Der Sommer der Staatsbankrotte

by Karl-Heinz Thielmann on 7. Juli 2015

Aktuell wird bei uns in den Medien das Thema Griechenland-Bankrott exzessiv behandelt. Dabei wird vernachlässigt, dass derzeit noch zwei weitere Staatspleiten unmittelbar drohen: in Puerto Rico und der Ukraine. Diese könnten für Weltwirtschaft und -politik weit bedeutender sein: In Puerto Rico sind US-Anleger in vielfacher und undurchschaubarer Weise engagiert, sodass die Auswirkungen im US-Finanzsytem wenig kalkulierbar scheinen. Die Ukraine ist viel größer als die beiden anderen Länder und spielt eine zentrale Rolle im Ost-West-Konflikt.

Zum Thema Griechenland ist schon so viel gesagt und geschrieben worden, dass es schwerfällt, noch etwas Neues zu finden. Ich möchte trotzdem noch einmal (das erste Mal war in Portugal Si, Griechenland No vom 11.6.) auf  Ricardo Hausmann und Francesco Giavazzi hinweisen. Im allgemeinen Gezänk über zuviel oder zuwenig Austerität haben die Analysen dieser beiden Ökonomen in der Flut von Medienberichten leider zu wenig Beachtung gefunden. Sie haben im Gegensatz zu den meisten anderen Kommentatoren nach den tieferen Ursachen gesucht. Dabei haben Sie für Griechenland zwei wesentliche Punkte beleuchtet, die auch eine Gemeinsamkeit mit den anderen potenziellen Bankrottnationen bilden: eine unzeitgemäße Wirtschaftsstruktur sowie eine Verweigerungshaltung gegenüber notwendigen Änderungen.

Der Entwicklungsökonom Ricardo Hausmann hat kürzlich in einem Beitrag für das „Project-Syndicate“ die grundsätzlichen Schwierigkeiten Griechenlands anschaulich erläutert:

„Das Problem ist, dass Griechenland sehr wenig von dem produziert, was die Welt konsumieren will. Die Exporte umfassen im Wesentlichen Obst, Olivenöl, Baumwolle, Tabak und einige Mineralölerzeugnisse. … Tourismus ist eine reife Industrie mit vielen Wettbewerbern. Das Land produziert keine Maschinen, Elektronik, oder Chemikalien. Von 10 US$, des Welthandels in der Informationstechnologie macht der Anteil Griechenlands für 0,01 US$ aus. Griechenland hatte nie die Produktionsstruktur, um so reich zu sein, wie es erschien: Sein Einkommen wurde durch massive Mengen von Geld aufgeblasen, das nicht verwendet wurde, um die Industrie zu erneuern.“

Veraltete Strukturen werden dann zum gravierenden Problem, wenn ihre Modernisierung komplett verweigert wird. Anfang Juni hat der italienische Ökonom Francesco Giavazzi in der Financial Times einen Kommentar veröffentlicht mit dem Titel “Greeks chose poverty, let them have their way” – “Die Griechen haben die Armut gewählt – lasst sie gewähren“. Laut Giavazzi kann der Euro nur überleben, wenn die europäische Integration weitergeht. Griechenland steht dem im Wege, weil sich es mit der Wahl von Syriza als Regierungspartei der Moderne verweigert hat. Er machte klar, dass es nicht Aufgabe des übrigen Europa sein kann, notwendige Reformen in Griechenland durchzusetzen. Wenn die Griechen sich nicht ändern wollen, müssen sie aber auch die Konsequenzen tragen.

Griechenland: gefangen in einer fatalen Hassliebe zur Staatswirtschaft

Mit dem Hinweis auf die weitverbreitete Modernitätsverweigerung in Griechenland hat Giavazzi einen wesentlichen Punkt angesprochen, der bisher in der Diskussion kaum Berücksichtigung fand: Hinter der allgemeinen Reformablehnung stehen nicht Sorgen um nationale Interessen oder soziale Fragen. Sie wird aus einer geistigen Grundhaltung gespeist, die der Marktwirtschaft und Wettbewerbsdruck skeptisch gegenübersteht. Eine Staatswirtschaft mit „sicheren“ Arbeitsplätzen wird bevorzugt. Gleichzeitig haben die Bürger aber aufgrund der Ineffizienz des Staates kein Vertrauen in ihn. Deswegen fehlt auch das Verständnis, dass er durch Steuern finanziert werden muss.

Im Sozialismus gibt es eine klare Präferenz für Staatsunternehmen. Insofern ist auch klar, warum die von kommunistischer Ideologie durchdrungene Syriza als erste Regierungsmaßnahme Staatsdiener wieder eingestellt hat und eine Stärkung der Privatwirtschaft mittels Reformen blockierte. Alexis Tsipras und seine Mitstreiter glauben gemäß ihrer Ideologie wirklich, dass sie damit das Beste für ihr Land erreichen. Insofern sind sie gerade auf ihre längst überkommenen Ideen besonders stolz.

In der Praxis ist sozialistische Staatswirtschaft bisher immer kläglich gescheitert: Ineffiziente Planung, Korruptionsanfälligkeit sowie insbesondere die fehlende Adaptionsfähigkeit an Innovationen haben in den vergangenen Jahrzehnten eine sozialistische Ökonomie nach der anderen zugrunde gehen lassen. Die wenigen noch existierenden leben entweder wie Venezuela vom Ölreichtum, haben sich verbarrikadiert wie Nordkorea oder versuchen eine zaghafte Öffnung wie Kuba.

Nichtsdestotrotz verfolgt Syriza unbeirrt weiter den Kurs, Griechenlands Wirtschaft in das nächste sozialistische Experimentierfeld zu verwandeln. Die Starrsinnigkeit bei der Realitätsverweigerung wird durch ein weiteres Element ideologiebestimmten Geistes begünstigt, der im zweiten Satz des Kommunistischen Manifests von Karl Marx und Friedrich Engels zum Ausdruck kommt: „Alle Mächte des alten Europa haben sich zu einer heiligen Hetzjagd (…) verbündet …“ Damit lieferten sie ein universell einsetzbares Erklärungsmuster, falls die eigenen Pläne nicht aufgehen: niemals sind die Absurdität der eigenen Visionen oder selbst gemachte Fehler schuld, sondern immer eine Verschwörung finsterer reaktionärer Mächte. Für Marx und Engels waren „der Papst und der Zar, Metternich und Guizot, französische Radikale und deutsche Polizisten“ die Bösewichte. Für Tsipras und seine Verbündeten heißen sie heutzutage Merkel, Schäuble, Dijsselbloem, Troika und Neoliberale.

Zu einer ehrlichen Bestandsaufnahme des aktuellen Scherbenhaufens gehört aber nicht nur der Verweis auf die zweifelhaften Motive und Methoden der aktuellen Machthaber in Athen. Wenn ein Volk sich in demokratischen Wahlen mehrheitlich für populistische Verführer entscheidet, so wie die Griechen am Sonntag, hat dies viel mit Verzweiflung zu tun. Ihr Aufstieg wurde erst durch eine konsequent an den Bedürfnissen des Landes vorbei agierende Politik der Troika ermöglicht. Deren Maßnahmen hatten Griechenlands Grundübel nie konsequent angepackt. Die Verschleppung oder Sabotage von echten Reformen wurde toleriert und damit den Niedergang der Nation beschleunigt.

Die Sparauflagen der Troika ohne gleichzeitige ernsthafte Bemühungen zur Effizienzsteigerung der Wirtschaft waren als Therapie genauso effektiv wie die Aderlässe, mit denen mittelalterliche Ärzte gerne ihre Patienten behandelten: Sie schwächten den angeschlagenen Organismus, ohne der Krankheitsursache auf den Grund zu gehen. Es war früher schon ein Erfolg, solch eine Behandlung zu überleben, weil der Körper anfällig wurde für andere Krankheitserreger.

