Das stolze Modell Deutschland macht schlechte Stimmung

by Udo Stähler on 27. Mai 2016

oder: Heimatsuche der Mittelschicht, wenn die materielle Basis erodiert

Wir erleben in Europa und USA mit Front National-FPÖ-PVV-AfD, von Heinz-Christian „HC“ Strache und Geert Wilders bis Donald Trump oder Alexander Gauland gebrüllt oder elaboriert vorgeführt ein zielloses Flügelschlagen der unglaubwürdig gewordenen Parteien des politischen Konsenses; die nicht bemerkt haben, dass das Wohlstandsmodell einstürzt, mit dem ihre Wähler wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt verbanden. Und diese Wähler bringen sich vor den Trümmern bei den Rechtspopulisten in Sicherheit. Hat jetzt auch Sigmar Gabriel, assistiert vom Star der Ungehörten, Susanne Neumann, das Modell Deutschland zur Disposition gestellt?

Die Repräsentanten dieses Modell Deutschland, insbesondere die zur Blütezeit dieses Modells wirklich großen Parteien, haben die mit der Finanzkrise offensichtlich gewordene Chance, Wohlstandbildung auf neue Beine zu stellen, verschlafen und mit ihrem politischen Tauschhandeln das Konsensprinzip, eine Stärke dieses Modells, diskreditiert.

Im April 2014 fragte ich, ob das Modell Deutschland verantwortlich sei für die nachlassende Wertschöpfung in Europa:

Vom Rheinischen Kapitalismus über den kranken Mann, dann Dank der Agenda 2010 rasch vom rechten Pfad der globalisierten Deutschland AG zum ungeliebten Musterknaben in Europa. „Jetzt wird in Europa Deutsch gesprochen“, freute sich Volker Kauder. Und die Tribüne warnt vor der Sozialkurve. Wofür steht das Modell Deutschland?

Heute frage ich, ob dieses Modell noch funktioniert? Was wird passieren?

Schauen wir uns dies am Beispiel der Wanderung alter „Gerechtigkeitshungriger“ (Sigmar Gabriel) zum Rechtspopulismus an. Sind diese Wege von der SPD zur AfD Wege aus dem Modell Deutschland, das nicht mehr leistet, was versprochen wurde?

Bis zur Wahl des Landtages in NRW am 14. Mai 2017 können wir beobachten, ob es CDU und SPD gelingt, Glaubwürdigkeit zurückzugewinnen. Der Zeitraum bis zur anschließenden Bundestagswahl im September verspricht vor dem Hintergrund der beeindruckenden Mobilisierung in Österreich zwischen dem 1. und 2. Wahlgang der Bundespräsidentenwahl ein Höchstmaß an Spannung. Ist Österreich „eine kleine Welt, in der die große ihre Probe hält?“ (Friedrich Hebbel). Was ist anders, was ist ähnlich? Ignoranz, Vorurteile und Aberglaube, so Werner A. Perger, prägen die politischen Auseinandersetzungen in den meisten klassischen Demokratien.

Wann sind Rücktritte zu früh, wann zu spät?

Die Debatten zu Verbleib und Verantwortung der politischen Repräsentanten folgen in beiden Ländern dem Perger’schen Prinzip. Die Meldung vom Rücktritt Sigmar Gabriels, „focus“ierter Aberglaube, hat eine Pointe: während Werner Faymann die Augen zumachte, versucht Gabriel zur Lösung beizutragen. Und gerade deshalb ist für mich die SPD die aktivere Partei zur Rettung des ehemals wirtschaftlich und sozial erfolgreichen Modell Deutschland.

Doch laut Sigmar Gabriel ist die SPD existenziell bedroht: „Es ist ein Alarmsignal, dass nur noch 32 Prozent der Wähler der SPD Kompetenz bei der sozialen Gerechtigkeit zutrauen„. Wir erinnern: soziale Gerechtigkeit ist ein Element des Wohlfahrtsversprechens des Modell Deutschland. Während für die CDU das Funktionieren marktwirtschaftlich organisierter Wertschöpfung auf die Frage der ungestörteren Wirkungsmöglichkeit reduziert wird, hat die Sozialdemokratie hier einen Auftrag. Die materielle Basis der Mittelschicht erodiert weiter, wenn strukturpolitisch nicht gehandelt wird.

Hier liegt eine wichtige Parallele zu Österreich. Alte Wähler der SPÖ haben sich der FPÖ zugewandt, weil sie sich von ihren ehemaligen Vertretern verraten fühlen. Susanne Neumann für die Deutschen: „Viele Kollegen fragen sich: Warum soll ich die Partei wählen, die mir das eingebrockt hat?“ Die Wanderungsbewegung ist in beiden Ländern die gleiche; doch ich frage mich, ob in der Mittelschicht mit Statuspanik schon angekommen ist, dass im Parteiprogramm der AfD die ordoliberal gespickten Mittelstandsbürger endlich mal loswerden konnten, was sonst nur noch im Wirtschaftskreis der CDU oder am FDP-Stammtisch goutiert wird.

„Warum bleibt ihr dann bei den Schwatten?“

Damit brachte Susanne Neumann die Zuhörer im Willy-Brandt-Haus zum Jubeln und die Ungehörten auf die Bühne (Talk Show); nachdem Sigmar Gabriel sein Manko bei der Durchsetzung originärer sozialdemokratischer Interessen und die Erfolge etwas matt aufzählte.

Diese Dramaturgie zeigt auch ein Dilemma unseres Politikbetriebes: er liefert nicht, was erwartet wird; genauer: er liefert technokratische Lösungspartikel, aber die Politiker gewinnen die Menschen nicht mehr. Zwischen Politikverdrossenheit und Kinderglaube strahlen nur noch Menschen wie Malu Dreyer, Winfried Kretschmann und Alexander Van der Bellen Glaubwürdigkeit aus und gewinnen Vertrauen; diese Show machte Heinz-Christian „HC“ Strache mit Norbert Hofer als Protagonist. Mit Kinderglauben, Politikverdrossenheit und Hass wird Stimmung gemacht und werden Wahlen gewonnen von Lutz Bachmann bis Beatrix von Storch. Menschen, die verbittert sind oder sich übergangen fühlen, können sich jetzt wieder aufrichten mithilfe eines Kombinationspräparates aus einfachen Antworten, Solidarisierung und Hass.

Ein Keim der Abkehr von Diskurs und Kompromiss als wichtigen Elementen der Mehrheitsbildung im Modell Deutschland steckt auch in dem dramaturgisch gelungenen Auftritt der Ungehörten, vertreten von Susanne Neumann auf dem Wertekongress der SPD. Bedeutet es tatsächlich einen Verlust an Glaubwürdigkeit, wenn die SPD trotzdem mit „den Schwatten“ arbeitet? Die Leistungen der Großen Koalition sind beachtlich, doch ihr Ruf ist schlecht. Zuletzt ist er bei allen Beteiligten in Misskredit geraten.

René Pfister schreibt dazu in der täglich erscheinenden Die Lage des SPIEGEL am 24.5.2016:  Zu den Paradoxien der Demokratie gehört, dass die Demokraten nicht allzu sehr zusammenrücken sollten, wenn sie die Demokratie verteidigen wollen. Ist die AfD ein Produkt eines Modell Deutschland, das keine soziale Gerechtigkeit mehr schafft und kein Zukunftsversprechen mehr abgibt?

Nur eine ungeschminkte öffentliche Debatte hilft

Der schon oft bemühte Wertekongress der SPD bestätigt, dass diese beispiellose Abwendung der Wählerinnen und Wähler von den etablierten Parteien eine ungeschminkte öffentliche Debatte zur Folge haben sollte. Und zwar nicht wieder darüber, wie „die Vermittlung eingenommener Positionen noch besser gelingen kann“, sondern über die eingeschlagenen Wege selbst!  Michael Böning weist in der IPG darauf hin, dass wir das Scheitern z.B. von CDU, SPD und ÖVP, SPÖ nicht auf Vermittlungsprobleme oder das Flüchtlingsthema reduzieren dürfen.

Die deutschen „Konsens“-Parteien in Sachsen-Anhalt und Baden-Württemberg, die österreichischen Sozialdemokraten und Konservativen wurden abgestraft für ihr Politikverständnis und ihre Unglaubwürdigkeit. „Ihr fahrt die Karre vor die Wand“, die Etablierten finden keinen Ausweg.  Prof. Heinz Bude, Soziologe an der Universität Kassel, analysiert, dass das Dienstleistungsproletariat – die Kolleginnen und Kollegen von Susanne Neumann – sich von politischer Teilhabe verabschiedet hat. Das sind immerhin 12 bis 15 Prozent der Beschäftigten, die in einfachen Dienstleistungen, Gebäudereinigung, Transportwesen, Zustellgewerbe hart arbeiten. Wenn sie vollzeitig beschäftigt sind, verdienen sie vielleicht 1.000 Euro netto. Das ist nicht die AfD, aber es sind ihre Wähler. Geworden.

Die Macht der Stimmungen

Von einer Soziologie der Stimmung erhofft Heinz Bude sich Aufklärung über „das gesellschaftliche Sein, das unser Bewusstsein bestimmt“. Stimmung sei eine Realität, die Verhalten auslöse. Ohne mich auf semantische Betrachtungen zu diesem auf Karl Marx zurückgehenden Verständnis des Zusammenhangs von wirtschaftlichen Verhältnissen und Bewußtseinstrukturen einzulassen, ist Budes Aussage zielführend zur Erklärung der Handlungsstärke einer sozialen Bewegung, die durch Abneigungen Solidarisierung auslöst und Zustimmung findet.  Nicht die mehr oder weniger rationale Untersuchung des Sachverhalts, sondern die Stimmung zur jeweiligen Frage entscheidet. Daher sind Diskurse mühselig bis überflüssig, die die Quelle des Handelns ignorieren : die Stimmung. Oder, um noch einmal Werner A. Perger zu zitieren: Ignoranz, Vorurteile und Aberglaube.

Stimmung ist wertneutral. In Österreich machte die Stimmung Alexander Van der Bellen zum Präsidenten und Norbert Hofer knapp zum Verlierer. Die Stimmungen sind geblieben, nur die Wahl ist vorbei. Stimmung machen Donald Trump in USA oder Jeremy Corbyn in Großbritannien. Der neue Parteichef Jeremy Corbyn hat das Zeug dazu, sein Land zu verändern. Was politikmüde Briten mobilisierte, war die Botschaft: Es gibt praktikable Alternativen zur Austeritätspolitik.  Die „Corbynomics“ wurden Symbol für die Hoffnung vieler auf einen ökonomischen Kurswechsel. Und dann: Jeremy Corbyn vertrauen die Menschen. Er ist der Schreck der elitär-arroganten Schnösel aus dem Establishment. Er bedient sich nicht, er dient.

Auch das Modell Deutschland braucht mehr Demut und weniger Stolz. Mehr Strukturpolitik und weniger Blasiertheit. Dann macht es wieder gute Stimmung.

 

 

_____

Udo Stähler ist Diplom Volkswirt und Interim Manager, der über 25 Jahre in leitenden Funktionen im Firmen- und gewerblichen Immobilienkundengeschäft sowie im Projektmanagement von Bankkonzernen tätig war. Er ist Partner des VERBUND BERATENDER UNTERNEHMER und der RE² Real Estate Executives.

Previous post:

Next post: