Der diskrete Charme des Oligopols

by Karl-Heinz Thielmann on 8. September 2016

Der Industriegas-Konzern Linde ist in den vergangenen Jahren stark durch Übernahmen gewachsen: Durch die Fusion mit BOC in 2006 sowie den Käufen von Lincare und des europäischen Homecare-Geschäfts von Air Products in 2012 konnte das Münchner Unternehmen zum größten Konzern in seinem Sektor werden. Hauptwettbewerber Air Liquide – bis 2006 größter Anbieter – schien sich lange mit der zweiten Position abgefunden zu haben. Im November 2015 wurde dann aber der Erwerb von Airgas in den USA bekannt gegeben, womit sich die Franzosen wieder auf den ersten Platz vorschoben.

Schon heute haben die führenden 4 Anbieter einen weltweiten Marktanteil von zusammen ca. 80%. Damit ist der globale Markt für Industriegase ein typisches Oligopol, einer Marktform, bei der viele Nachfrager nur sehr wenigen Anbietern gegenüberstehen. Der Sektor ist deshalb schon in den vergangenen Jahren nicht durch eine übermäßige Wettbewerbsintensität aufgefallen. Dies gilt, obwohl die verschiedenen Industriegase relativ homogen sind. Aber die Kapitalintensität, spezifisches Know-how sowie hohe Qualitätsanforderungen der Kunden machen es für neue Anbieter fast unmöglich, etablierte Produzenten zu gefährden.

Vor wenigen Tagen wurde bekannt, dass die aktuelle Nr. 2 der Industriegasbranche Linde mit der globalen Nr. 3 Praxair Fusionsgespräche aufgenommen hat. Ziel ist, gemeinsam Air Liquide zu überholen und erneut die Führungsposition zu übernehmen. Das Ergebnis wäre eine noch weitergehende Oligopolisierung: Der schon geringe Wettbewerb wird noch weiter verringert. Mit Linde/Praxair und Air Liquide gäbe es dann zwei globale Konzerne, die 60% eines Marktes dominieren, der für viele ihrer Kunden von existenzieller Bedeutung ist. Bei einem vorschreitenden Einsatz von Brennstoffzellen weist er zudem interessante Wachstumsperspektiven auf. Sofern sie auf aggressiven Preiswettbewerb untereinander verzichten, sind hohe Kapitalrenditen auf Jahre hinaus gesichert.

Globale Oligopolisierung ist heutzutage für viele Industrien kennzeichnend

Eine immer stärkere globale Oligopolisierung ist derzeit nicht nur für den Bereich der Industriegase feststellbar. Auch andere Sektoren zeigen gerade in den vergangenen Jahren eine starke Zunahme von weltweiter Konzentration. Hier nur einige Beispiele:

1)  Zement: 2015 entstand mit dem Zusammenschluss von Holcim und Lafarge der größte Baustoffkonzern der Welt mit einem Anteil von 23% an der globalen Produktionskapazität für Zement. Die HeidelbergCement AG hat am 1. Juli 2016 45 % von Italcementi S.p.A erworben und kontrolliert damit ca. 17% der Kapazitäten. Gemeinsam mit den chinesischen Konzernen Anhui Conch und CNBM haben sie inzwischen mehr als 70% der globalen Produktionsmöglichkeiten für Zement.

2)  Bier: 2004 hatten noch 10 Brauereikonzerne zusammen einen globalen Marktanteil von ca. 50%. Demnächst kommen nur noch 4 Firmen auf diesen Anteil. Derzeit läuft die Fusion der bisher am aggressivsten durch Akquisitionen gewachsenen Anheuser-Busch InBev und SABMiller zu einem neuen Konzern mit einem Weltmarktanteil von ca. 30%. Die verbleibenden Wettbewerber Heineken, Carlsberg und China Resources Enterprise haben zusammen noch ca. 20%.

3)  Chemie: Die beiden US-Chemiekonzerne Dow Chemical und DuPont beschlossen 2015, sich zuerst zusammen zuschließen, um sich anschließend in 3 auf ihre jeweiligen Segmente fokussierten Firmen aufzuspalten: Spezialchemie, fortschrittliche Werkstoffe und Agrochemie/Saatgut. Gemeinsam mit dem bisher global führenden Chemiekonzern BASF dürften die neuen Gesellschaften auf vielen Teil-Märkten für Spezialchemie und Werkstoffen eine relativ dominante Position haben.

4)  Agrochemie/Saatgut: 2014 gab es noch 7 führende Anbieter mit globalen Markanteilen zwischen 6% und 12%. Mit der Fusion der Sparten von Dow Chemical und Du Pont sowie der Übernahme der schweizerischen Syngenta durch ChemChina sind es schon zwei Konzerne weniger. Inzwischen hat Bayer ein Angebot für Monsanto vorgelegt, das im Erfolgsfalle die Zahl der Wettbewerber auf 4 vermindern und einen Konzern mit einem Weltmarktanteil von ca. 23% schaffen würde.

Die Ökonomie und das Oligopol: Es kommt drauf an

Marktwirtschaftliche Ökonomen haben normalerweise ein einfaches Weltbild bei der Einschätzung von verschiedenen Marktformen: Wettbewerbsintensive Märkte werden i.d.R. als gut angesehen, weil sie niedrige Preise für Konsumenten hervorbringen und zu Innovationen anreizen. Monopole werden i.d.R. als schlecht angesehen, weil sie eine Bereicherung von Unternehmern auf Kosten der Konsumenten erlauben (durch die sog. „Monopolrente“) sowie in der Praxis oft mit Korruption und Innovationsfeindlichkeit verbunden sind. Einzige Ausnahme sind natürliche Monopole – z. B. ein Eisenbahnnetzwerk, wo sehr hohe Fixkosten Wettbewerb unwirtschaftlich machen. Um die Ausnutzung der Marktmacht durch private Unternehmen zu verhindern, sind natürliche Monopole daher normalerweise im Staatsbesitz oder staatlicher Regulierung unterworfen (was allerdings nicht vor Missbrauch durch unfähige oder korrupte Staatsdiener schützt; doch dies ist ein anderes Thema).

Oligopole passen nicht in dieses simple Bild: Bei ihnen sind Wettbewerb oder Ausnutzung von Marktmacht möglich; Erstarrung genauso wie Innovation. Die Ökonomie tat sich deshalb bei ihrer Bewertung lange sehr schwer. Bis in die 1970er Jahre wurden Oligopole vorwiegend als Vorstufe zum Monopol angesehen und pauschal abgelehnt. Soviel Wettbewerb wie möglich war das Ideal.

Allerdings sind wettbewerbsintensive Branchen sehr anfällig für zyklische Schwankungen – und einer hiermit verbundenen Ressourcenverschwendung. Gerade wenn viele Anbieter unabhängig voneinander über ihre Investitionen entscheiden, ist immer wieder die Konsequenz, dass alle gleichzeitig investieren, was zum Aufbau zum Überkapazitäten führt. Im Abschwung hingegen halten sich alle zurück, was zu niedrige Investitionen mit sich bringt. Dies ist gerade an vielen Agrarrohstoffmärkten typisch, weshalb ein solcher Zyklus auch in Anlehnung an das typischerweise prozyklische Investitionsverhalten vieler Schweinezüchter i.d.R. als „Schweinezyklus“ bezeichnet wird.

Weiterhin gibt es in fast allen Branchen eine natürliche Tendenz zur Konzentration. Größere Einheiten ermöglichen die Optimierung von Produktionsprozessen und Lieferketten; weiterhin erlauben sie es, Forschungsausgaben zu bündeln. Darüber hinaus kann eine Zentralisierung Vertriebs- und Bürokratiekosten vermindern. Im Rahmen der Deregulierungsbewegung in den 80er Jahren wandelte sich deshalb auch die Einschätzung gegenüber Oligopolen: Effizienzgewinne durch stabilere und größere Einheiten wurden höher bewertet als potenzielle Probleme mit Marktmacht.

