Globalisierung, Kapitalismus und die „Kritiker“

by Karl-Heinz Thielmann on 20. März 2015

Am Mittwoch ist ein marodierender Mob durch Frankfurt gezogen und hat nach dem Motto „macht kaputt, was euch kaputt macht“ eine Spur der Verwüstung verursacht. Dies geschah im Fahrwasser von Protesten gegen die Eröffnung des neuen EZB-Gebäudes. Hierbei ging es weniger um die konkrete EZB-Politik, als vielmehr darum, dass die Zentralbank als Symbol für ein angeblich verfehltes Wirtschaftssystem diente, das maßgeblich für ausufernde Massenarmut und Krisen verantwortlich gemacht wird.

Sprachführer hierbei waren sogenannte „globalisierungskritische“ Organisationen wie Attac, die Linke etc. Diese lehnen grundsätzlich eine auf der Marktwirtschaft basierende Wirtschaftsordnung als Wurzel allen Übels ab. Über das Gegenmodell zum aktuellen System herrscht allerdings große Uneinigkeit, die Vorstellungen reichen von halbsozialistischen Wirtschaftsformen bis hin zur kompletten Anarchie.

In der Berichterstattung über die Frankfurter Ereignisse spielte vor allem die Gewalt eine Rolle; sowie ob und wie stark sich die Protest-Organisatoren hiervon distanzieren. Weiterhin wurde hinterfragt, ob die EZB eigentlich der richtige Adressat für die Proteste ist. Auffallend wenig wurde hingegen darüber berichtet, ob die Behauptungen der Demonstranten überhaupt berechtigt waren. Dies möchte ich hier nachholen.

Hat Globalisierung die Armut gefördert?

Das Kernargument der Globalisierungsgegner basiert auf der zunehmenden Ungleichheit in der globalen Einkommensverteilung, die angeblich Armut verursachen soll. Die Vermögen der Superreichen haben überproportional zugenommen, weil sie am stärksten von den Wirtschaftstrends der vergangenen Jahre profitiert haben. Dies ist zwar richtig und unbestritten. Doch ist dem Umkehrschluss der Globalisierungskritiker auch zuzustimmen, dass mehr Vermögen für eine Gruppe von Menschen automatisch weniger für die Übrigen bedeutet?

Internationalen Warenaustausch und damit auch Globalisierung gibt es schon seit Jahrtausenden. Aber erst in den letzten 25 Jahren hat es ein geradezu atemberaubendes Wachstum gegeben. Von 1990 bis 2007 stieg das Volumen aller internationalen Transaktionen von ca. 5 Billionen US$ auf ca. 29,7 Billionen US$ an. In Anteilen am globalen BIP gerechnet stiegen sie von 22,7% auf 52,4% an. (Diese und folgende Zahlenangaben kommen, soweit nicht anders angegeben, aus der Studie: „Global flows in a digital age: How trade, finance, people, and data connect the world economy“ vom McKinsey Global Institute, 2014)

Bis 2009 kam es aufgrund der globalen Finanzkrise zu einem starken Einbruch bei internationalen Transaktionen, die sich im Umfang ungefähr halbierten. Seitdem konnte sich der globale Handel mit Waren und Dienstleistungen wieder erholen und das Vorkrisenniveau übersteigen. Aufgrund der noch zurückgebliebenen Finanzgeschäfte lag das Gesamtvolumen 2012 aber erst wieder bei 25,7 Billionen US$ (oder 36,1% des globalen BIP).

Zwischen 1990 und 2012 verloren die entwickelten Volkswirtschaften ihre Dominanz im Güterhandel; ihr Anteil ging von 54% auf 28% zurück. Entwicklungsländer haben jetzt einen Anteil von 40% am Welthandel mit Gütern. 3/5 dieser Transaktionen laufen direkt zwischen Entwicklungsländern, die sich somit wirtschaftlich zunehmend emanzipieren. Die Globalisierung hat also Abhängigkeiten von Entwicklungsländern deutlich vermindert.

