Abitur – 1 Jahr danach

by Dirk Elsner on 28. März 2014

Gastbeitrag von Jodie Ann Ernsting*

Mein letzter Schultag ist jetzt genau ein Jahr her und ich kann eine erste kleine Resonanz ziehen.  Habe ich meine Ziele verfolgt?  Naja, sagen wir es so: Meine Ziele haben sich in der Zwischenzeit stark verändert. Ob man es dann wirklich „verfolgen“ nennen kann, weiß ich nicht.

Aber da bin ich ein Glück in guter Gesellschaft. Ich habe viele meiner ehemaligen Mitschüler getroffen und mit ihnen über ihre „damaligen“ (Gott, klingt das erwachsen) Ziele gesprochen und wo sie sich jetzt befinden und es gibt kaum jemanden, der das macht, was er ursprünglich geplant hatte. Ist das nicht erschreckend? Oder eher eine Ermutigung Neues zu wagen und sich nicht krampfhaft an seinen Plänen festzuhalten. Ich glaube eine Mischung aus beidem, da ich es zwar erschreckend finde, es mich aber trotzdem beruhigt, dass ich nicht die Einzige bin, die irgendwie nicht so ganz weiß, was sie von ihrem Leben eigentlich will. Obwohl ich mit einem sofortigen Studienbeginn doch recht zielstrebig bin, wenn ich mir überlege, wie viele ein Jahr ins Ausland gegangen sind, um sich die Welt anzusehen oder „etwas über sich und das Leben zu lernen“ (Sorry, aber wenn ich das schon höre..)

Was habe ich gelernt? Ich bin unglaublich viel selbstständiger geworden. In einem Beitrag beschrieb ich die Schule ja als eine Art Wegweiser, der uns die genaue Richtung immer sehr klar vorgab und genau diese Hilfe gab es im letzten Jahr eben nicht. Ich war plötzlich selber dafür verantwortlich, dass ich mich zu Kursen anmeldete, meine Miete pünktlich zahlte und einen wenigstens einigermaßen vollen Kühlschrank Zuhause hatte. Die Sache mit dem Kühlschrank war häufig das Schwierigste, aber nach ein paar Abenden mit trockenem Toast, lernt man auch das.

Noch vor einem Jahr war es eine echte Herausforderung für mich irgendwo anzurufen und jetzt erledige ich selbstbewusst jeden Behördengang. Da ist also der erste positive Effekt, den ein Jahr unbehütetes Leben, in mir ausgelöst hat.  Das erlebe ich auch bei ganz vielen Anderen meines Jahrgangs. Aus grauen Mäuschen wurden plötzlich selbstbewusste junge Frauen und aus den „In-der-Ecke-Stehern“ der Mittelpunkt einer Party.

Vielleicht tut es uns ja mal ganz gut aus dem Nest geschubst zu werden und zu wissen „Wir müssen jetzt fliegen, komme was da wolle!“ Also Flügel ausbreiten und ab dafür.  Doch nicht jeder hat eine so positive Verwandlung vollzogen. Viele, die eine Ausbildung oder ein duales Studium begonnen haben, wurden zu Arbeitstieren ohne Blick nach rechts oder links. Ja, natürlich werden die es einmal weit bringen und viel Geld verdienen, aber für welchen Preis?

Wenn ich höre, dass Mitschüler Freunde bei Verkaufsgesprächen bedrängen und versuchen ihnen Dinge aufzuschwatzen, die kein 20-jähriger braucht, bin ich empört. Ist es die neue Masche der Unternehmen um junge Kunden anzuwerben? Oder einfach um Auszubildende unter Druck zu setzen und zu sehen, wie weit sie gehen würden?

Bin ich glücklich? Das ist wohl die elementarste und auch schwierigste Frage, die sich ein jeder ehemalige Abiturient in dieser Zeit stellt.  Ein klares Jain kommt dem wohl am Nächsten. Ich vermisse die Schule oft; das Behütete, das Vertraute, das Gefühl irgendwohin zu gehören. Das höre ich von allen Seiten, dass wir nicht wissen, ob wir dort richtig sind, wo wir gerade sind. Ob wir dorthin gehören und dort rein passen.

Ob wir die richtige Entscheidung getroffen und den richtigen Weg eingeschlagen haben. Aber natürlich ist auch vieles besser geworden: Wir sind frei, uneingeschränkt. Können machen was immer wir wollen.  2 Freunde haben spontan einen Flug nach Australien gebucht und sind kurze Zeit später geflogen – einfach weil sie es konnten.  Diese Freiheit werden wir nicht oft in unserem Leben haben.  Also warum sie nicht nutzen?

Warum nicht Fehler machen und in die falsche Richtung gehen?  Am Ende werden wir alle unseren Weg finden und wenn es nicht sofort der Richtige ist, haben wir wenigstens eine Menge guter Geschichten vom glorreichen Scheitern, die wir unseren Enkeln erzählen können.


* Jodie Ann Ernsting hat vor einem Jahr Abitur am Hans Ehrenberg Gymnasium in Bielefeld gemacht und schreibt hier über Impressionen der Jugend nach dem Abitur und auf der Suche nach dem Weg der Generation Y. Ihr Beitrag in diesem Blog für die Blogparade zur Vollbeschäftigung erschien in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung am 5. Mai 2013.

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