Moderne Evolutionstheorie schlägt Ökonomie (06): Annäherung an die Multilevel-Selektion

by Dirk Elsner on 4. Januar 2016

Die Evolutionswissenschaft möchte Erkenntnisse aus den biologischen Wissenschaften verwenden, um unser Verständnis für die Ökonomie zu verbessern. Manche Ökonomen, wie etwa Robert Frank von der Cornell Universität, glauben sogar, dass in 100 Jahren eher Charles Darwin als Adam Smith als Vater der Ökonomie bezeichnet werden.[1]

Nach der bisherigen Vorarbeit arbeite ich mich erstmals zum Kern dieser Beitragsreihe vor. Dieser Kern von Edward O. Wilsons Ansatz in dem Buch “Die soziale Eroberung der Erde” ist das Modell der Multilevel-Selektions-Theorie. Diese Welt der modernen Evolutionstheorie ist noch immer Neuland für mich, das ich für mich mit Hilfe dieser Beiträge kartografiere.

Die Multilevel-Selektion zwingt nach Auffassung von David Sloan Wilson und Mark Van Vugt Forscher dazu, das Modell des Homo Economicus durch eine komplexere Struktur zu ersetzen mit Präferenzen für Altruismus, Wohlwollen, Vergeltung, Reue, Gerechtigkeit, Vergebung und so weiter.[2]

Wer genau der Vater dieser Weiterentwicklung der Evolutionstheorie ist, lässt sich schwer ausmachen. Edward Wilson hat jedenfalls zusammen mit dem eingangs erwähnten David Sloan Wilson einen in den vergangenen Jahrzehnten verworfenen Strang der Evolutionstheorie weiterentwickelt.

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Kann kein Individuum schaffen: Städtebau am Beispiel Hamburg

Der Eintrag in der Wikipedia sieht außerdem den Philosoph Elliott Sober als Mitbegründer. Ich würde in jedem Fall auch den Biologen Martin A. Nowak und die rumänische Mathematikerin Corina E. Tarnita dazurechnen, die zusammen mit Edward O. Wilson im Wissenschaftsjournal Nature einen bahnbrechenden Aufsatz veröffentlichten, in dem sie das bisherige Standardmodell für falsch erklärten[3].

Multilevel-Selektion als übergreifende Theorie der Evolution

Wir haben bereits im fünften Teil gelernt, dass die natürliche Selektion auf verschiedene Ebenen greift, nämlich

  1. auf der Ebene der Gene[4] (Genselektion),
  2. beim Individuum, also am ganzen Organismus (Individualselektion) und
  3. auf Gruppen bzw. Populationen (Gruppenselektion).

Die Multilevel-Selektion will die neodarwinistische Theorie, nach der nur das Individuum (oder nur das Gen bei Richard Dawkins) Objekt der Selektion ist, durch eine übergreifende Theorie ersetzen.[5]

Nach dem Modell der Multilevel-Selektion wirken die Selektionskräfte sowohl unterhalb des Individual-Levels (Organe, Zellen, Gene) als auch oberhalb (Gruppe, Population) – gegebenenfalls sogar simultan[6]. In Gruppen kann ein einzelnes Individuum die anderen nicht dominieren. Ein Verhalten, von dem ein Einzelner auf Kosten anderer profitiert, kann schnell entdeckt und bestraft werden. Dieser soziale Kontrollmechanismus, mit niedrigen Kosten für den oder die Bestrafenden wird durch die experimentelle Spieltheorie bestätigt. Sie zeigt die Bedeutung der sozialen Kontrolle um die Kooperationsbereitschaft in Gruppen wiederherzustellen.

Sicht auf Individuum kann kein Sozialverhalten erklären

Als Ausgangspunkt des ökonomischen Denkansatzes setzen Ökonomen am Individuum an. Ökonomen führen das Handeln sozialer Gruppen auf die Ziele, Einstellungen und das Verhalten von Individuen zurück (methodologischer Individualismus[7]). Soziale Gebilde besitzen keine eigene, dem Individuellen vorgelagerte Wesenheit.[8] Verhalten von Gruppen werden danach durch das Verhalten der Mitglieder erklärt. Aber eine individuums-zentrische Sicht reicht nicht aus, um Sozialverhalten zu erklären. Die Welt lässt sich nicht verstehen, wenn man ein Problem verstehen will, indem man nur seine Bestandteile untersucht.[9]