Puerto Rico: die Nebenwirkungen eines Steuersparmodells

Die Karibikinsel Puerto Rico ist als „nicht inkorporiertes Gebiet der Vereinigten Staaten“ formal betrachtet eine seltsame, halbsouveräne Nation. Denn einerseits ist das Land Teil der Vereinigten Staaten: Währung ist der US-Dollar und es gibt keine eigene Außenpolitik. Alle Puerto Ricaner haben die US-Staatsbürgerschaft und müssen Bundessteuern zahlen. Für sie gelten diverse US-Sozialleistungen, u.a. die Mindestlohnvorschriften. Andererseits stehen den Bürgern nicht sämtliche Rechte zu, die in der US-Verfassung festgeschrieben sind, sondern nur die Grundrechte. Bei den Präsidentenwahlen sind sie ohne eigenes Stimmrecht. Dafür gibt es eine Selbstverwaltung, die alle inneren Angelegenheiten regelt. Für seine Staatsschulden in Höhe von 73 Mrd. US$ ist das Land alleine verantwortlich.

Die Wirtschaftsstruktur sieht auf den ersten Blick relativ modern aus, Handel, Industrie und Tourismus dominieren. Die Karibikinsel ist weltweit einer der größten Standorte für die Produktion von Medikamenten. Hauptgrund hierfür ist aber, dass multinationale Konzerne in Puerto Rico praktisch keine Steuern zahlen müssen. Aufgrund seines laxen Fiskalrechts gilt die Insel weithin als einer der Hauptstandorte für Konstruktionen zur legalen Steuervermeidung.

Hauptverlierer war in den letzten Jahrzehnten die Landwirtschaft, die angesichts von Mindestlöhnen trotz geografischer Vorteile in Vergleich mit den Nachbarinseln und –nationen nicht konkurrenzfähig ist. Dies führt groteskerweise dazu, dass 85% der Nahrungsmittel importiert werden. Weitere Konsequenz ist eine sehr hohe Arbeitslosigkeit. Die offizielle Arbeitslosenrate liegt bei 12,4%, nach ökonomischen Analysen sind aber wohl nur 40 Prozent der erwachsenen Bevölkerung regulär beschäftigt oder auf Jobsuche. Sozialtransferzahlungen machten 2012 ca. 30% des BIP aus.

Viel stärker noch als in Griechenland ist der „Brain Drain“: Alleine 2014 sind fast 1% der Bevölkerung ausgewandert. Viele hoch qualifizierte junge Leute verlassen frustriert das Land und suchen ihre Chance woanders. Es gibt eine gewaltige Schattenökonomie. Das Verständnis bei den Bürgern, dass man einen Staat durch Steuern finanzieren muss, ist dementsprechend gering ausgeprägt. Hinzu kommt, dass die Hauptarbeitgeber – multinationale Konzerne – auch wenig Neigung haben, Steuern zu zahlen, weil sie ja genau aus dem Grund der Steuervermeidung auf die Insel gekommen sind.

Dies alles ist schon lange bekannt, genauer gesagt seit 2006. In diesem Jahr stand die Inselregierung das erste Mal vor der Pleite und wurde zum ersten Mal gerettet: durch einen von Washington administrierten Schuldendeal, dessen Fokus im Nachhinein fatal an die späteren Rettungsprogramme der EU erinnerte: Sparen und höhere Steuern anstatt von richtigen Strukturreformen. Seitdem befindet sich das Puerto Rico im schleichenden Niedergang, seit neun Jahren geht das BIP zurück.