Auffällig ist, dass in der gleichen Zeit die Unterernährung in der Welt deutlich zurückging, die ich hier einmal als Indikator für Armut nehmen möchte. Laut Zahlen der FAO sank der Anteil unterernährter Menschen vom Zeitraum 1992/94 bis 2012/14 von 18,7% auf 11,3%. In Entwicklungsländern sank der Anteil unterernährter Menschen von 1992/94 bis 2012/14 von 23,4% auf 13,5%.

Die Globalisierung hat also nicht nur die Reichen reicher gemacht, sondern ebenfalls zu einem drastischen Rückgang der Armut geführt. Dies ist auch logisch, da Globalisierung und ein Wachstum des Welthandels mit zunehmender Spezialisierung und effizienterer Produktion einhergehen. Dies führt zu höheren Einkommen, von denen alle Menschen profitieren.

Die Ansicht, dass Globalisierung zu Armut führt, ist also falsch, genau das Gegenteil ist richtig. Da der Prozess der Armuts- und Hungerbekämpfung noch lange nicht abgeschlossen ist, brauchen wir viel mehr – und nicht weniger – Globalisierung.

Resultieren „Failed States“ aus dem globalen Kapitalismus und der Politik internationaler Finanzinstitutionen?

Viele Länder wie Griechenland oder Argentinien haben derzeit existenzbedrohende Probleme, die nicht zuletzt damit zusammenhängen, dass sie ihre Staatsausgaben weder senken können (oder wollen) und auch nicht mehr durch Steuern oder durch Kreditaufnahme an Kapitalmärkten finanzieren können.

Der Vorwurf der Globalisierungskritiker ist, dass die fatale Situation dieser Länder daraus resultiert, dass die Gläubiger quasi wie Kredithaie den Schuldnerländern nicht tragbare Verbindlichkeiten aufgedrängt haben. Dies geschah nicht zuletzt, um Absatzmärkte für multinationale Konzerne zu schaffen. Wenn augenfällig geworden ist, dass die Länder über ihre Verhältnisse gelebt haben, werden sie ausgepresst, um die Schulden zurückzuzahlen. Dies geht vorwiegend zulasten der sozial Schwachen. Institutionen wie der IWF, die Troika etc. dienen dann als Instrumente, um die Interessen kapitalistischer Konzerne zu verteidigen.

„Failed States“ wie Griechenland, Argentinien oder auch die Ukraine werden in der Praxis aber weniger durch internationale Großkonzerne oder Banken, sondern durch einheimische Machteliten – korrupte Politiker und Oligarchen – ausgepresst. Deswegen ist es auch kein Zufall, dass die schlimmsten Schuldensünder bei der Korruptionsstatistik von Transparency International immer auch relativ schlechte Werte erzielen. Dies ist kein neues Phänomen, seit den Anfängen der Menschheit gab es immer wieder Staatswesen, die durch die Vetternwirtschaft und Verschwendungssucht regierender Machteliten ruiniert wurden. Spektakulär war insbesondere der Zusammenbruch des absolutistischen Frankreich, der zur Revolution von 1789 führte.

Der globale Kapitalismus hat „Failed States“ nicht verursacht. Im Gegenteil, Failed States zeichnen sich gerade dadurch aus, dass freie Marktwirtschaft nach Kräften behindert wird, um etablierte Eliten vor Wettbewerb zu schützen. Griechenlands absurde Bürokratie liefert hierfür das beste Beispiel. Verelendung kommt durch Korruption nicht durch Kapitalismus. Krisenländer haben i.d.R. nicht zu viel, sondern zu wenig Marktwirtschaft.

Allerdings kann man vielen multinationalen Unternehmen, Kreditgebern und auch Kontrollinstitutionen wie der Griechenland-Troika vorwerfen, dass sie die strukturellen Probleme leichtfertig ignorieren, wenn es um schnelle Profite bzw. um das Sichern von Ansprüchen geht. Als Partner von Politik und Geschäft werden in diesen Ländern viel zu gerne die korrupten Vertreter von Machteliten genommen, auch wenn diese langfristig viel Ärger verursachen. Damit sind multinationale Konzerne und die internationalen Institutionen zwar immer noch keine Haupttäter, können aber zu Komplizen werden.

Speziell in Griechenland müssen sich die Troika sowie die dahinterstehenden Staaten und Institutionen die Frage gefallen lassen, wie sinnvoll es war, über 5 Jahre eine angebliche Rettungs-Politik zu unterstützen, die Krisenursachen im Wesentlichen ignorierte und stattdessen relativ einseitig auf Sozialabbau setzte. Das Ergebnis konnte nur ein Desaster sein.

„Alter-Globalizers“ und „Anti-Globalizers“

Im Englischen gibt es die Unterscheidung zwischen „Alter-Globalizers“ und „Anti-Globalizers“; also „Globalisierungs-Veränderern“, die negative Nebenwirkungen von Globalisierung bekämpfen wollen, und „Globalisierungs-Feinden“, die Globalisierung an sich ablehnen. In Deutschland schmeißen wir beide Gruppen unter dem Stichwort „Globalisierungs-Kritiker“ in einen Topf. Dies führt jedoch zu fatalen Missverständnissen.

„Globalisierungs-Feinde“ haben die grundlegende Funktionsweise unseres Wirtschaftssystems nicht begriffen und machen lautstark Propaganda für eine Politik, die in den Abgrund führt. Denn Sie entwickeln in völliger Verkennung der Faktenlage mit der Dämonisierung der Globalisierung ein Feindbild, in der das Hauptmittel zur Bekämpfung der weltweiten Armut als deren Ursache dargestellt wird.

„Globalisierungs-Veränderer“ hingegen machen darauf aufmerksam, dass mit der Weltwirtschaft einiges nicht stimmt. Und auch wenn sie sich damit vielleicht manchmal im Ton vergreifen, muss man konstatieren, dass sie zumindest in zweierlei Hinsicht zu beachten sind:

  • Abzocke, das leichtfertige Eingehen von Risiken und die Aufbürdung der entstehenden Kosten auf die Allgemeinheit ist ein Thema, was aus vielen Bereichen der Wirschaft wohlbekannt ist, vom Umweltschutz bis zur Finanzkrise. Der globale Kapitalismus hat hier in der Tat ein gravierendes Problem, das aber mit Globalisierung nur indirekt zu tun hat. Denn es ist vor allem eine Frage der verqueren Anreizstrukturen, die es vielfach ermöglichen, Risiken zu generieren bzw. abzuzocken und die hieraus resultierenden Gewinne zu kassieren, ohne für die Folgen zu haften. Insofern ist dies auch kein Systemproblem, sondern eher ein Fehler in der konkreten Ausgestaltung des Systems. Dieser lässt sich beseitigen bzw. vermindern, ohne das System Kapitalismus an sich infrage zu stellen.
  • Eine an den Interessen von regionalen Machteliten orientierte Politik löst keine Probleme, im Zweifelsfall verstärkt sie diese nur. Wir sehen insbesondere am Beispiel der Troika in Griechenland ein erbärmliches Versagen von internationalen Institutionen. Aber auch diese Organisationen bzw. ihrer Vertreter sind keine notwendigen Bestandteile des globalen Kapitalismus. Leider ist man von einem Eingestehen eigener Fehler bei diesen Institutionen zumeist noch sehr weit weg (von Ausnahmen einmal abgesehen wie einigen IWF-Volkswirten bzgl. der Sparpolitik und der Weltbank, die ihre Vorgehensweise zunehmend infrage stellt).

Wenn die jüngsten Krawalle in Frankfurt eine Wirkung haben, dann die, dass wieder jede kritische Auseinandersetzung mit dem Thema „Globalisierung“ in den Kontext gewalttätiger Chaoten und destruktiver Systemfeinde gestellt werden kann. Dies ist höchst ärgerlich, da sich an der Art und Weise, wie die Globalisierung vonstattengeht, durchaus einige verbessern lässt. Stattdessen können sich jetzt die für die Fehlentwicklungen Verantwortlichen bequem zurücklehnen und unbeirrt weiter so machen wie bisher. Weitere Desaster werden unvermeidbar sein.

Previous post:

Next post: