Dokumentation: Etablierung eines dauerhaften Europäischen Stabilitätsmechanismus im vereinfachten Vertragsänderungsverfahren

by mnockerl on 16. März 2011

Der Wissenschaftliche Dienst des Deutschen Bundestags hat folgende Begriffserklärung veröffentlicht unter Ausarbeitung Nr. 04/11 (14. März 2011)*

Etablierung eines dauerhaften Europäischen Stabilitätsmechanismus im vereinfachten Vertragsänderungsverfahren

Die Mitgliedstaaten der Euro-Zone streben derzeit eine Verstetigung des bis Juni 2013 befristeten „Euro-Rettungsschirms“ an. Dieser ist eingerichtet worden, um den Euro-Staaten, die unter einer hohen Staatsverschuldung leiden, die Refinanzierung des Staatshaushalts unabhängig von etwaigen hohen Zinsaufschlägen an den Kapitalmärkten zu ermöglichen. Der Euro-Rettungsschirm besteht derzeit zum einen aus dem Europäischen Finanzstabilisierungsmechanismus (EFSM), einem Instrument der EU, mit einem Finanzmittelvolumen von bis zu 60 Mrd. Euro, zum anderen aus der zwischenstaatlich verfassten Europäischen Finanzstabilisierungsfazilität (EFSF) mit einem Finanzmittelvolumen von bis zu 440 Mrd. Euro. Zusätzlich hat sich der Internationale Währungsfonds (IWF) bereit erklärt, sich mit einem Volumen von bis zu 250 Mrd. Euro an Finanzierungsmaßnahmen zu beteiligen.

Am 28. und 29. Oktober 2010 hat sich der Europäische Rat darauf verständigt, dass die Einrichtung eines permanenten Krisenmechanismus erforderlich ist, um die finanzielle Stabilität des Euro-Währungsgebiets als Ganzes sicherzustellen. In einer Erklärung der Eurogruppe vom 28. November 2010 wurden Eckpunkte eines permanenten Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) festgelegt. Hiernach soll der ESM die EFSF weiter entwickeln. Die EFSF beruht auf einer Vereinbarung zwischen den Mitgliedstaaten des Euro-Währungsgebiets. Sie reicht an die von Refinanzierungsschwierigkeiten betroffenen Mitgliedstaaten Kredite aus und refinanziert sich
selbst am Kapitalmarkt. Hierfür begibt die EFSF Anleihen. Zur Sicherstellung einer exzellenten Bonität der EFSF garantieren die Euro-Mitgliedstaaten für die Verbindlichkeiten der EFSF. Die Gewährung der Finanzhilfe unterliegt strengen Auflagen.

Auf der Tagung des Europäischen Rates am 16./17. Dezember 2010 einigte sich der Europäische Rat auf die Schaffung einer Öffnungsklausel für die Einführung eines dauerhaften ESM in den grundlegenden Verträgen der EU. Hierzu soll Art. 136 des Vertrages über die Arbeitsweise der EU (AEUV) um folgenden Absatz 3 ergänzt werden:

„Die Mitgliedstaaten, deren Währung der Euro ist, können einen Stabilitätsmechanismus einrichten, der aktiviert wird, wenn dies unabdingbar ist, um die Stabilität des Euro-Währungsgebiets insgesamt zu wahren. Die Gewährung aller erforderlichen Finanzhilfen im Rahmen des Mechanismus wird strengen Auflagen unterliegen.“

Die Vertragsänderung soll am 1. Januar 2013 in Kraft treten; damit würde der ESM nahtlos die Aufgabe der im Juni 2013 auslaufenden EFSF und des EFSM übernehmen. Die rechtliche und inhaltliche Ausgestaltung und den Umfang des ESM überlässt die vorgeschlagene Vertragsvorschrift den Mitgliedstaaten. Die Vertragsänderung soll im vereinfachten Vertragsänderungsverfahren gem. Art. 48 Abs. 6 des Vertrags über die Europäische Union (EUV) erfolgen.

Im Primärrecht der EU existieren nach dem Vertrag von Lissabon zwei verschiedene Vertragsänderungsverfahren: das ordentliche und das vereinfachte Verfahren. Bei beiden Verfahren müssen Mitgliedstaaten und Organe der EU bei der Vertragsänderung zusammenwirken. Das ordentliche Vertragsänderungsverfahren wird in Art. 48 Abs. 2-4 EUV im Wesentlichen als besonderes Verfahren zum Abschluss eines völkerrechtlichen Vertrages geregelt. Es sieht im Regelfall die Durchführung eines Europäischen Konvents und einer anschließenden Regierungskonferenz vor. Daraufhin wird die Vertragsänderung den Mitgliedstaaten zur Ratifikation vorgelegt. Das vereinfachte Vertragsänderungsverfahren (Art. 48 Abs. 6 EUV) zeichnet sich insbesondere dadurch aus, dass keine Regierungskonferenz einberufen wird, sondern der Europäische Rat als Organ der EU die Vertragsänderung beschließt. Der Europäische Rat entscheidet dabei einstimmig nach Anhörung des Europäischen Parlaments, der Kommission und ggf. der Europäischen Zentralbank. Die völkerrechtliche Ratifikation wird durch die Zustimmung der Mitgliedstaaten gemäß ihren verfassungsrechtlichen Bestimmungen ersetzt, was der Sache nach einer Ratifikation gleichkommt. Sofern die Voraussetzungen für beide Verfahren vorliegen, steht es im Belieben von EU und Mitgliedstaaten, entweder das eine oder das andere Verfahren anzuwenden.

Die Anwendung des vereinfachten Vertragsänderungsverfahrens nach Art. 48 Abs. 6 EUV hat zwei Voraussetzungen: Erstens darf sich die Änderung des Vertragstextes nur auf die Politikbereiche des Dritten Teils des AEUV beziehen. Es kommt dabei nicht auf das Gewicht der Änderungen an. Zu den vom Dritten Teil des AEUV erfassten Bestimmungen zählen der Großteil der Vorschriften im Bereich der Wirtschafts- und Währungspolitik der Union, wie auch Art. 136 AEUV. Mit der vorgeschlagenen Norm wird eine Öffnung der sogenannten No-bail-out-Klausel des Art. 125 Abs. 1 S. 2 AEUV festgeschrieben, die den Mitgliedstaaten grundsätzlich untersagt, füreinander zu haften und in Verbindlichkeiten einzutreten. Zweitens darf die geplante Vertragsänderung „nicht zu einer Ausdehnung der der Union im Rahmen der Verträge übertragenen Zuständigkeiten führen“. Der vorgeschlagene Art. 136 Abs. 3 AEUV eröffnet nur den Mitgliedstaaten (und nicht der EU) die Möglichkeit, unter bestimmten Voraussetzungen einen Stabilitätsmechanismus ähnlich der EFSF zu schaffen. Den genauen Umfang und die Struktur des Stabilitätsmechanismus überlässt die neue Vertragsvorschrift dabei den Mitgliedstaaten. Die Vorschrift selbst begründet noch keine Pflicht zur Beteiligung am ESM. Es liegt folglich keine Ausdehnung der Kompetenzen der Union vor.

Die Europäische Kommission hat sich in einer Stellungnahme befürwortend zum Entwurf des Beschlusses zur Änderung des Art. 136 AEUV geäußert. Der Ausschuss für konstitutionelle Fragen des Europäischen Parlaments schlägt abweichend vor, die Kommission und das Europäische Parlament als EU-Organe in die Einsetzung und Anwendung des ESM einzubeziehen. Auf der Tagung des Europäischen Rates am 24./25. März 2011 soll der Beschluss zur Änderung von Art. 136 AEUV gefasst werden. Die Mitgliedstaaten sollen bis Ende 2012 zustimmen.

Hinweise:
– Schlussfolgerungen des Europäischen Rates vom 29. Oktober 2010, EUCO 25/10.
– Schlussfolgerungen des Europäischen Rates vom 16./17. Dezember 2010, EUCO 30/10.
– Stellungnahme der Kommission, KOM(2011) 70 endg.
– Streinz/Ohler/Herrmann, Der Vertrag von Lissabon zur Reform der EU, 2010, S. 55.

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Verfasser/in: RRn Dr. Kristin Rohleder, RRef. Dr. Clemens Richter, Fachbereich WD 11 – Europa

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