Wie in Griechenland vor 2008 hat sich in Puerto Rico während der fetten Jahre vor 2006 eine parasitäre Bürokratie entwickelt, die es danach nicht schaffte, von ihren Privilegien zu lassen. Staatsausgaben wurden bevorzugt über Schulden finanziert, ohne sich über Zins- und Tilgungszahlungen Gedanken zu machen. Die öffentliche Verwaltung und die Staatsunternehmen sind chronisch ineffizient geworden. Sinnbild hierfür ist das Energieversorgungsmonopol, dessen Preise doppelt so hoch sind wie in den USA, das aber trotzdem kurz vor dem Bankrott steht. Die Verhinderung von echten Reformen steht im Vordergrund der Politik, nicht Anpassung an notwendige Veränderungen.

Die grundlegenden Probleme sind denen Griechenlands nicht unähnlich. In Puerto Rico sind sie aber nicht das Ergebnis überkommener Gesellschaftsvorstellungen, sondern eines durch durch Fehlanreize ad absurdum geführten Marktliberalismus. Die scheinbare Modernität ist eine artifizielle Konstruktion, die auf Fehlsteuerung beruht. Speziell die USA spielen hier eine zwielichtige Rolle: Ihre Industrie- und Steuerpolitik hat dazu geführt, dass auf Puerto Rico eine den Bedürfnissen des Landes entgegengesetzte Wirtschaftsstruktur entstand, die vor allem Steuervermeidern und Regierungsbeamten nützt. An den negativen Nebenwirkungen war Washington bisher auffällig desinteressiert.

Diese kapitalistische Doppelmoral hat das Entstehen einer parasitären Business-Kultur begünstigt. Sie generiert Wohlstand nicht durch Produktivität, sondern durch Tricksereien in einer Grauzone zwischen Legalität und Kriminalität. In unserer heutigen Welt mit wettbewerbsintensiven globalen Märkten und hoher Transparenz (zunehmend gerade in Steuerfragen) erscheint eine solche Wirtschaftsweise aber zunehmend anachronistisch. Puerto Rico muss sich umstellen, was jedoch Viele, die bisher von dem System profitierten, solange wie möglich vermeiden wollen.

Ukraine: der lange Schatten der Vergangenheit

Wenn eine Nation gesucht wird, die in ihrer Geschichte besonders viel Pech hatte, dann ist die Ukraine einer der Top-Kanditaten. Ihre geografische Position zwischen Ost- und Westeuropa hat ein fürs andere Mal dafür gesorgt, dass sie entweder zu wenig Beachtung fand, oder bei Konflikten zwischen einem westlichen und östlichen Machtblock politisch und wirtschaftlich unter die Räder kam.

Während der vergangenen Jahrzehnte herrschte lange eine trügerische Ruhe. In der Sowjetunion war die Ukraine als Nahrungsmittelproduzent und Standort für die Schwerindustrie relativ wichtig. Nach der Unabhängigkeit brachten Oligarchen die großen Unternehmen des Landes unter ihre Kontrolle und konnten relativ ungestört vom Wettbewerb ihre Privilegien genießen. Die wirtschaftliche Struktur wurde aber nicht weiterentwickelt; dafür blühte die Korruption: Im internationalen Corruption Perception Index 2014 von Transparency International liegt die Ukraine als schechtestes europäisches Land auf Platz 142 von 175 Ländern – auf dem gleichen Niveau wie Uganda.

Der Umsturz der Regierung 2014 durch eine Volksbewegung, die sich an westlichen Werten orientierte, brachte keine Besserung:

  • Zum einen wurde Russland auf den Plan gerufen, das seien Interessen bedroht sah. Durch Besetzung der Krim sowie die Unterstützung eines Aufstands russischer Bevölkerungsteile im Osten wurde die Situation destabilisiert.
  • Einige der führenden Oligarchen bekamen zunehmend Probleme. So steht z. B. Rinat Achmetow, dessen Holding SCM mit 300.000 Mitarbeitern größter privater Arbeitgeber im Land ist, nach Presseberichten kurz vor dem finanziellen Kollaps.
  • Zur Korruptionsbekämpfung wurden eine Reihe von tief greifenden Maßnahmen beschlossen, die aber bislang so gut wie nicht umgesetzt wurden.

Fatal für eine Ökonomie wie die Ukraine ist, dass ihr Schicksal eng von demjenigen der dominierenden Oligarchen abhängt. Diese beuten das Land zwar aus und profitieren von Ungleichheit und korrupten Strukturen. Andererseits sind sie die Einzigen, die – abgesehen von einer dubiosen Politikerclique – in einem Land wie der Ukraine Führungsverantwortung ergreifen können.

Die Konsequenzen sind weitverbreiteter Zynismus, Erstarrung und Frustration, aber kaum Eigeninitiative und Innovation. Auch für die Ukraine ist daher der „Brain Drain“ ein ernstes Problem: Intelligente junge Leute suchen ihr Glück lieber woanders, viele davon in Deutschland.

Eine ineffiziente Wirtschaftsstruktur, ein kleptokratischer Staat und demotivierte Bürger sind ein wirtschaftliches Misserfolgsrezept für Schuldenstaaten

Ukraine, Griechenland und Puerto Rico: So unterschiedlich diese Länder sein mögen, so groß sind – abgesehen von der Überschuldung – ebenfalls ihre Gemeinsamkeiten:

  • Die Wirtschaftsstruktur reflektiert eine Ökonomie der extremen Ineffizienz: entweder durch fehlende Modernität oder durch entwicklungspolitische Fehlsteuerungen.
  • Die Politik spielt – unabhängig von der Motivation – eine sehr destruktive Rolle.
  • In allen Ländern haben sich große und parasitäre Strukturen herausgebildet, welche die einheimische Wirtschaft belasten und ehrliche Bürger demotivieren.
  • Der Staat wird von vielen Bürgern als Feind empfunden, der sie im Zweifel nur bestehlen will. Insofern erscheint es gerechtfertigt, Steuern zu hinterziehen.
  • Es gibt einen signifikanten Brain Drain: Talentierte und unternehmerisch gesinnte Leute verlassen in Scharen ihr Heimatland.
  • Weite Teile der im Land gebliebenen Bevölkerung haben Angst vor Veränderung: 1) Entweder, weil sie schon so resigniert sind, dass sie sowieso nichts Positives mehr erwarten; oder 2) sie schieben die Schuld auf fremde Mächte und nicht auf eigene Fehler; oder 3) sie profitieren von dem System, weil ihre wirtschaftliche Existenz auf ungerechtfertigten Privilegien aufgebaut ist.

Bei Griechenland und Puerto Rico spielt zudem noch eine Rolle, dass sie in einer Währungsunion mit viel größeren und leistungsfähigeren Partnern gefangen sind. Eine ökonomische Entlastung über eine Abwertung ist nicht möglich, was den Leidensdruck verstärkt.

Das Verhalten der Gläubiger: Partner bei der Realitätsverweigerung

Die anstehenden Staatspleiten haben nicht nur die strukturellen Probleme der betroffenen Länder offengelegt, sondern auch die Schwächen der internationalen Gläubiger im Umgang mit Problemnationen offenbart. Hierzu zählt einerseits die nach wie vor viel zu leichtsinnige internationale Kreditvergabe. Für ein nur paar Basispunkte mehr finden sich überall immer wieder Investoren, die selbst die aberwitzigsten Risiken eingehen. Staatliche Darlehen zur Durchsetzung politischer Ziele werden teilweise ohne jede Risikoabwägung vergeben – und damit Steuergelder bewusst aufs Spiel gesetzt.

Andererseits werden, wenn einmal der Schadensfall eingetreten ist, die Worte „Schuldenschnitt“, „Pleite“ und „Bankrott“ nahezu panisch vermieden, als wären es Todsünden. Dies hat mit den Schockwellen zu tun, die sich mit dem Ende von Lehman Brothers 2008 im Finanzsystem ausbreiteten und eine Weltwirtschaftskrise auslösten. Kein Politiker will an der nächsten Finanzkrise schuld sein. Und so werden für Schuldenprobleme gerne Scheinlösungen gefunden, bei denen Alt-Schulden mit Neu-Schulden bezahlt werden. Effektiv bildet dies aber ein Schneeballsystem; das Verschieben von echten Lösungen macht alles am Ende nur schlimmer.

Speziell Europas Politiker spielen ihren Wählern gerne das Theaterstück eines grundsätzlich geeinten Kontinents vor, dessen Schwierigkeiten sich alle durch Konsensusbeschlüsse, Aussitzen oder einem tiefen Griff in die Taschen der europäischen Steuerzahler lösen lassen. Insofern kann man Alexis Tsipras fast dankbar dafür sein, dass er die Absurdität dieses Systems offenbart hat, indem er mit seinen Forderungen maßlos überreizte.

Wenn man aber die mangelnde Zahlungs- und Reformfähigkeit eines Landes nicht anerkennt und „Rettungspakete“ mit Pseudolösungen schnürt, dann hat man einen ähnlichen Zustand an Realitätsblindheit erreicht wie selbstgefällige Schuldner. Insofern hatten die Griechenland-Verhandlungen in den vergangenen Wochen auch mehr mit absurdem Theater zu tun als mit echten Lösungen. Die EU wollte den nächsten faulen Kompromiss, die griechische Seite einen Erhalt der maroden Staatswirtschaft. Dass es hier keine Einigung gab, ist nicht zu bedauern.

Im Scheitern liegt ebenfalls eine Chance, man muss sie allerdings nutzen

Scheitern gehört zum Leben. Wirtschaftliches Scheitern führt zum Bankrott, bei Unternehmen wie Nationen. Versuche, dieses Scheitern zu verschleiern, machen normalerweise alles noch viel schwieriger, da ungelöste Probleme mit der Zeit immer schlimmer werden. Eine Bankrotterklärung ist immer auch ein Moment der Wahrheit. Ihre Vermeidung ist eine Lüge, die böse Folgen haben kann. Deswegen gilt Insolvenzverschleppung bei Unternehmen als eine Straftat.

Insolvenzverschleppung für Nationen gilt seltsamerweise noch als Tugend bei Politikern, die sich vorgeblich um „Stabilität“ sorgen. Doch diese angebliche Stabilität ist nichts anderes als eine Beruhigungsmaßnahme für leichtfertige Kreditgeber. Scheitern sollte aber auch für Gläubiger zum Leben dazugehören, sonst funktioniert eine Marktwirtschaft nicht: Wer leichtsinnig sein Geld aufs Spiel setzt, gehört bestraft. Wer versucht, marode Forderungen durch Ablösung von alten Schulden mit neuen Schulden zu verschleiern, gehört doppelt bestraft. Eine Rettungspolitik, die Gläubiger und Schuldner von ihrer Verantwortung entlastet, lässt Fehlanreize für die Zukunft bestehen.

Der anstehende Sommer der Staatsbankrotte verheißt einige unangenehme, aber notwendige Momente der Wahrheit. In Griechenland kam er am Sonntag noch nicht: Das deutliche Nein-Ergebnis ist eine Bestätigung der Verweigerungshaltung. Nicht nur der Staatsbankrott, sondern auch private Pleiten, Enteignungen und eine schwere Rezession sind jetzt unvermeidlich, ein Euro-Austritt wahrscheinlich. In Puerto Rico und der Ukraine besteht noch die Möglichkeit, im Rahmen eines Schuldenschnittes radikal mit den Zwängen der Vergangenheit zu brechen. Voraussetzung für den Erfolg ist aber die Einsicht in eigene Fehler. Vielleicht hilft ja das Negativ-Beispiel Griechenland, anderen Problemnationen die Gefahren starrsinniger Reformverweigerung zu demonstrieren. Zu hoffen wäre es.

 

Dieser Text erschien in leicht abgewandelter Form ebenfalls in „Mit ruhiger Hand“ Nummer 39 vom 6. Juli 2015.

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