“Der Hauptantrieb für diesen Gedanken,” so Nils Cordes im Science Blog, “entstand aus dem Wunsch, Altruismus zu erklären. Laut Wilson kann altruistische Verhaltensweise in der Gruppe nur evolutionär stabil sein, wenn der Selektionsdruck, der auf die Gruppe wirkt, stärker ist als der, der auf das Individuum wirkt. Die Individuen haben das Interesse, ihren eigenen Erfolg zu maximieren, aber sie können durch dieses egoistische Verhalten den Erfolg der Gruppe gefährden. Sozialverhalten kann vor diesem Hintergrund nur entstehen, wenn das „Wohl der Gruppe” größeren Wert für das Überleben der Individuen hat, als das Wohl des Individuums.”[10]

So erläutern Wilson und Wilson die Multilevel-Selektion

Die Basis des Konzepts, so Edward O. Wilson und David Sloan Wilson[11] in einem gemeinsamen Text, habe schon Charles Darwin gelegt:

“In seinem Buch »Die Abstammung des Menschen« schreibt er, innerhalb der eigenen Horde seien anständige Menschen gegenüber unredlichen nicht erkennbar im Vorteil. Allerdings würden Horden aus anständigen Mitgliedern andere Gruppen klar übertrumpfen, »und das wäre natürliche Selektion«. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts haben andere Evolutionsfor­scher diese Idee ausgebaut, und die Popula­tionsgenetiker haben sie damals auch mathe­matisch untermauert. Leider kannten in jener Zeit viele Biologen diese neuen Arbeiten nicht, so dass oft eine naive Sicht der Gruppenselek­tion die Oberhand gewann.”[12]

Wilson und Wilson schreiben, dass in der Evolution des Menschen die Selektion auf gemeinschaftliches Handeln schon früh eingesetzt hat. “Menschenkinder weisen oft von sich aus auf Dinge, nur um sie jemandem zu zeigen. Das tun Schimpansen nie. Symbolisches Denken, Sprache und Informationsweitergabe stellen grundlegende Gemeinschaftsaktivitäten dar, die vertrauenswürdige Sozialpartner voraussetzen. Zweifellos gibt es auch in diesen Verbänden Ausbeutung, Betrug und Ausnutzung anderer. Doch höchst bemerkenswert erscheint, wie stark alles Derartige von den anderen kontrolliert wird. Dass wir Selbstsucht schnell als höchst bedrohlich empfinden, mag auch auf dem uns innewohnenden Bestreben beruhen, solche Erscheinungen zu unterdrücken. Wir agieren da wie ein aufmerksames Immunsystem. … Gemeinsames Handeln half unseren Vorfah­ren, sich zu verbreiten und andere Menschen­arten zu verdrängen.[13]

Die Multilevel-Selektion schließt den bis dahin verbreiteten Ansatz der Selektion auf der Ebene der Gene sowie die Selektion auf Ebene der Individuen ein und stellt sie als gleichberechtigte Elemente neben die Gruppenselektion.

“In diesem Modell bleiben die Gene die “Datenträger”, über die sich Eigenschaften von Generation zu Generation übertragen. Individuen und Gruppen sind die Vehikel dieser Gene, durch die jene miteinander in Wechselwirkung treten können. Die Wechselwirkung zwischen Individuen wäre die natürliche Selektion, wie sie von Darwin beschrieben wurde. Die Wechselwirkung zwischen Gruppen wäre genau genommen eine Form von Konkurrenz.[14]

“Die Individualselektion basiert auf Konkurrenz und Kooperation zwischen Mitgliedern derselben Gruppe, und die Gruppenselektion ergibt sich aus Konkurrenz und Kooperation zwischen Gruppen. Zu Gruppenselektion kann es bei Gewaltkonflikten kommen oder beim Wettbewerb um die Erschließung und Nutzung neuer Ressourcen.”[15]

Edward O. Wilson und David Sloan Wilson erläutern in einem Aufsatz für Spektrum der Wissenschaft:

“Beim Konzept der Selektion auf Individualebene zählt der Fortpflanzungserfolg von Einzelnen im Vergleich zueinander, ihre sogenannte – relative – Fitness. Doch eine Auslese auf Gruppenebene kann dem Einzelnen Nachteile im Verhältnis zu anderen bringen. Zwar könnten auch umsichtige Herdenmitglieder davon profitieren, dass sie Futterressourcen schonen – doch noch mehr würden die Egoisten der Herde gewinnen. Deren Fitness würde also durch die Zurückhaltung der anderen wachsen. Wieso gibt es dann in der Population überhaupt noch umsichtige Mitglieder? Wir sagen: offenbar wegen des Fitnessunterschieds auf einer höheren Ebene. Als Ganzes haben Gruppen aus redlichen Individuen eine höhere Fitness als Gruppen aus Gaunern.”[16]

Wilson und Wilson verdeutlichen die hierarchischen Selektions­ und Evolutionsstufen mit folgender Abbildung:

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Quelle der Abbildung: Spektrum der Wissenschaft[17]

Wichtig ist, dass die drei Selektionsebenen untereinander in Wechselbeziehungen stehen, aber jede andere Anpassungen begünstigt.

Edward O. Wilson betont, dass die Evolutionsdynamik des Menschen sowohl von der individuellen als auch von der Gruppenselektion angetrieben wird. Den an mehreren Ebenen angreifenden Prozess antizipierte nach Wilson bereits Darwin in seiner “Abstammung des Menschen”.[18]

Wilson fasst den Selektionsmechanismus noch einmal an anderer Stelle zusammen:

“Angriffspunkt der Selektion ist das Gen (genauer gesagt: die Allele, also verschiedene Varianten desselben Gens). Ziel der natürlichen Selektion ist das Merkmal, zu dessen Ausprägung das Gen führt. Das Merkmal kann sich auf das Individuum beziehen und in der Konkurrenz zu anderen Individuen innerhalb oder außerhalb der Gruppe selektiert werden. Ebenso kann es sich auch auf die Interaktion mit anderen Gruppenmitgliedern beziehen (etwa auf Kommunikation und Kooperation) und in der Konkurrenz zwischen Gruppen selektiert werden. Eine Gruppe nichtkooperierender, wenig kommunizierender Individuen wird ihren besser organisierten Konkurrenten im Konfliktfall sicher unterliegen. Die Gene der Verlierer werden im Lauf der Generationen seltener.[19]

Das Individual- und Gruppenselektion lässt sich an den Einzelheiten des menschlichen Sozialverhaltens klar festmachen. Wilson schreibt:

“Wir interessieren uns ausnehmend für Details im Verhalten unserer Mitmenschen. … Unser Geist ist eine kaleidoskopisch schillernde Landkarte der anderen Gruppenmitglieder und einiger Individuen außerhalb der Gruppe, von denen wir jedes Einzelne nach Vertrauen, Liebe, Hass, Misstrauen, Bewunderung, Neid und Soziabilität emotional bewerten. Instinktiv wollen wir Gruppen angehören oder sie nach unseren Bedürfnissen neu gründen – ineinander verschachtelt, einander überlappend oder separat, und in jeder Größe von winzig bis riesig. Fast alle Gruppen konkurrieren in irgendeiner Weise mit vergleichbaren Gruppen. Zwar drücken wir es freundlich aus, aber wir neigen immer dazu, unsere eigene Gruppe als überlegen zu empfinden, und unsere persönliche Identität definieren wir über die Gruppenzugehörigkeit. Konkurrenz bis hin zum kriegerischen Konflikt kennzeichnet Gesellschaften, soweit die Archäologie sie in die prähistorische Zeit zurückverfolgen kann.”[20]

In Edward O. Wilsons Ansatz spielen daneben die epigenetischen Regeln eine wichtige Rolle. Der Begriff Epigenetik definiert vererbbare chemische Veränderungen des Genoms, die durch Umwelteinflüsse ohne Veränderung der kodierenden DNS-Sequenz ausgelöst werden.[21] Dazu in einem späteren Abschnitt mehr.

Menschen als Heilige und Sünder

Wilson und andere machen sich übrigens keine Illusion über ein normatives Idealbild des Menschen. Er beschreibt die menschliche Realität wie sie ist:

“Wir alle sind genetische Chimären, Heilige und Sünder in einem, Ehrlichkeitsweltmeister und Scheinheilige zugleich – nicht weil die Menschheit irgendein vorbestimmtes religiöses oder ideologisches Ideal verpasst hat, sondern wegen der Entwicklung, die unsere Spezies über Millionen Jahre der biologischen Evolution genommen hat.”[22]

Er sagt damit nicht, dass Menschen nur triebgesteuert sind wie Tiere. “Um aber das Menschsein zu begreifen, müssen wir wahrhaben, dass wir Instinkte besitzen … Um die wahre Geschichte des Menschen zu erzählen, muss die Geschichtswissenschaft sowohl den biologischen und als auch den kulturellen Teil umfassen. In der Biologie selbst liegt des Rätsels Lösung in der Kraft, die das vormenschliche Sozialverhalten auf die menschliche Ebene anhob. Dem derzeitigen Wissensstand zufolge ist diese Kraft wahrscheinlich die Multilevel-Selektion, über die erbliches Sozialverhalten die Konkurrenzfähigkeit nicht nur des Individuums innerhalb einer Gruppe stärkt, sondern auch die von ganzen Gruppen.[23]

