses allerdings niemand befürchten. Kleine Unternehmen können damit rechnen, dass sie aufgrund der seltenen Kontrollen jahrelang unbemerkt durchrutschen. Auch verhindert das Verfahren nicht, dass eine Firma mit bereits gefälschten Bilanzen an die Börse kommt, wie z. B. 2012 der Leuchtenhersteller Hess.

Mehr Schrecken bei Finanzbetrügern verbreiten Hedgefondsmanager wie Jim Chanos, der sich mit seinem 1985 gegründeten Kynikos-Fonds auf Leerverkäufe spezialisiert hat. Dies ist eine Investmentstrategie, die in dem seit 30 Jahren laufenden Bullenmarkt eigentlich fragwürdig sein sollte, weil die Kurse generell nach oben gehen. Chanos ist trotzdem erfolgreich. Der Grund hierfür besteht darin, dass er mit einem Analystenteam den Finanzmarkt systematisch nach potenziellen Betrugsfällen durchkämmt, um Kandidaten für seine Leerverkäufe zu finden. Dabei wurden erschreckend oft Treffer gelandet. Insbesondere am Ende der Dotcomblase wurden eine Reihe von Großunternehmen identifiziert, deren Kurse später spektakulär zusammenbrachen und deren Top-Manager ins Gefängnis mussten: Enron, Wordcom oder Tyco sind hier nur einige Beispiele. Chanos scheut sich auch nicht, seine analytischen Erkenntnisse zu veröffentlichen und so die von ihm verfolgten Unternehmen unter Druck zu setzen. Dabei nimmt er Verleumdungsklagen und Pressekampagnen gegen ihn Kauf; am Ende hatte er fast immer recht.

Für die US-amerikanische Börse spielen Chanos und ähnlich agierende Leerverkäufer eine wichtige Rolle: Sie sind eine Art Gesundheitspolizei des US-Kapitalmarktes. Dies schaffen sie aber nur, weil sie mit den Umsätzen ihrer Fonds eine gewisse Marktmacht haben. Investigative Journalisten oder kritische Finanzanalysten haben es dagegen schwerer, wahrgenommen zu werden bzw. überhaupt ihren Job zu behalten. Der Präzedenzfall für den Umgang der Finanzindustrie mit kritischen Analysten wurde 1992 geschaffen, als UBS Terry Smith, den damaligen Chef vom britischen Unternehmensresearch, entließ. Grund war, dass Smith mit seinem Buch „Accounting for Growth“ eine Zusammenstellung von Bilanztricks veröffentlicht hatte, was einigen großen Firmen-Kunden von UBS missfiel.

Seitdem wagen es nur noch wenige Analysten bei kleineren Brokern, sich kritisch mit dem Thema Bilanzmanipulation auseinanderzusetzen. Ein Beispiel gab es im November 2013, als die Einzelhandelsspezialisten von Cantor Fitzgerald dem britischen Supermarktkonzern Tesco vorwarfen, mit dubiosen Methoden die Marge aufzublähen. Zu diesem Zeitpunkt wurde der Report vom Markt jedoch ignoriert und blieb ohne Folgen. Als dann allerdings Unilever-Manager Dave Lewis am 1. September 2014 als erster externer Vorstandschef bei Tesco anfing, wurde ihm relativ schnell klar, dass alles noch viel schlimmer ist: Er enthüllte, dass allein im 1. Halbjahr 2014 die Gewinne um ca. 250 Mio. £ zu hoch ausgewiesen wurden. Die Hintergründe werden jetzt vom „Serious Fraud Office“ untersucht, einer britischen Sonderbehörde zur Verfolgung komplexer Betrugsfälle. Aufgrund interner Ermittlungen wurden bereits 8 vorherige Top-Manager freigestellt.

Michael Woodford wurde 2011 bei Olympus zum ersten westlichen Chef eines japanischen Konzern berufen. Investigative Journalisten hatten bei diesem Unternehmen über zweifelhafte Bilanzierungsmethoden berichtet, was Woodford dazu veranlasste, sich einmal genauer die alten Geschäftszahlen anzusehen. Er stieß auf unerklärliche Provisionszahlungen an Scheinfirmen in Höhe von mehreren 100 Millionen US$. Dies war für ihn Grund genug, im Verwaltungsrat eine unabhängige Untersuchung zu fordern. Doch stattdessen wurde Woodford entlassen, weil die Angst bestand, dass der Ruf des Unternehmens und des Vorgängers Tsuyoshi Kikukawa beschädigt werden könnte. Der Brite floh in seine Heimat und initiierte dort eine Pressekampagne, die letztlich zur Aufklärung des Skandals führte. Wie sich herausstellte, dienten die dubiosen Zahlungen dazu, Investment-Verluste in Höhe von schätzungsweise 1,5 Mrd. US$ zu kaschieren, die teilweise noch aus den 90er Jahren stammten und nie bilanziell anerkannt wurden.

Dieses Beispiel demonstriert, dass es möglich ist, Finanzbetrügereien mit Bilanzfälschung über Jahrzehnte zu verstecken. Weiterhin zeigt es, dass ohne massiven Druck von außen nichts aufgedeckt worden wäre. Die Verantwortlichen wären nicht vor Gericht gestellt worden, sondern würden nach wie vor auf ihren Posten sitzen.

 

Der Beitrag wird in 2 Tagen fortgesetzt.

Holger November 11, 2014 um 23:50 Uhr

Wie fast immer sehr spannend, Herr Thielmann!

Dazu nur einige Detailfragen von einem eher Unwissenden:

– Gibt es eine sachliche Erklärung für den doch deutlichen Rückgang der mangelhaften Bilanzen zwischen den Jahren 2010 und 2013?

– Sie nennen eigenkapitalwirksame Verluste, die nicht in die GuV eingehen, und die Bewertung außerbörslicher Derivate als Einfallstore für Finanzbetrug. Oft wird beides ja direkt verknüpft, wenn ich das richtig verstehe: Bewertungsverluste und Gewinne werden bilanzwirksam, in der GuV aber ignoriert. Ich nehme aber an, dieses Vorgehen ist soweit völlig regelkonform, oder? Gibt es denn öffentlich sichtbare Indizien für Missbrauch an diesen (oder anderen) Stellen?

Karl-Heinz Thielmann November 12, 2014 um 07:09 Uhr

@Holger:
1) Ich nehme an, die Abweichungen bei der Trefferquote der DPR hängt stark damit zusammen, dass immer unterschiedliche Unternehmen überprüft werden. Insofern gibt es ein gewisses Element der Zufälligkeit.
2) Ein Indiz für Abschreibungen, die nicht durch die GuV gehen, sind abweichende Entwicklungen bei Eigenkapital, Dividendenzahlungen und Gewinnen. So gibt es Unternehmen, die Gewinne ausweisen, und ihr Eigenkapital geht deutlich stärker zurück, als die Dividende, die sie zahlen (wenn sie zahlen).

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