Moderne Evolutionstheorie schlägt Ökonomie (07): Multilevel-Selektion tiefer gebohrt

by Dirk Elsner on 1. Februar 2016

“Zur Natur des Menschen gehören Motive wie Raublust, Herrschaftstrieb und Rache, die uns zu Gewalt drängen, aber auch Motive, die uns – unter den richtigen Voraussetzungen – zu Frieden veranlassen, wie Mitgefühl, Gerechtigkeitsgefühl, Selbstbeherrschung und Vernunft.”[1]

Norbert Häring hat in einem Beitrag beispielhaft den Menschentypus skizziert, den die Ökonomik als ideal ansieht. “Kühl berechnend, rational, egoistisch und bis zum Autismus egozentrisch.” Und in der Tat gibt es zahlreiche Belege dafür, dass sich viele Menschen diesem Bild annähern, nur längst nicht alle. Und die interessante Frage ist, ob die Menschheit sich tatsächlich so entwickelt hätte, wenn alle dem Vorbild des Homo Oeconomicus gefolgt wären. Häring schreibt: “[D]er Homo Oeconomicus kann mit Kategorien wie Ehre, Pflichterfüllung und gemeinsamer Verantwortung nichts anfangen.”[2]

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Pearl Harbor (USA): Individuum oder Gruppen von Individuen?

Nach der Vorarbeit in den bisherigen sechs Teilen dieser Reihe und einen ersten Einblick in die Multilevel-Selektion, will ich diese moderne Erweiterung der Evolutionstheorie hier tiefer aufbohren[3], weil sie nach meiner Einschätzung eine höhere Erklärungskraft auch für ökonomische Zusammenhänge bieten kann als ökonomische Modelle.

Bisher erschienen in dieser Reihe “Moderne Evolutionstheorie schlägt Ökonomie

  1. Prolog
  2. Wilsons Buch “Die soziale Eroberung der Erde”
  3. Exkurs Evolutionsforschung
  4. Fehlinterpretation der Formel “Survival of the fittest”
  5. Gruppenselektion und Multilevel-Selektion
  6. Annäherung an die Multilevel-Selektion

Ich hatte bereits im letzten Beitrag darauf hingewiesen, dass das Konzept der Multilevel-Selektion gegen die Dominanz des methodologischen Individualismus steht, wie in der Ökonomie, der Soziologie und der Psychologie.[4] Das Modell der Multilevel-Selektion betrachtet nicht nur das Individuum, sondern ebenfalls die Gruppen, in denen sich Individuen bewegen. Sie besagt, dass es zu unserem “Programm” als Menschen gehört, zu Gruppen gehören zu wollen.

Kooperation und Altruismus

Wie im vorhergehende Beitrag geschrieben, bereitete Charles Darwin der Altruismus Kopfzerbrechen. “Denn ein Mensch, ein „Wilder“, wie Darwin schrieb, der seine Interessen der Allgemeinheit unterordnete, riskierte schwere Nachteile. Er würde sich für andere opfern und selbst keine Nachkommen haben. Als Mitspieler auf der großen Bühne des Lebens hätte er verloren.”[5] Eckart Voland schreibt in seinem Buch “Sozialbiologie”

“Eine der zum Verständnis tierlichen und menschlichen Verhaltens wichtigsten und nachhaltigsten Erkenntnisse der Soziobiologie liegt in der Einsicht, dass reproduktive Konkurrenz keineswegs immer in offenem Wettbewerb zutage treten muss, sondern sich stattdessen auch in kooperativen, ja unter Umständen sogar in sogenannten altruistischen Verhaltensweisen (also solchen, die mit persönlichen Fitnesseinbußen verbunden sind, aber anderen Individuen der Population nützen) ausdrücken kann. Darwin selbst sah hierin ein nicht unerhebliches Problem, denn er konnte nicht verstehen, wieso die natürliche Selektion offensichtlich nicht konsequent gegen altruistische Verhaltenstendenzen wirkt. Die biologische Funktionslogik von Kooperation und Altruismus ist bis in die Gegenwart ein wesentlicher Fokus evolutionärer Theoriebildung geblieben, wobei sich eine Unterscheidung zwischen verschiedenen evolutionären Szenarien mit jeweils unterschiedlichen Rahmenbedingungen zum Verständnis von Kooperation und Altruismus als nützlich erwiesen hat. Im Einzelnen unterscheidet man:”[6]

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Tabelle: Evolutionäre Funktionslogik von Kooperation und Altruismus (Quelle: Eckart Voland[7])

Martin Novak betont, dass das Konzept der Gruppenselektion keine Annahmen darüber enthält, ob sich Individuen kooperativ oder egoistisch verhalten, ganz zu schweigen davon, ob Gene an sich wirklich eigennützig sind. “Es besagt lediglich, dass ein intensiver Konkurrenzkampf zwischen Gruppen die Entstehung von Mechanismen begünstigt, durch welche die Trennlinie zwischen dem Wohl der Gruppe und dem des Individuums verschwimmt, wenn diese die Lebenstauglichkeit oder Anpassung auf der Ebene der Gruppe verbessern.”[8]

Auch wenn sich das manch einer wünschen mag, die Multilevel-Selektion fordert normativ nicht altruistisches Verhalten und stellt nicht ausschließlich die Kooperation in den Vordergrund:

“Damit Gruppenselektion stattfindet, bedarf es des Konkurrenzkampfes zwischen Gruppen sowie eines gewissen Maßes an Zusammenhalt innerhalb der jeweiligen Gruppe.

Gruppen sind, je nachdem, wie hoch der Anteil der Altruisten unter ihnen ist, an ihre Umgebung unterschiedlich gut angepasst. Wenn sich 80 Prozent altruistisch verhalten, behauptet sich die Gruppe besser als eine, unter denen nur 20 Prozent Altruisten leben. Während die Selektion innerhalb der Gruppe egoistisches Verhalten fördert, behaupten sich Gruppen mit zahlreichen Altruisten nach außen erfolgreicher. In welchem Maß die Gruppenselektion wirkt, hängt natürlich von wichtigen Umständen wie der Migration und dem Zusammenhalt innerhalb der Gruppe ab. Unter diesem Vorbehalt kann die natürliche Auslese tatsächlich auf mehreren Ebenen wirken, von der Ebene der Gene über die der Gruppen aus verwandten Individuen bis hin zu Arten und wohl auch darüber hinaus.”[9]

Selektionskräfte auch auf kultureller Ebene

Das Konzept der Multilevel-Selektion besagt, “dass Selektionskräfte auf verschiedenen Ebenen wirken können. Gruppeneigenschaften, die den Einzelnen gegenüber Gruppengenossen durchaus benachteiligen können, bilden sich unter Umständen heraus, wenn die Gemeinschaft als Ganzes dadurch gegenüber anderen Gruppen Vorteile hat. Dieser Mechanismus dürfte auch in der menschlichen Evolution wichtig gewesen sein.”[10]

Nach Wilson besteht die Multilevel-Selektion “in der Wechselwirkung zwischen Selektionskräften, von denen die einen an Merkmalen individueller Gruppenmitglieder angreifen und die anderen an Merkmalen der Gruppe als Ganzem. Die neue Theorie soll die traditionelle Theorie ersetzen, die auf dem Verwandtschaftsgrad oder einem vergleichbaren genetischen Bezugswert beruht.”[11]

Martin Novak betont, dass die Multilevel-Selektion “auf der Ebene der DNS und der Gene, aber auch auf kultureller Ebene wirkt. Betrachten wir die Rivalität zwischen benachbarten Stämmen oder Staaten, müssen wir neben den genetischen auch die kulturellen Verhältnisse berücksichtigen, um zu verstehen, warum Loyalität zu einem Stamm, einer Kirche oder einem Stadtteil über die zur eigenen Familie oder über nacktes Eigeninteresse obsiegen kann. Mit anderen Worten: Wir müssen ein Modell für die «Koevolution» von Kultur und Genen entwickeln.”[12]

Nach Edward Wilson wird die genetische Fitness jedes Mitglieds, die Anzahl seiner reproduktionsfähigen Nachkommen von den Kosten und dem Nutzen seiner Gruppenmitgliedschaft festgelegt. “Dazu zählen die Gunst oder Missgunst, die es aufgrund seines Verhaltens bei den anderen Gruppenmitgliedern erntet. Die Währung Gunst wird direkt und indirekt reziprok ausbezahlt, Letzteres in Form von gutem Ruf und Vertrauen. Wie leistungsfähig eine Gruppe ist, hängt davon ab, wie gut ihre Mitglieder zusammenarbeiten, und nicht davon, inwieweit jeder Einzelne innerhalb der Gruppe individuell begünstigt oder benachteiligt wird.”[13]

Die genetische Fitness eines Menschen müsse daher eine Folge sowohl der individuellen als auch der Gruppenselektion sein. Das gelte aber nur in Bezug zu den Zielen der Selektion. “Egal, ob die Ziele Merkmale des Individuums sind, das im eigenen Interesse arbeitet, oder interaktive Merkmale zwischen Gruppenmitgliedern im Interesse der Gruppe: Wirklich beeinflusst wird letztlich der gesamte genetische Code des Individuums. Sinkt der Nutzen der Gruppenmitgliedschaft unter den eines Lebens als Einzelgänger, so wird die Selektion beim Individuum das Verlassen der Gruppe oder den Verrat fördern. Schreitet das weit genug voran, so löst sich die Gesellschaft irgendwann auf. Steigt dagegen der persönliche Nutzen der Gruppenmitgliedschaft weit genug an oder können egoistische Anführer die Kolonie ihren eigenen Interessen ausreichend unterwerfen, so neigen die Mitglieder zu Altruismus und Konformität. Da aber alle normalen Mitglieder immerhin über die Reproduktionsfähigkeit verfügen, besteht in menschlichen Gesellschaften grundsätzlich ein unausweichlicher Konflikt zwischen der natürlichen Selektion auf der Ebene des Individuums und der natürlichen Selektion auf Gruppenebene.”[14]

Worin ich die Besonderheit sehe

Manch einer mag nach der Lektüre sagen, dass dieses Modell doch keine besonderen neuen Erkenntnisse mitbringe[15]. Ich sehe die Besonderheit darin, dass dieser Denkansatz verschiedene voneinander losgelöste Modelle unter einem Dach vereinigen und damit einen praktikablen Erklärungsrahmen für ökonomische Fragestellungen in der Praxis bieten kann. Ob es sich dabei nur um eine Heuristik handelt oder auch wissenschaftlich hält, müssen andere sagen. Ich glaube, selbst das Modell des “homo oeconomicus” wird damit nicht verworfen, es ist aber nur ein Spezialfall menschlichen Verhaltens. Aber dieser Spezialfall entspricht nicht den üblichen Beobachtungen aus der Entwicklung des Menschen.

Im nächsten Teil setze ich die Vertiefung des Modells der Multilevel-Selektion am Evolutionsprozess des Menschen fort.


[1] Steven Pinker, Gewalt: Eine neue Geschichte der Menschheit, 2011, Pos. 13034.

[2] Norbert Häring, “Abwege einer menschenfeindlichen Wissenschaft”, auf norberthaering.de am 9.9.2015.

[3] Es wird dabei einige Redundanzen, die bewusst in Kauf nehme, um mein Verständnis zu festigen.

[4] David Sloan Wilson und Mark Van Vugt, Multilevel Selection Theory and Major Evoltionary Transitions: Implication for Psychological Science, Working Paper 2010, S. 3.

[5] Hartmut Wewetzer, Die selbstlosen Gene, ZEIT Online v. 17.09.2009

[6] Eckart Voland, Sozialbiologie, 4. Auflage 2013, Abschnitt 2.2.2

[7] Eckart Voland, Sozialbiologie, 4. Auflage 2013, Abschnitt 2.2.2. Dort erläutert Voland ausführlich die einzelnen Konzepte.

[8] Martin A. Nowak, Roger Highfield, Kooperative Intelligenz: Das Erfolgsgeheimnis der Evolution, Kindle Edition, Position 1810 f.

[9] Martin A. Nowak, Roger Highfield, Kooperative Intelligenz: Das Erfolgsgeheimnis der Evolution, Kindle Edition, Position 1817.

[10] David Sloan Wilson u. Edward O. Wilson, “Evolution – Gruppe oder Individuum?” in: Spektrum der Wissenschaft (1/2009), S. 34

[11] Edward O. Wilson, “Die soziale Eroberung der Erde: Eine biologische Geschichte des Menschen”, Position 815 ff.

[12] Martin A. Nowak, Roger Highfield, Kooperative Intelligenz: Das Erfolgsgeheimnis der Evolution, Kindle Edition, Position 1826 f.

[13] Edward O. Wilson, “Die soziale Eroberung der Erde: Eine biologische Geschichte des Menschen”, Position 827 ff.

[14] Edward O. Wilson, “Die soziale Eroberung der Erde: Eine biologische Geschichte des Menschen”. Position 827 ff.

[15] Ich möchte an dieser Stelle auf den ausführlichen Kommentar von Peter Mersch hinweisen unter meinen letzten Beitrag.

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