Ich nähere mich den Gedanken mit aller Vorsicht und in dem Bewusstsein, dass ich kein Fachmann für biologische Evolutionsfragen bin. Ich glaube aber nicht, dass man zunächst ein paar Semester Evolutionsbiologie studiert haben muss, um die Ansätze zu verstehen.[24] Faszinierend an dem Ansatz ist, dass neurobiologische Erkenntnisse die Verbindung zwischen den Ebenen Gen, Individuum und Gruppe fundieren. Ich komme darauf in einem späteren Beitrag zurück.

Weil die Multilevel-Selektion zum Kern dieser Beitragsreihe gehört, werde ich sie in den folgenden Beiträgen vertiefen.


[1] Vgl. Gespräch zwischen David Sloan Wilson and Robert Frank, The True Father of Economics Is Not Who You Think It Is, aufgezeichnet für Evonomics am 20.8.2015, veröffentlicht am 9.10.2015

[2] David Sloan Wilson und Mark Van Vugt, Multilevel Selection Theory and Major Evoltionary Transitions: Implication for Psychological Science, Working Paper 2010, S. 6 f.

[3] Als ein weiterer wissenschaftlicher Meilenstein kann nämlich auch der Aufsatz “The evolution of eusociality” von Martin A. Nowak, Corina E. Tarnita und Edward O. Wilson in Nature, Ausgabe 466 v. 26.8.2010, S. 1057 ff. angesehen werden. Siehe dazu o.V., Altruismus erstmals mittels natürlicher Selektion erklärt, in: Der Standard v. 25.8.2010. Siehe außerdem Martin A. Nowak, Kooperative Intelligenz: Das Erfolgsgeheimnis der Evolution, Kindle Edition, 2013, Pos. 1675 ff.

[4] Hier sei schon einmal darauf hingewiesen, dass es nicht nur um die Gene geht, sondern auch um bestimmte Varianten desselben Gens, Allele genannt, sowie um epigenetische Faktoren, über die auch kulturelle Elemente in das Modell integriert werden. Dazu in einem späteren Beitrag mehr.

[5] Hier tobt unter Evolutionsbiologie noch eine heftige Auseinandersetzung. Vgl. dazu S. Pinker (2012), The False Allure of Group Selection, und David S. Wilson, Clash of Paradigms: Why Proponents of Multilevel Selection Theory and Inclusive Fitness Theory Sometimes (But Not Always) Misunderstand Each Other, Evolution Institute.

[6] Vgl. Wikipedia, Multilevel-Selektion

[7] Vergleiche dazu ausführlicher: Dirk Elsner, Methodologischer Individualismus, Blick Log am 13.9.2008.

[8] Dirk Loerwald/ Andreas Zoerner, Methodologischer Individualismus und homo oeconomicus als Grundlage sozialwissenschaftlicher Forschung, Präsentation WS 03/04 Uni Münster.

[9] Eigentlich müsste ich hier jetzt einen Exkurs zur Emergenz einfügen. David Brooks erklärt dazu: “Emergente Systeme liegen vor, wenn verschiedene Elemente Zusammenkommen und ein Ganzes bilden, das größer ist als die Summe seiner Teile. Öder, um es anders auszudrücken, die Bestandteile eines Systems beeinflussen sich gegenseitig und aus ihrer Interaktion geht etwas völlig Neues hervor.” Davids Brooks, Das soziale Tier, 2012, Pos. 2539.

[10] Nils Cordes,Was ist eigentlich … Gruppenselektion?, ScienceBlogs am 16.09.2010.

[11] Die beiden Wilsons sind übrigens nicht miteinander verwandt. Beide sind Evolutionsbiologen. D. S. Wilson hat an der Binghamton University in New York eine Professur für Biologie und Anthropologie inne. E. O. Wilson ist als Ameisenforscher berühmt. Am Museum of Comparative Zoology der Harvard Uuniversity in Cambridge (Massachusetts) war er Professor und Kurator für Entomologie. Vgl. Spektrum der Wissenschaft (1/2009), S. 41.

