Alle Informationen offen – für jedermann

by Dirk Elsner on 19. November 2009

In der Welt war in der vergangenen Woche unter der Headline “Fantasieren wird zum gefragten Geschäftsmodell”  zu lesen:

“Im Jahr 2023 wird Industriespionage überholt sein und das Horten von Herrschaftswissen strafbar. 2023 werden Gesetze rund um den Globus Regierungen, Organisationen und Firmen zwingen, alle Informationen offenzulegen: Verträge, Gehälter, Bilanzen, Programmiercodes, Rezepturen, Formeln. 2023 wird totale Transparenz die Norm sein und nicht nur ein Marketing-Gag.”

In dem Artikel geht es weiter um einen neuen Hype in der Beratungsbranche, sich aktiv mit den Geschäftsmodellen der Zukunft auseinanderzusetzen: “Wer in der Consulting-Branche etwas auf sich hält, setzt das Thema Zukunft auf seine Agenda.” Da wird mit kräftigen Schlagworten um sich geworfen. So z.B. dies hier:

“Eine der kraftvollsten Neuerungen werde der Eintritt der Net-Generation in den Arbeitsmarkt sein, sagt Musgrave. Sie pflege „hundertmal mehr Beziehungen zu anderen Menschen als wir“. Quanten-Beziehungen nennt Future World diese neue Form globaler Interaktion. „Vor allem aber sind die Kinder der Net-Generation in der Lage, viele Dinge gleichzeitig zu tun, und zwar völlig unangestrengt“, sagt Musgrave. Die Fähigkeit zum total vernetzten Multi-Tasking werde die Net-Generation in die Welt der Firmen tragen. „Dann wird es absurd sein, Twitter, Facebook oder deren Nachfolger vom Arbeitsplatz zu verbannen. Weil soziale Netzwerke zu Instrumenten des Marktes geworden sind.“

Bei diesen und einigen der weiteren genannten Visionen mag man zwar intuitiv zustimmen. Ob es freilich wirklich dazu kommt, ist offen. Einen Einblick in die Fehlprognosen der Zukunftsforscher vergangener Jahre bietet Rüdiger Gröning in dem Buch “Zukunftsprognosen Traum und Wirklichkeit”. Darin schreibt er u.a.:

 

Es ist eine ernüchternde Bilanz: Wissenschaftler, Nobelpreisträger, Experten und Sachverständige haben uns in der Vergangenheit Zukunftsprognosen präsentiert, die sich fast ausschließlich als Fehlprognosen erwiesen haben. Wissenschaftler, Experten und Sachverständige konnten offensichtlich nicht einmal für das eigene Fachgebiet eine zutreffende Prognose abgeben. Gleiches gilt für ihre allgemeinen Aussagen zur Wissenschaftsentwicklung.

Offensichtlich waren die meisten Wissenschaftler und Experten in früheren Jahren auch nicht fähig, die grundsätzliche Frage zu reflektieren, ob es überhaupt möglich ist, zutreffende Prognosen zur zukünftigen Entwicklung von Wissenschaft und Technik zu erstellen. Das Selbstverständnis von Sachverständigen und Experten ließ vermutlich keine Zweifel an der eigenen Expertise aufkommen. Ein Experte kann sich nicht irren!

Wissenschaftler haben sich geirrt. Nun gibt es aber besondere Spezialisten für die Erstellung von Zukunftsprognosen: Zukunftsforscher. Zukunftsforscher beraten Firmen, halten Vorträge über Zukunftsprognosen oder schreiben Bücher über die Zukunft. Zukunftsforscher bieten ein Produkt an, das sie verkaufen möchten. Zukunftsforscher erklären anderen Menschen, dass sie in der Lage seien, die zukünftige Entwicklung von Wissenschaft und Technik vorherzusagen. Waren Zukunftsforscher erfolgreicher mit ihren Prognosen? Die Antwort ist „Nein“. Zukunftsforscher lagen mit ihren Prognosen nicht besser als andere selbst ernannte Experten. Alle längerfristigen Prognosen waren falsch.

Volker Linck November 23, 2009 um 17:40 Uhr

Ich kann mich Herrn Gröning nur anschließen. Es hat seinen Reiz, sich eine irgendwie anders geartete Welt vorzustellen, möglichst „besser“, aber: was ist „besser“? Es gibt Sachverhalte, die sich grob (!) berechnen lassen, wie das Versiegen der Ölquellen, die Zunahme von Armut und Hunger. Aber die sich daraus ergebenden gesellschaftlichen und politischen Veränderungen kann man allenfalls erahnen bzw. in Analogieschlüssen aus vergangenen Entwicklungen eine Vorstellung entwickeln, was alles passieren könnte (Konjunktiv!).

Wir sind ja im Grunde noch nicht mal in der Lage, die Entwicklung der nächsten fünf Jahre oder auch nur fünf Monate abzuschätzen. Auch ganz abgesehen von singulären einschneidenden Ereignissen (Ölkrise der 70er, Mauerfall, 9/11, aktuelle Wirtschaftskrise etc.) entwickelt sich die soziale, geistige, kulturelle, politische Haltung und Einstellung aller Menschen weiter. Und genau diese Entwicklung kann am allerwenigsten vorhergesehen, geschweige denn vorhergesagt werden.

Die Net-Generation wird nicht mehr und nicht weniger Kontakte haben, als wir heutzutage. Die Techniken und Methoden verändern sich, ja, vielleicht auch noch mal die Geschwindigkeit. Aber die Fähigkeit eines Menschen, Beziehungen zu pflegen, mit wem, wieviel, aus welchem Grund, auf welche Weise, ist über Jahrtausende gewachsen und verändert sich auch durch kulturelle Evolution nur langsam. (Das erinnert mich an die ernst gemeinte Frage eines Journalisten auf dem Höhepunkt des SMS-Hypes, ob sich jetzt der rechte Daumen der Menschen dauerhaft verändern, an das SMS-Tippen auf dem Handy anpassen werde).

Und die Menschen, die 2023 oder später evtl. wichtige Entwicklungen anstoßen oder verursachen, quälen sich derzeit noch durch die Pubertät, spielen in der Grundschule, sind noch gar nicht geboren, oder leben (noch) in einer Weise, die sich mit großen Taten und Wirkungen nicht in Verbindung bringen lassen.

Der Kabarettist Volker Pispers hat das in einem seiner Programme sehr schön auf den Punkt gebracht: „Erklären Sie doch mal einem heute Zwanzigjährigen, daß zum Zeitpunkt seiner Geburt der Russe vor der Tür stand!“. Wir (im Westen) sind damit aufgewachsen. Der Russe stand vor der Tür und war irre gefährlich. Heute kann man den Jüngeren kaum mehr erklären, was das für die Gesellschaft und Politik bedeutet hat. Und die eigene Erinnerung und Gefühlslage verblasst auch. Damals jedenfalls war der Russe innerhalb weniger Monate weg von der Tür. Und keiner hätte vorher daran geglaubt.

Comments on this entry are closed.

Previous post:

Next post: