Nizza, Türkei, Bagdad, Dhaka, Orlando: Biologie der Gewalt

by Dirk Elsner on 18. Juli 2016

Ich muss heute wieder einmal etwas off-topic der sonst üblichen Themen dieses Blogs schreiben. Aber die Ereignisse der letzten Wochen in Nizza, der Türkei, Bagdad, Dhaka, Orlando und vielen anderen (oft wieder vergessenen) Orten dieser Welt, lassen mich auch mich natürlich nicht unberührt, selbst wenn ich sie hier üblicherweise nicht zum Thema mache. Ob terroristisch oder anders motivierter Gewalt, mich erschreckt einmal mehr, zu welchen Taten manche Menschen fähig sind.

Ich habe am Wochenende noch einmal in Steven Pinkers Buch “Gewalt: Eine neue Geschichte der Menschheit” geblättert (bzw. durch das ebook gescrollt). Auch wenn manche das in diesen Tagen nicht glauben mag, so belegt Steven Pinker doch ausführlich, dass die Gewaltbereitschaft der Menschen auf diesem Planeten deutlich abgenommen hat im Vergleich zu früheren Jahrhunderten. Aber darum geht es mir hier heute nicht.

Ich habe in den Abschnitt über “Gewaltorgane” geschaut. Darin befasst sich Pinker mit den neurobiologischen Ursachen der Gewalt. Er sagte, dass verschiedenste Regionen im Hirn des Menschen die Grundlage für ganz unterschiedliche Formen der Aggression bilden.

“Wie viele Gehirnsysteme, so sind auch die Schaltkreise, die der Aggressionssteuerung dienen, hierarchisch organisiert. Untersysteme, die bei grundlegenden Tätigkeiten für die Steuerung der Muskeln sorgen, sind im Rautenhirn angesiedelt, das oben an das Rückenmark anschließt. Die emotionalen Zustände dagegen, die den Auslöser bilden wie beispielsweise das Wutsystem, liegen weiter oben im Mittel- und Vorderhirn.” (Pos. 13479)

Will man die Herkunft der Gewalt verstehen, dann muss man auf die Ursachen schauen. Pinker kategorisiert menschliche Gewalt in fünf Gründe:

  1. Raublust, die als als Mittel zum Zweck dient. “Gewalt wird zum Erreichen eines Ziels ausgeübt, beispielsweise aus Habgier, Wollust oder Ehrgeiz; dieses Ziel wird vom Suchsystem gesetzt, und als Leitfaden dient die gesamte Intelligenz des Menschen, für die der dorsolaterale präfrontale Cortex ein bequemes Symbol darstellt. (Pos 13737 f.)
  2. Dominanzstreben – “das Bestreben, gegenüber den Rivalen die Oberhand zu behalten (Baumeister spricht von »Egotismus«). Dieser Trieb dürfte mit dem von Testosteron angetriebenen System der Dominanz oder der Aggression zwischen Männchen in Verbindung stehen, er ist aber keineswegs auf Männer und noch nicht einmal auf einzelne Menschen beschränkt.”  (Pos. 13752)
  3. Rache – der Drang, einen Schaden mit gleicher Münze heimzuzahlen. Sein unmittelbarer Motor ist das Wutsystem, dieses kann aber auch das Suchsystem für sein Anliegen einspannen. (Pos. 13752)
  4. Sadismus, die Freude, anderen Schmerzen zuzufügen. (Pos. 13752)
  5. Ideologie: “Ihre wahren Anhänger verweben eine Ansammlung von Motiven zu einer Glaubensüberzeugung und rekrutieren andere, die ihre destruktiven Absichten ausführen. Eine Ideologie kann man nicht mit einem Gehirnteil und noch nicht einmal mit dem gesamten Gehirn gleichsetzen, denn sie verteilt sich über die Gehirne vieler Menschen.” (Pos. 13752)

Mit all diesen Motiven befasst er sich ausführlich in weiteren Abschnitten. Er betont dabei, dass die wirklich großen Opferzahlen in der Menschheitsgeschichte aus der Ideologie abgeleitet werden. “Wie die räuberische oder instrumentalisierte Gewalt, so ist auch ideologische Gewalt ein Mittel zum Zweck. Bei einer Ideologie ist dieser Zweck aber idealistischer Natur: Er besteht in einer Vorstellung von einem höheren Guten.” (Pos. 15178).

Verlust sozialer Verankerung als eine Ursache für Gewalt

Ideologisch motivierte Gewalt lässt sich auch im Einklang mit der hier in diesem Blog vertretenen Multilevel-Selektion erklären, also einer modernen Weiterentwicklung der Evolutionstheorie, die die Gruppenzugehörigkeit betont (siehe dazu die ausführliche Beitragsreihe hier im Blog).

Pinker schreibt:

“Gruppen können eine ganze Reihe pathologischer Denkweisen hervorbringen. Eine davon ist die Polarisierung. Man braucht nur mehrere Menschen mit ähnlichen Ansichten in einer Gruppe zusammenzubringen, wo sie sich darüber austauschen können, dann werden die Meinungen einander immer ähnlicher und auch extremer. … Eine andere Gruppenkrankheit ist die Bunkermentalität, eine Dynamik, die der Psychologe Irving Janis als groupthink bezeichnet. Gruppen sagen ihren Anführern gern, was diese hören möchten, unterdrücken abweichende Meinungen, zensieren private Zweifel und filtern Belege aus, die dem wachsenden Konsens widersprechen.

Generell bestehe das Problem darin, dass Gruppen im Geist ihrer Mitglieder eine eigene Identität erlangen, “und der Wunsch des Einzelnen, in der Gruppe anerkannt zu werden und deren Standpunkt im Vergleich zu anderen Gruppen zu stärken, können die Oberhand über ein besseres Urteil gewinnen. Selbst wenn Menschen sich nicht mit einer genau abgegrenzten Gruppe identifizieren, werden sie stark von den Menschen in ihrem Umfeld beeinflusst.” (Pos. 15207)

Psychologen haben dies insbesondere anhand der Milgrams Experimente gezeigt, nach denen das Verhalten der Versuchspersonen stark vom unmittelbaren sozialen Umfeld abhängt.

Insgesamt ist der Abschnitt über Ideologie (Pos. 15178 ff. der Kindle Edition) sehr erhellend. Er macht aber auch deutlich, dass die Prioritäten der eingeleiteten Maßnahmen gegen die Bekämpfung der Gewalt falsch gesetzt sind. Ich habe dies in dem Beitrag “Radikalisierung Jugendlicher: Wenn Gruppenbindung verlorengeht” vertieft.

Die Zugehörigkeit zu wie auch immer gearteten Gruppen gehört für uns Menschen zur biologischen Notwendigkeiten. Wird die Verankerung zu unseren sozialen Bezugsgruppen gelöst, suchen wir uns neue Gruppen oder werden krank. Werden z.B. junge Menschen aus welchen Gründen auch immer von ihren Bezugsgruppen in Familie, Beruf und Gesellschaft abgelehnt, suchen sie sich andere Gruppen, die auf ihr Bedürfnis nach Zugehörigkeit eingehen (tiefer mit dem Beispiel der Radikalisierung von Jugendlichen befasst sich dieser Beitrag).

Menschen, die sich abgehängt und aussortiert fühlen und denen das private und berufliche Umfeld signalisiert, dass sie chancenlos in den bürgerlichen Gruppen sind, suchen sich neue Gruppen. Glaubt man den Biologen, dann gehört das zu unserem biologischen Programm. Die hinter diesen Gruppen stehende Ideologie spielt dabei eine völlig untergeordnete Rolle, jedenfalls ist das die Botschaft der Evolutionsbiologie. Daher nutzt es bestenfalls kurzfristig etwas, radikale Gruppen “mit aller Konsequenz zu bekämpfen”. Wird eine radikale Gruppe beseitigt, wird sich an anderer Stelle eine neue finden.

Der Weg freilich über gesellschaftlicher Arbeit die Ausgrenzung zu reduzieren, ist mühselig, sehr mühselig (siehe auch diesen Beitrag der SZ dazu, wie man Jugendliche vor Radikalisierung schützen kann).

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