[12] David Sloan Wilson u. Edward O. Wilson, “Evolution – Gruppe oder Individuum?” in: Spektrum der Wissenschaft(1/2009), S. 34

[13] David Sloan Wilson u. Edward O. Wilson, “Evolution – Gruppe oder Individuum?” in: Spektrum der Wissenschaft (1/2009), S. 41

[14] Bernhart Ruso, Evolution der Kooperation – Multilevel Selektion am Beispiel Biene und Mensch, in: Über das Entstehen und die Endlichkeit physischer Prozesse, biologischer Arten und menschlicher Kulturen, Hartmut Heller (Hrsg.), Münster 2010, S. 44 f.

[15] Edward O. Wilson, Der Sinn des menschlichen Lebens, 1. Aufl. 2015, Kindle Edition, Pos. 186.

[16] David Sloan Wilson u. Edward O. Wilson, “Evolution – Gruppe oder Individuum?” in: Spektrum der Wissenschaft(1/2009), S. 33

[17] David Sloan Wilson u. Edward O. Wilson, “Evolution – Gruppe oder Individuum?” in: Spektrum der Wissenschaft (1/2009), S. 34

[18] Edward O. Wilson, “Die soziale Eroberung der Erde: Eine biologische Geschichte des Menschen”. Position 795.

[19] Edward O. Wilson, Der Sinn des menschlichen Lebens, 1. Aufl. 2015, Kindle Edition, Pos. 246.

[20] Edward O. Wilson, Der Sinn des menschlichen Lebens, 1. Aufl. 2015, Kindle Edition, Pos. 197.

[21] Volker Herzog, Epigenetik: Wie erworbene Eigenschaften vererbt werden können, SciLogs am 12.03.2011

[22] Edward O. Wilson, Der Sinn des menschlichen Lebens, 1. Aufl. 2015, Kindle Edition, Pos. 233.

[23] Edward O. Wilson, Der Sinn des menschlichen Lebens, 1. Aufl. 2015, Kindle Edition, Pos. 233 f.

[24] Eine “Kleine Ideengeschichte der Evolutionsbiologie” bietet dieses Paper ohne Verfasserangabe. Einführungen findet man außerdem etwa in Eckart Voland, Sozialbiologie, 4. Auflage 2013.

Peter Mersch Januar 29, 2016 um 15:23 Uhr

Die Multilevel-Selektion findet bei praktisch allen Vertretern der Inclusive Fitness Theory keine Zustimmung, und diese stellen beim Themenbereich „biologischer Altruismus“ noch immer die überwältigende Mehrheit der Biologen. Ein Problem in diesem Zusammenhang ist, dass sowohl die Inclusive Fitness Theorie als auch die Multilevel-Selektion biologischen Altruismus als genetisches Merkmal verstehen und dafür Modelle entwickelt haben. Tatsächlich kann die Multilevel-Selektion zeigen, dass unter ganz bestimmten (sehr eingeschränkten) Bedingungen der Anteil der (genetischen) Altruisten in der Gesamtpopulation (der Summe aller betrachteten Gruppen) von einer zur nächsten Generation ansteigen kann, allerdings nur 1x. Man hat sich in diesem Zusammenhang verschiedene Strategien überlegt (Tochtergruppen, ständiges Mischen der Gruppen etc.), mit denen vielleicht ein Wiederholungserfolg, d.h. ein weiterer Anstieg des Altruistenanteils möglich wird (siehe etwa Sean H. Rice: Evolutionary Theory, S. 300f.). Ich finde dies alles jedoch wenig überzeugend, viele andere ebenso. So heißt es etwa im mittlerweile sehr etablierten deutschsprachigen Lehrbuch „Evolution“ von Jan Zrzavý et al. auf S. 88 (der einzigen Erwähnung der MLS im gesamten Buch) zur MLS: „Unter bestimmten Bedingungen können die Vorteile der Zusammenarbeit das Risiko der Instabilität überwiegen. Dies ändert aber nichts daran, dass sich der Altruismus nur dann in der Population halten kann, wenn er sich als langfristig nachhaltig und damit evolutionär stabil erweist. Jede Theorie des Altruismus muss also vor allem erklären, worin der Überlebenstrick besteht.“ Diese Autoren gehören somit ebenfalls zu den Kritikern.
Und selbst in „Unto Others“ von Wilson/Sober liest man auf S. 24: „As a result, altruists increase in frequency in the global population of 2.400 offspring. Adding the progeny from the two groups is biologically justified only if the groups periodically merge and re-form or otherwise compete in the formation of new groups.“

Unabhängig davon ist es so, dass die überwiegenden Fälle von biologischem Altruismus in der Natur überhaupt keine genetische Basis besitzen. Arbeiterinnen in Bienensozialstaaten z. B. werden zu Altruisten gefüttert (weniger Gelée Royal). Sie werden aus dem gleichen genetischen Material produziert wie die nächste Königinnengeneration. Unter solchen Voraussetzungen benötigt man die verschiedenen genetischen Altruismustheorien jedoch nicht mehr.

Für menschliche Gesellschaften dürfte das umso mehr gelten. Zwar kenne ich auch Menschen, die von Natur aus eher Nehmer als Geber zu sein scheinen und andere, bei denen es wohl genau umgekehrt ist, aber in der überwiegenden Mehrheit der Fälle wird die Art und Ausprägung des sozialen Altruismus eher durch die angenommene Rolle bestimmt. Hinzu kommt, dass das dominierende Merkmal menschlicher Gesellschaft die Arbeitsteilung (ich nenne sie präziser: Kompetenzteilung) ist. In der Natur ist sie kaum anzutreffen. Selbst Bienensozialstaaten sind strenggenommen zwar arbeitsteilig, nicht aber kompetenzteilig organisiert. Die ökonomische Vorteilhaftigkeit von Arbeits- und Kompetenzteilung lässt sich prächtig mittels Ricardos Theorem begründen. In meinem Buch zeige ich u. a., dass sich Ricardos Theorem unmittelbar evolutionstheoretisch herleiten lässt (und zwar in einer viel allgemeineren Form, als man sie in den ökonomischen Lehrbüchern vorfindet). Man kann sogar die Vorteilhaftigkeit der Arbeitsteilung in Bienensozialstaaten (zwischen Arbeiterinnen und Königinnen) trefflich mit Ricardos Theorem begründen. Der deutsch-australische Biologe Prof. Klaus Rohde und ich haben dazu eine wiss. Arbeit eingereicht. Deshalb meine Frage: Warum ist die Arbeitsteilung in all den modernen Arbeiten zur Evolutionsökonomik überhaupt kein Thema? So wird sie z. B. in Eric D. Beinhockers „Die Entstehung des Wohlstands“ praktisch nur beiläufig „erwähnt“. Liegt es daran, dass man unter den Evolutionsökonomen primär biologisch denkt (das Thema Kompetenzteilung spielt in der Natur aber praktisch keine Rolle)?

Die Triftigkeit der Argumentation in der von Ihnen verlinkten Arbeit von Natalia Zinovyeva leuchtet mir nicht ein. Die Systemische Evolutionstheorie kennt als Akteure u.a. normale Organismen (z. B. Menschen) und Superorganismen (Insektensozialstaaten, Unternehmen etc.). Wenn Sie so wollen, dann haben Sie damit automatisch ein Multilevel-Selektionskonzept. Doch was wäre z. B. ein altruistisches Unternehmen? Wie wollte man die Voraussetzungen der MLS auf dieser Gruppenebene erklären. Die Autorin versucht u. a. mühsam zu erklären, wie sich Gruppen aufbauen und stabil halten, z. B. mittels Institutionen. Wie sich also so etwas wie ein Unternehmen bildet.

Spätestens an diesem Punkt steige ich meist aus. Die gesamte Evolutionsforschung ignoriert, dass es zwischen menschlichen Gesellschaften und Zivilisationen einen entscheidenden Unterschied gibt, nämlich in Hinblick auf die Akzeptanz von Verfügungsrechten. In der Wildnis sind praktisch alle Ressourcen Gemeingüter, in menschlichen Gesellschaften sind sie es praktisch nie. Nur bei den Gemeingütern kann es dort auch zur sog. Tragic of the Commons kommen. In meinen Büchern mache ich seit vielen Jahren auf diesem Punkt aufmerksam. Ich unterscheide zwischen dem „Recht des Stärkeren“ in der Wildnis (alle Ressourcen sind Commons) und dem „Recht des Besitzenden“, bei denen der aktuelle Besitzer der Ressource (der die Verfügungsrechte daran besitzt) darüber entscheidet, wer unter welchen Bedingungen Zugang zur Ressource erhält. Da der eigene Körper ebenfalls eine Ressource ist (die z. B. ein Raubtier verspeisen möchte), leiten sich daraus u. a. auch die sogenannten Menschenrechte ab. Erstmalig entstanden ist das Recht des Besitzenden im Laufe der Evolution bei der sog. Damenwahl (insbesondere bei vielen Vogelarten): Dort bestimmen die Weibchen, welches Männchen Zugang zu ihren Fortpflanzungsressourcen erhält. Mancher Kulturunterschied zwischen menschlichen Gesellschaften gründet auf genau diesem Punkt: Bei uns gilt die Gleichberechtigung der Geschlechter, Sklaverei ist verboten etc., d. h. es gilt bei all dem das Recht des Besitzenden, in anderen Kulturen können dagegen Frauen noch immer zwangsverheiratet werden und Sklaverei gibt es auf der Erde stellenweise ebenfalls noch. Dort besteht bestenfalls eine Vorstufe zur Zivilisation.

Für mich ist das Recht des Besitzenden (die Respektierung von Verfügungsrechten an Ressourcen) gewissermaßen die Mutter aller Institutionen. Aus ihr leiten sich alle weiteren Institutionen ab. In den biblischen 10 Geboten geht es praktisch um nichts anderes.

In der in wenigen Monaten erscheinenden 5. Auflage meines Buches werde ich noch etwas intensiver auf das Thema eingehen und insbesondere einen stärkeren Bezug zur Neuen Institutionenökonomik herstellen. Schon 1937 zeigte Ronald Coase auf, dass Firmen deshalb existieren, weil auf Märkten nichtvernachlässigbare Transaktionskosten bestehen. Märkte gründen aber auf dem Recht des Besitzenden: Beide Seiten besitzen die Verfügungsrechte an ihren Ressourcen (z. B. Ware und Geld). Also muss man handeln, um zu einer Transaktion zu kommen. In Unternehmen sind Mitarbeiter jedoch weisungsgebunden (Dominanz, Recht des Stärkeren). Ein Unternehmen kann seine Mitarbeiter unmittelbar anweisen, eine ganz bestimmte Aufgabe zu erledigen (im Rahmen der Gesetze natürlich). Die Bundesregierung kann das gegenüber den Bürgern dagegen nur äußerst eingeschränkt (bekannteste Ausnahmen: Wehrpflicht, Kriegsmobilisierung, Notstandsgesetze). Sie kann ihre Bürger jedoch z. B. nicht „anweisen“, ein paar Kinder in die Welt zu setzen, weil wir aktuell ein demographisches Problem besitzen. Sie kann höchstens Anreize setzen (z. B. mehr Geld bieten, für eine bessere Vereinbarkeit sorgen etc.). Die Entscheidung bleibt weiterhin beim Ressourcenbesitzer („mein Bauch gehört mir“). Das ist das Recht des Besitzenden.

Ich frage mich zunehmend, was das für eine evolutorische Ökonomie sein soll, wenn sie überwiegend von Personen bestimmt wird, die einen biologischen Hintergrund besitzen und sich in ökonomischen Fragestellungen überhaupt nicht auskennen. Wildnis und menschliche Zivilisationen sind überhaupt nicht miteinander vergleichbar. Aus diesem Grund ist die Darwinsche Evolutionstheorie mit ihrer natürlichen Selektion auch überhaupt nicht auf menschliche Gesellschaften anwendbar. Der Sozialdarwinismus scheiterte genau an den Punkt. Wer annimmt, er könne wie die Konquistadoren über irgendein Land herfallen und die Menschen versklaven oder behinderte Menschen zwangssterilisieren, weil all das sei Survival of the Fittest im Sinne der biologischen Evolutionstheorie, hat den entscheidenden Unterschied zwischen Wildnis und Zivilisation nicht verstanden: das Recht des Stärkeren versus das Recht des Besitzenden.

Fazit: Ich kann weiterhin nicht erkennen, dass man sich bei den Evolutionsökonomen (und speziell bei denen, die aus der Biologie kommen) mit realen ökonomischen Problemen in menschlichen Gesellschaften beschäftigt und dabei zu Ergebnissen kommt.

Was ist mit dem Ressourcen- und Kompetenz-basierten Ansatz der modernen Managementliteratur? Er würde wunderbar zur Evolutionstheorie passen.
Was ist mit der Population Ecology of Organizations-Theorie, der in Kieser/Ebers Standardwerk zu den Organisationstheorien als einzigem evolutionstheoretischen Ansatz zur Organisationstheorie überhaupt ein eigenständiges Kapitel gewidmet wird? Die gesamte, in ihrem Buch angeführte Kritik an diesem Ansatz würde sich unter der Systemischen Evolutionstheorie (Unternehmen sind Superorganismen) in Luft auflösen.
Wie erklärt man das demografisch-ökonomische Problem moderner menschlicher Gesellschaften? Bekanntlich haben wir es hier mit einem Phänomen zu tun, das mit Darwins Evolutionstheorie nicht vereinbar ist (es ließe sich insbesondere nicht daraus vorhersagen). Sieht man es überhaupt als ein Problem an, das man untersuchen könnte, oder ist so etwas vielleicht nicht interessant genug? Immerhin geht es dabei doch um Fortpflanzung, d. h. um die eigentliche Basis der biologischen Evolutionstheorie.

