“Bowling alone” in Winnenden

by dels on 23. März 2009

Die relaunchte Wochenzeitung Freitag überrascht mich immer wieder mit lesenswerten Beiträgen. Und dies obwohl oder vielleicht gerade weil ich insbesondere in wirtschaftspolitischen Fragen häufig zu anderen Schlussfolgerungen komme. In der aktuellen Ausgabe schreibt Götz Eisenberg über die “Industrialisierung des Mitleids”. In dem Beitrag wundert sich Eisenberg, dass für die Betreuung der Schüler und Angehörigen nach dem Amoklauf in Winnenden ganzen Hundertschaften an Psychologen in dem Ort eingesetzt werden.

Er vergleicht den Zustand mit der Betreuung der Menschen nach einem Amoklauf 1964 in Köln. Damals seien die Betroffenen gar nicht betreut worden. “Man habe das Erlebte entweder selbst oder gewissermaßen beiläufig im Rahmen der Familien, der Nachbarschaft und der Kirchengemeinde so weit bewältigt, dass ein wie immer reduziertes Weiterleben möglich wurde.” Daraus zieht Eisenberg die folgenden nachdenkenswerten Schlussfolgerungen:

“Offensichtlich existierte damals noch etwas, was man als „soziales Immunsystem“ bezeichnen kann. Die Einzelnen waren in soziale Gemeinschaften auf eine Weise eingebettet, dass auch im Falle größter zwischenmenschlicher Katastrophen niemand aus der Welt zu fallen drohte. Die Menschen interessierten sich noch füreinander und kümmerten sich umeinander, wenn jemand in eine Notlage geriet. Hier müssen im Laufe der seither vergangenen Jahrzehnte gravierende Veränderungen vor sich gegangen sein.

Die Tendenz zur Individualisierung hat die letzten Reste von Gemeinschaftlichkeit offensichtlich geschleift und das „soziale Immunsystem“ zerstört. Mitgefühl und gegenseitige Nothilfe nehmen Warenform an und werden mehr und mehr in bezahlte Dienstleistungen verwandelt.

Was sagt es uns über den Zustand einer Gesellschaft, wenn sie bezahlte Experten benötigt, um Kinder zu trösten? Wie wir unserem geschwächten körperlichen Immunsystem mit allerlei Nahrungsergänzungsmitteln auf die Sprünge helfen, so versuchen wir das vom Kollaps bedrohte „soziale Immunsystem“ mit Hilfe von synthetisch nachproduziertem Mitgefühl und käuflicher Nothilfe aufzupäppeln.”

Eisenberg greift damit ein Thema auf, mit dem der Harvard-Professor Robert D. Putnam bereits vor 14 Jahren in seiner Studie “Bowling alone” für intensive Diskussionen gesorgt hat. Unter “Bowling alone” wird eine Tendenz verstanden zu einem sich selbst isolierenden Menschen. “Immer mehr Menschen machen vieles für sich allein, haben immer weniger Freunde und zeigen kein bürgerliches Engagement mehr z. B. im Sinne von Ehrenamt,” schrieb Alexandra Graßler in einem Beitrag zum “Bowling alone”. Weiter schrieb sie:

“Die wirtschaftliche Anschauung führt zu einem Streben nach Erfolg, das allzu häufig die Gemeinschaft aus dem Blick verliert. Wer einmal aus dem Tritt gerät, kommt schnell unter die Räder und verliert oftmals als erstes sein so vermeintlich stabiles soziales Netz. Man könnte fast meinen, dass so etwas wie Arbeitslosigkeit ansteckend ist, um es einmal überspitzt zu formulieren. Und wer in der täglichen Tretmühle steckt, seine Reputation ausbauen und damit seine wirtschaftlichen Erfolgschancen, hat immer öfter keinen Nerv sich mit Menschen zu beschäftigen die nicht mithalten können.”

Putnam verbindet die seit langem und immer wieder thematisierte Sorge über den Verlust des gesellschaftlichen Zusammenhalts mit der Suche nach Wegen der “Solidaritätsproduktion”. Dazu schrieb Sebastian Braun in “Aus Politik und Zeitgeschichte”:

Putnam lieferte “zunächst den empirischen Nachweis, dass Solidarität und Sozialität in den westlichen Demokratien längst verschwunden seien. In zahllosen Begriffspaaren wie z. B. "Sozialenergie" (Helmut Klages) oder "soziale Bindekraft" (Wolfgang Schäuble) vermengte sich Putnams Leitbegriff mit Erich Fromms berühmter Metapher vom "sozialen Kitt", um in blumiger Sprache zu umschreiben, was der Gesellschaft offenbar abhanden gekommen war.”

Interessant auch, dass Putnam sich in seinen Arbeiten insbesondere mit den Themen Soziales Vertrauen, Zivilgesellschaft und Soziales Kapital befasst. In Making Democracy Work macht er interpersonale Netzwerke, soziales Vertrauen und gemeinschaftsbezogene Normen und Werte für die Leistungsunterschiede italienischer Regionalverwaltungen nach einer Reform des Regionenwesens verantwortlich, ist in der Wikipedia zu lesen.  Nicht der ökonomische Entwicklungsstand, sondern Soziales Kapital sei die wichtigste Voraussetzung für die Effizienz demokratischer Institutionen.

Kritisch dagegen äußert sich Hans Joas in diesem Beitrag zu den Thesen und den Befunden von Putnam. Aber so tief will ich gar nicht in die Materie einsteigen, zu der mich die Wochenendlektüre des Freitags angeregt hat.

 

Literatur:

Robert D. Putnam, Bowling alone: America’s declining social capital, in: Journal of Democracy, 6 (1995), S. 70.

Bowling alone – Das Phänomen des sich selbst isolierenden Menschens

Sebastian Braun, Soziales Kapital, sozialer Zusammenhalt und soziale Ungleichheit

Hans Joas, Ungleichheit in der Bürgergesellschaft  Über einige Dilemmata des Gemeinsinns

Eugen März 23, 2009 um 15:15 Uhr

Wo du schon Putnam anführst mit „Bowling alone“, dann solltest du auch seine Studie aus dem Jahr 2001 erwähnen, die zeigt, dass die Zuwanderung Fremder dafür sorgt, dass der „Sozialkitt“ verloren geht. Putnam war über die Ergebnisse so erschrocken, dass er die Studie erst 2006 (glaube ich) veröffentlicht hat.
Anscheinend ist der Konkurrenzdruck, den Frau Graßler anführt, weniger für die Entwicklung von Maß.

Coien März 23, 2009 um 15:29 Uhr

Nein, das denke ich nicht. Ich möchte weder auf diese Studie hinweisen, noch eine Diskussion darüber führen, weil das nicht Gegenstand dieses Artikels ist, in dem es allein um die Feststellung geht, dass die bisherigen sozialen Netzwerke unserer Gesellschaft nicht mehr greifen. Einen Zusammenhang mit der Zuwanderung kann ich außerdem in keinster Weise ausmachen und wäre ich auch nicht bereit zu aktzeptieren.

Ihr Kommentar zeigt, dass die Ursachendiskussion einer speziellen Tiefe bedarf, die ich in diesem Blog aber nicht leisten kann.

Alexandra Graßler März 23, 2009 um 10:21 Uhr

Mir ging beim Lesen des Artikels durch den Kopf, dass unsere momentane Wirtschaftskrise bei allen Schwierigkeiten auch eine große Chance enthält: Sich einander wieder zuzuwenden, sich beizustehen, sich als Teil einer Gemeinschaft empfinden, die in der Lage ist, diese Krise auch gemeinschaftlich zu bewältigen.

Der Konkurrenzdruck der von Medien in den vergangenen Jahren so sehr geschürt worden ist, ist ein treibender Motor des Phänomens des „Bowling alone“ – sich selbst isolierende Menschen. Und jede Initiative die Menschen wieder zusammenbringt unter dem Aspekt der Kooperation, der Unterstützung, der Bewältigung von Problemen und dem Erreichen von Zielen, die allen dienen ist ein unersetzlich wertvoller Beitrag.

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