Von Jürgen Kremer, erschienen in Humane Wirtschaft 01-2009*
1 Die Finanzkrise und die Krise der Volkswirtschaftslehre
Wir befinden uns in einer globalen Finanzkrise, die allein in Deutschland Bürgschaften des Staates nach sich zogen, die mit bis zu 500 Mrd. Euro weit größer sind als der Bundeshaushalt 2009 mit seinen 285 Mrd. Euro. Dies sei notwendig, um eine schwerere Krise zu verhindern, sagte beispielsweise Frau Dr. Merkel. Und sie sagte auch, dass derart drastische Schritte notwendig seien, um Schaden vom deutschen Volk abzuwenden.
Vorhergesehen wurde die Krise nicht. Weder von den handelnden Politikern, noch von den Ökonomen, die diese Politiker beraten und die häufig genug ihre Meinungen als wissenschaftliche Wahrheiten vertreten. Und auch die großen Banken und Finanzinstitutionen, die in guten Zeiten hohe Gewinne privatisierten, haben die Krise nicht kommen sehen. Nun, in den schlechten Zeiten, rufen sie den Staat, und damit den Steuerzahler, herbei, und sie sozialisieren ihre Verluste. Das heißt, wir alle werden für die Verluste einstehen müssen.
Die Menschheit hat in den letzten Jahrhunderten große intellektuelle Fortschritte gemacht. Die industrielle Revolution basierte wesentlich auf Erkenntnissen, die in Physik, Chemie, Biologie und in den Ingenieurwissenschaften gewonnen wurden. Das zunehmende Verstehen wissenschaftlicher Zusammenhänge ermöglichte die Entwicklung und den Betrieb von Dampfmaschinen, Autos, Antibiotika, Fernsehern, Flugzeugen, CD-Spielern und GPS-Navigation, um einige wenige Beispiele zu nennen. Ist ein System nicht oder nicht genau verstanden, so ist eine effiziente Steuerung dieses Systems häufig nicht möglich. In einer solchen Situation befinden wir uns beispielsweise bei der Krebsoder Alzheimer-Therapie. Das Beispiel des Schlafmittels Contergan zeigt, dass ein Mangel an umfassendem Verständnis verheerende Folgen nach sich ziehen kann.
Der Einsatz von abgereichertem Uran oder der von Minen zeigt aber auch, dass Menschen fähig sind, Handlungen trotz Kenntnis erschreckender Folgen zu begehen. Wir müssen realisieren, dass politische, wirtschaftliche, militärische oder strategische Überlegungen humanitäre Gesichtspunkte vollkommen überlagern können. Und in solchen Fällen müssen wir auch davon ausgehen, dass die jeweiligen Entscheidungsträger kein Interesse daran haben dürften, die Allgemeinheit objektiv und umfassend zu informieren.
Besonders schwierig wird eine Situation dann, wenn sowohl ein umfassendes Verständnis der zugrunde liegenden Zusammenhänge fehlt, als auch politische, wirtschaftliche, militärische oder strategische Interessen vorliegen.
Beim Prozess der Globalisierung befinden wir uns in einer solchen Situation. Obwohl uns viele Ökonomen etwas anderes glauben machen wollen, gibt es in der Standard-Volkswirtschaftslehre bisher kein ausreichendes Verständnis wirtschaftlicher Zusammenhänge, um auf dieser Basis brauchbare Handlungsanweisungen ableiten zu können. Skandalöserweise gibt es in der Volkswirtschaftslehre nicht einmal ein Modell eines langfristig stabilen Wirtschaftssystems. Obwohl uns deren Vertreter häufig — und gelegentlich mit bemerkenswerter Arroganz — ihre Meinungen und Prognosen als wissenschaftlich fundierte Wahrheiten zum Besten geben und obwohl die Verwendung mathematischer Formeln ihr ein wissenschaftliches Antlitz verleiht, muss festgestellt werden, dass sich die Volkswirtschaftslehre in einem katastrophalen intellektuellen Zustand befindet. Insbesondere ist sie keine Wissenschaft, wie noch ausgeführt werden wird.
Andererseits existieren bei ökonomischen Fragestellungen erhebliche politische, wirtschaftliche, militärische und strategische Interessen. Ein zentrales und äußerst beunruhigendes Beispiel ist das Erdöl, das nach Aussagen renommierter Erdöl-Geologen, wie etwa Colin Campbell, in den nächsten Jahrzehnten knapp werden dürfte. Dieser Verknappung steht ein ständig steigender Bedarf gegenüber. Der Wohlstand der Industrienationen weltweit wird aber getragen vom Erdöl. Eine Verknappung des Öls bedeutet daher, dass unsere Wirtschaftssysteme eine Schrumpfung verkraften müssten. Die weltweit einflussreichen Wirtschaftssysteme benötigen jedoch das Wachstum so notwendig wie ein Verdurstender das Wasser. Diese Systeme besitzen daher alleine schon aus diesem Grund einen derart gravierenden Fehler, dass langfristig stabile und funktionsfähige Alternativen entwickelt und realisert werden müssen, um eine drohende, schwerwiegende Wirtschaftskrise abzuwenden.
Die Veröffentlichungen von John Perkins, [8], [9], Michel Chossudovsky, [1], und anderen zeigen jedoch, dass diese falschen Wirtschaftstheorien bewusst instrumentalisiert werden, um wirtschaftliche und strategische Interessen durchzusetzen. Bemerkenswert ist dabei, dass es jedem Bürger, und damit insbesondere auch jedem Politiker, möglich ist, sich über diese Instrumentalisierung zu informieren. Es ist keineswegs so, dass derartige Informationen unterdrückt werden. Sie werden aber überdeckt mit anderen, falschen oder verfälschenden Nachrichten, die in solchen Mengen zugeführt werden, dass viele wesentliche Informationen untergehen. Es ist in Anlehnung an das Märchen von Hänsel und Gretel also nicht so, dass die Brotkrumen, die über einen richtigen Weg informieren, vorsätzlich entfernt werden. Sondern es ist im Gegensatz dazu so, als ob ein durch Kieselsteine markierter richtiger Weg durch Mengen an zusätzlich verstreuten Kieseln verschleiert wird.
2 Volkswirtschaftslehre – eine Wissenschaft?
Bildet die Volkswirtschaftslehre in ihrem gegenwärtigen Zustand eine brauchbare Grundlage für die Analyse, für die Prognose oder gar für die Steuerung wirtschaftlicher Entwicklungen? Kann diese Disziplin überhaupt wissenschaftlich genannt werden?
Steve Keen, Professor an der School of Economics and Finance der University of Western Sydney, erhebt schwerwiegende Einwände gegenüber der Volkswirtschaftslehre1). Einer richtet sich beispielsweise gegen eines der Fundamente dieser Lehre, die Theorie des Unternehmens, deren Ableitung er als mathematisch fehlerhaft nachweist 2). Nach Korrektur des Fehlers kehren sich die Aussagen dieser „Theorie”, die die Globalisierungsdoktrin freier Märkte stützt, in ihr Gegenteil um. Bemerkenswert ist nicht nur, dass eine grundlegende Theorie, die an praktisch jeder Hochschule gelehrt und die in jedem Volkswirtschaftslehrbuch dargestellt wird, in sich nicht widerspruchsfrei ist. Es ist insbesondere bemerkenswert, dass der Wirtschaftsnobelpreisträger George Stigler vor über 50 Jahren in einer ökonomischen Fachzeitschrift auf die Wurzel dieses Fehlers aufmerksam machte, ohne dass dies einen Einfluss auf die Theorie und ihre Darstellung gehabt hätte. Dass eine zentrale Aussage über 50 Jahre lang fehlerhaft abgeleitet wird, obwohl ein Nobelpreisträger dieser Disziplin auf den Fehler — übrigens ein einfacher Fehler bei der Anwendung von Schulmathematik — in einer Fachzeitschrift dieser Disziplin hingewiesen hat, ist in einer Wissenschaft, wie etwa der Physik, nicht vorstellbar. Steve Keen schreibt zur Unternehmenstheorie in [6]:
„ … Auch wenn sie kein aktives Forschungsgebiet von Ökonomen mehr ist, so ist die Marshallsche Theorie des Unternehmens immer noch zentral für die in die Volkswirtschaftslehre einführende Pädagogik. Über die Jahre widerstand sie zahlreichen Kritiken – an ihrer empirischen Relevanz, an ihrer eindimensionalen Beschreibung der Motive von Unternehmen, an ihrer „Black Box“ Behandlung von
Unternehmen, usw. In diesem Artikel lege ich einen weiteren Kritikpunkt vor: sie ist, ganz einfach, mathematisch falsch. Wenn die Fehler in der Theorie korrigiert werden, dann bleibt nichts von Substanz übrig: Wettbewerb führt nicht dazu, dass der Preis mit den Grenzkosten übereinstimmt, durch die Gleichsetzung von Grenzerträgen und Grenzkosten werden die Profite nicht maximiert, der Ausstoß ist unabhängig von der Anzahl der Unternehmen in der Branche und der Wohlfahrtsverlust, den das Modell einem Monopol zuschreibt, ist statt dessen auf profitmaximierendes Verhalten zurückzuführen. …”
Weitere fundierte Einwände gegen die Standard-Volkswirtschaftslehre finden sich in [4]. Wer sich bisher bezüglich einer Kritik an unserem Geldsystem skeptisch gefragt hat, ob es denn sein kann, dass einige wenige mit ihren Einwänden gegenüber der leistungslosen Verzinsung von Sparguthaben Recht haben können, obwohl praktisch die gesamte Fachwelt Zinsen für ein wichtiges Steuerungsinstrument und für ökonomisch gerechtfertigt hält, der möge sich das Beispiel der Unternehmenstheorie und die in [4] vorgetragenen Einwände vor Augen führen. Wenn in einer Disziplin derartige Irrtümer möglich sind, dann können auch andere Fehler nicht ausgeschlossen werden.
SPD-Fraktionschef Peter Struck hat am 15. November 2008 für eine Abschaffung des Rates der sogenannten fünf Wirtschaftsweisen plädiert. Er warf dem Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung in einem Interview der „Super Illu“ Inkompetenz vor. „Ich glaube denen kein Wort. Wenn man frühere Prognosen mit der eingetretenen Realität vergleicht, merkt man recht schnell, dass diese sogenannten Weisen vor allem viel heiße Luft produzieren“, sagte Struck. Er habe Finanzminister Peer Steinbrück daher vorgeschlagen, den Sachverständigenrat abzuschaffen. Allerdings sieht auch Struck kein grundsätzliches Problem, denn er fügte hinzu: „Ich finde, wir haben genug Sachverstand in den Ministerien, um Erkenntnisse zu sammeln, und genug Sachverstand in der Politik, um die richtigen Konsequenzen daraus zu ziehen.“
In diesem Artikel wird die These vertreten, dass brauchbare Prognosen und eine vernünftige Steuerung des Wirtschaftsgeschehens schon alleine deshalb nicht möglich sind, weil kein volkswirtschaftliches Modell für eine langfristig stabile Wirtschaftsordnung existiert. Kaum jemand wird einer Gruppierung, die die Welt für eine Scheibe hält, ein brauchbares Programm zur Erkundung des Weltraums zutrauen, und so sollte auch keiner Disziplin, die zeitlich unbegrenztes exponentielles Wachstum für realisierbar hält, eine Steuerung unseres Wirtschaftsgeschehens überlassen werden.
Für die Fortsetzung des Textes verweist der Blick Log auf das hier einsehbare PDF-Dokument, weil sich die Textinhalte technisch nicht übertragen lassen.
1) Siehe [4] und [6]
2) Siehe [6]
Literatur:
[1] Michel Chossudovsky (2002). Global Brutal,
Zweitausendeins.
[2] Helmut Creutz (2001). Das Geldsyndrom, Econ.
[3] Helmut Creutz (2007). Die 29 Irrtümer rund ums Geld, Herbig.
[4] Steve Keen (2001). Debunking Economics: the naked emperor of the
social sciences, Pluto Press & Zed Books, Sydney & London.
[5] Margrit Kennedy (2005). Geld ohne Zinsen und Inflation, Goldmann.
[6] Steve Keen (2008). Warum Wirtschaftslehrbücher die Standard-Theorie
des Unternehmens nicht mehr unterrichten dürfen, in Bernd Luderer
(Hrsg.) Die Kunst des Modellierens, Mathematisch-Ökonomische
Modelle, Vieweg+Teubner.
[7] Jürgen Kremer (2008). Dynamische Analyse – Die Untersuchung des
langfristigen Verhaltens von Ökonomien, in Bernd Luderer (Hrsg.)
Die Kunst des Modellierens, Mathematisch-Ökonomische Modelle,
Vieweg+Teubner.
[8] John Perkins (2005). Bekenntnisse eines Economic Hitman, Riemann.
[9] John Perkins (2007). Weltmacht ohne Skrupel, Redline Wirtschaft.
[10] Bernd Senf (2007). Die blinden Flecken der Ökonomie, Gauke.
*Zum Autor:
Jürgen Kremer ist Professor für Wirtschaftsmathematik am
RheinAhrCampus Remagen
Die Lizenzbedingungen für diesen Artikel sind hier einsehbar.
Leute, lest euch doch wenigstens erst mal das / den durch, was / den ihr dann als Argument / Belegquelle verwenden wollt. Wenn man schon Steve Keen für eine Kritik der Volkswirtschaftslehre heranziehen will, dann sollte man wenigstens wissen, daß er Kreislaufmodelle mit Zinsen durchgerechnet hat, die stabil sind. Damit erledigt sich der Quatsch mit dem WachstumsZWANG! Kann man bei ihm auch nachlesen: Stabilitätsbetrachtungen sind nichts für Amateure! BTW: Damit machen Fraktale Spaß! http://xaos.sf.net
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