Dirk Elsner Januar 31, 2016 um 18:12 Uhr

Erst einmal vielen Dank für den ausgzeichneten und anregenden Kommentar. Mir fehlt hier der biologische Hintergrund, um alle Punkte Ihrer Argumentation sachkundig bewerten zu können. Ich will versuchen, darauf in späteren Beiträgen einzugehen (der nächste ist allerdings schon fertig).

Der mich faszinierende Part an der MLST ist vor allem, dass ihr Ansatz nicht allein in der persönlichen Nutzenmaximierung liegt, wie es die Ökonomen postulieren, sondern dass das Thema Gruppenzugehörigkeit eine sehr große Rolle spielt. Dabei geht es m.E. nicht immer um Altruismus. Mir jedenfalls hilft dieses Gedankengebäude viele Phänomene in der Praxis zu verstehen, an der die Ökonomen scheitern. Ich komme darauf in späteren Beiträgen zurück.

Ansonsten finde ich es überhaupt nicht verkehrt, wenn Biologen sich mit Ökonomie befassen und umgekehrt. Ich glaube, beide Seiten können viel voneinander lernen. Jedenfalls verfolge ich mit großem Interesse die Annäherung im Blog evonomics.com.
Hilfreich finde ich auch
Evolution as a general theoretical framework for economics and public policy von David Sloan Wilson und John M. Gowdy.

Die Heimat meines ökonomischen Denkens ist übrigens bisher die Neue Institutionenökonomie gewesen. Die würde ich auf nicht verwerfen wollen. Allerdings basiert die NIÖ ja ebenfalls auf dem methodologischen Individualismus.

Peter Mersch Januar 26, 2016 um 00:08 Uhr

Inwieweit schlägt die moderne Evolutionstheorie (was immer das sein mag) denn die bisherigen ökonomischen Theorien? Ich kann das nicht erkennen. Dann müssten doch Resultate geliefert werden, ggf. eigenständige Theoreme oder zumindest neue, tiefere Einblicke in vorhandene Problemstellung. Und welchen Beitrag kann ausgerechnet die (äußerst umstrittene) Multi-Level-Selektion dazu beitragen, insbesondere angesichts der Unternehmenswelt?

Dirk Elsner Januar 26, 2016 um 20:18 Uhr

Inwieweit die moderne Evolutionstheorie die bisherigen ökonomischen Theorie schlägt, versuche ich ja gerade in dieser Beitragsreihe zu ergründen. Als Blogger darf ich das aber in so einer Überschrift schon zuspitzen, ich erhebe ja keinen wissenschaftlichen Anspruch.
Gedanken haben sich dazu ja schon viele gemacht, auf die ich in dieser Beitragsreihe zurückgreife, wie z.B.
Multilevel Selection Processes in Economics: Theory and Methods von Natalia Zinovyeva
http://www3.druid.dk/wp/20040008.pdf

Daneben kann ich derzeit nicht erkennen, dass die Multi-Level-Selektion so stark umstritten ist. Außer in Ihrem Buch „Die egoistische Information“ ein wenig und insbesondere von Steven Pinker und Richard Dawkins habe ich bisher noch zu wenig Kritik gefunden, freue mich aber auf weitere Hinweise. Ich werde mich in einem späteren Beitrag noch mit der Frage „Hat sich die Multilevel-Selektion etabliert?“, suche dazu aber noch nach Literatur. Auf die Kritik haben ja insbesondere reagiert:
Jason Collins: What is multilevel selection?
Peter Turchin: Steven Pinker on “The False Allure of Group Selection”
David Sloan Wilson: Clash of Paradigms: Why Proponents of Multilevel Selection Theory and Inclusive Fitness Theory Sometimes (But Not Always) Misunderstand Each Other
David Sloan Wilson: Richard Dawkins, Edward O. Wilson, And The Consensus Of The Many
David Sloan Wilson: Challenge To Kin Selectionists. Explain This
Peter Turchin: Multilevel Selection is a Productive Theoretical Framework for Investigating Human History

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