Inzwischen zeigt sich aber, dass auch dieses tendenziell Oligopol-freundliche Bild zu simpel ist. Die zunehmende Machtkonzentration bringt Gefahren, wenn sie dazu führt, dass Risiken auf Kosten der Allgemeinheit eingegangen, Kunden getäuscht, Wettbewerber behindert und Innovationen verhindert werden. Oligopolisten in verschiedenen Märkten werden immer wieder kriminelle oder zumindest fragwürdige Aktivitäten vorgeworfen; wie z. B. illegale Preisabsprachen, dubiose Lobby-Arbeit; Manipulation wissenschaftlicher Studien; irreführende Werbung etc. Zudem kann die starke Risikokonzentration – wie z. B. in einer oligopolistischen Finanzindustrie – dazu führen, dass die Erpressbarkeit der Politik durch verantwortungslose Manager steigt („to big to fail“).

Einer der wenigen Volkswirte, die sich tiefer gehend mit dem Thema Oligopol befasst haben, ist Jean Tirole, der u.a. hierfür 2014 den Nobelpreis bekam. Er zeigte, dass es für die ökonomische Bewertung entscheidend darauf ankommt, in welcher Form die einzelnen Unternehmen eines Oligopols miteinander interagieren. Unternehmerische Entscheidungen hängen im Wesentlichen von den Erwartungen über das Verhalten der Konkurrenz ab – und umgekehrt. Diese Erwartungsinterdependenz führt zu einer komplexen Situation mit vielen möglichen Resultaten. Eine analytische Bewertung von Oligopolen ist deshalb nur mit Methoden der Spieltheorie möglich.

Volkswirte werden oft dafür verspottet, dass ihre Standardantwort auf ökonomische Fragen lautet: „Es kommt darauf an.“ Jean Tirole hat gezeigt, dass in Hinblick auf die ökonomischen Konsequenzen von Oligopolen aber nur diese Antwort richtig ist. Sektorspezifische Faktoren und Anreize sowie die Interaktivität von Entscheidungen machen eine pauschale Bewertung von Oligopolen unmöglich; insbesondere was ihre Neigung zu Innovationen angeht. Staatliche Kontrolle darf sich nach Tirole deshalb nicht an der Verhinderung großer Marktanteile ausrichten. Stattdessen favorisiert er einen branchenabhängigen Regulierungsansatz, der einerseits missbräuchliches Verhalten eindämmt, andererseits die Beteiligung von Kunden an den Größenvorteilen der Oligopolisten begünstigt.

Oligopole können für Anleger sehr ertragreich sein – aber auch genau das Gegenteil

In seinem Buch „Stocks for the Long Run“ hat Jeremy Siegel vor einigen Jahren die langfristige Performance von US-Sektoren am Aktienmarkt untersucht. Hierbei stellte er einen Zusammenhang zwischen der Aktienperformance und Entwicklung der relativen Bedeutung im Index fest: Bei Gesundheitsaktien z. B. ging ein Anstieg der relativen Gewichtung mit einer überdurchschnittlichen Performance einher; bei Grundstoffen hingegen war das Gegenteil der Fall.

Lediglich eine Branche passte nicht in dieses Muster: Der Erdölsektor hatte im Zeitraum 1957 bis 2006 mit 12,9% p.a. eine weit höhere Rendite als der S&P 500 (10,9% p.a.) erwirtschaftet, obwohl der Anteil am Gesamtmarkt von 22% auf 8% zurückging. Trotz zweier Ölkrisen und eines relativen Bedeutungsverlustes des Sektors gelang es also den führenden Unternehmen, für die Anleger eine überdurchschnittliche Performance zu erreichen. Ein Schlüssel für das trotz Sektorstagnation hervorragende Anlageergebnis dürfte in der ausgeprägt oligopolistischen Marktstruktur der Branche liegen. Die großen Öl-Konzerne vermieden aggressiven Wettbewerb um Marktanteile und konzentrierten sich stattdessen auf eine Optimierung des freien Cashflows, der wiederum über Dividenden und Aktienrückkäufe zu einem großen Teil an die Aktionäre weitergegeben wurde.

In den vergangenen Jahrzehnten war ein Zusammenhang zwischen oligopolistischen Märkten und einer herausragenden Performance vor allem in der Konsumgüterindustrie feststellbar. So dominieren Coca Cola (Welt-Marktanteil 2015 ca. 49%) sowie Pepsi (Welt-Marktanteil ca. 21%) seit langem den Markt für Erfrischungsgetränke, was beiden eine überragende Profitabilität ermöglichte.

Eine oligopolistische Marktstruktur ist aber alles andere als ein Erfolgsgarant – was man gerade am Beispiel der regional meist oligopolartig organisierten Finanzindustrie sieht. Die Finanzkrise 2008 hat – genau so wie die Savings- and Loanskrise Ende der 1980er in den USA – gezeigt, dass im Oligopol selbstgefällig gewordene Manager zu übermäßig riskantem Verhalten neigen. Das Resultat sind dann hohe Verluste – und im Endeffekt eine schlechte Aktienperformance.

Nicht jedes Oligopol bietet Anlagechancen – aber viele Oligopolisten werden unterschätzt

Warren Buffett wird angesichts seines Anlageerfolges und relativ hohen Standards der Geschäftsethik selten kritisiert. Dennoch wurde ihm vor einigen Wochen in einem Artikel des Economist Doppelmoral unterstellt: So wurde ihm vorgeworfen, dass er bevorzugt in Oligopole investiert und somit insbesondere vom Missbrauch von Marktmacht profitiert.

Tatsächlich ist die starke Marktposition eines Unternehmens eines der zentralen Anlagekriterien von Buffett; und eine solche Stärke ist oft mit einem Oligopol verbunden. Allerdings betont Buffett auch immer wieder, dass dies alleine nicht ausreicht. Genauso wichtig ist für ihn ein kompetentes und vertrauenswürdiges Management. Und hier liegt die Krux beim langfristig erfolgreichen Investieren in Oligopole: Denn es gibt zahlreiche Missbrauchsmöglichkeiten für Manager, um sich auf Kosten von Mitarbeitern, Kunden und Aktionären kurzfristig zu bereichern. Nur diejenigen Unternehmenslenker, welche diesen Verführungen weitgehend widerstehen und diszipliniert für den langfristigen Unternehmenserfolg arbeiten, können ihre herausgehobene Marktstellung dauerhaft nutzen. Insofern ist auch der im Economist erhobene Vorwurf an Buffett ungerechtfertigt: Oligopolisten, die ihre Marktmacht zu stark ausnutzen, schaffen langfristig keine Werte und werden von ihm gemieden.

Die Verbindung aus einem verantwortungsbewussten Management und einer oligopolistischen Marktposition ist grundsätzlich ein sehr starkes Erfolgsrezept für Investoren. Denn diese Kombination ermöglicht es Firmen, regelmäßig hohe freie Cashflows zu generieren und an die Aktionäre auszuschütten. Dennoch sind oftmals gerade viele „Old Economy“-Unternehmen, für die dies zutrifft, an der Börse relativ niedrig bewertet. Sehr viele Investoren jagen dem Momentum hinterher und werden von einer geringen Firmen-Dynamik abgeschreckt. Sie übersehen dabei, dass überdurchschnittliche Wertgenerierung für Anleger auch ohne hohes Unternehmenswachstum möglich ist. Value-Investoren wie Buffett hingegen erkennen hier ihre Chance, überdurchschnittliche Firmen zum Schnäppchenpreis aufzusammeln.

 

Dieser Text erschien in leicht abgewandelter Form ebenfalls in „Mit ruhiger Hand“ Nummer 49 vom 5. September 2016

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