Mehr als drei Jahre nach der Pleite der US-Investmentbank Lehman scheint sich in den USA erstmals eine länger anhaltende Protestbewegung gegen das institutionelle Bankwesen zu formieren. Am vergangenen Wochenende gelang den Aktivisten von “OccupyWallStreet” weltweite Aufmerksamkeit mit der Blockade der Brooklyn Bridge und der Massenfestnahme von 700 Protestlern. Seitdem hat sich die öffentliche Aufmerksamkeit deutlich erhöht.
Etwas über die kurze Historie und den Hintergrund der “Bewegung” erfahren wir aus dem Handelsblatt:
“Die Proteste gegen die Banken hatten am 17. September begonnen. Ihr Quartier haben die Aktivisten im kleinen Zuccotti-Park in Manhattan aufgeschlagen, der sich nahe des bei den Anschlägen des 11. September 2001 zusammengestürzten World Trade Center befindet. Vorbild sind die Protestcamps in Spanien und von Demonstranten in der arabischen Welt. Eine geplante symbolische Besetzung der Wall Street wurde von der Polizei vor zwei Wochen mit einem massiven Aufgebot verhindert. Das teils harte Vorgehen der Beamten wurde über per Smartphone aufgenommene Youtube-Videos weltweit bekannt.”
Die Bewegung setzt voll auf die technischen Möglichkeiten des Social Webs mit einer Webseite, Facebook, Twitter, Livestreams. Zwischendurch sah es trotz dieser geballten Social Media Macht so aus, als würde die Bewegung wieder einschlafen, denn nach den ersten Protesten war es zunächst wieder ruhig geworden. Dies zeigt erneut, dass die Nutzung sozialer Medien allein keine große Bewegung auslösen kann. Nach den erfolgreichen Umstürzen in Tunesien, Ägypten und Libyen wurde damals voreilig von der Facebook-Revolution gesprochen. Übersehen wurde dabei, dass das Internet keine politischen Revolutionen macht.
Es bedarf mehr, um eine wachsende Protestwelle auszulösen. Was genau, darüber können sich die Soziologen streiten. Ich bin da kein Fachmann, habe mich aber eher gewundert, dass es angesichts der großen Frustration in den USA über das opportunistische Verhalten der Finanzbranche nicht schon viel früher große Proteste gegeben hat. Anders als etwa in Deutschland, sind die direkten Wirkungen der Bankenkrise dort viel mehr zu spüren. Stichworte sind anhaltende Rezession, Einschränkungen in der Kreditvergabe an Unternehmen, Einkommensverteilung auf dem Niveau von Entwicklungsländern.
Die Finanzbranche dagegen hat sich in den USA strikt rational verhalten und zwar rational in dem Sinne, dass die eigene Wohlfahrt bzw. die der eigenen Angestellten maximiert wird. Dies ist ein Effekt, der von marktwirtschaftlichen Systemen zunächst einmal gewollt ist, weil, so die Annahme der traditionellen Ökonomie, die individuelle Wohlfahrtsmaximierung auch die der gesamten Gesellschaft erhöht. Dies funktioniert in perfekten Welten insbesondere dann, wenn die Marktteilnehmer die negativen Folgen ihres Handelns selbst tragen, sie also keine externen Effekte verursachen. Mittlerweile dürfte der durch die Finanzbranche in den letzten Jahren angerichtete Schaden alle GAUS von Kernkraftwerksunglücken übersteigen.
Aber ich will hier jetzt nicht abschweifen, denn eigentlich interessiert mich die Frage, ob die Wall-Street-Proteste sich weiter ausweiten können und gar “tahirsche Ausmaße” annehmen können. Ich bin da noch etwas skeptisch, denn
- bis vor drei Jahren beruhte das westliche Finanzmarktmodell auf einem breiten Konsens der Wirtschaft und der Gesellschaft.
- und der Protestbewegung fehlen die alternativen Ziele.
Zu 1. Die Kritik am Verhalten der Banken und anderer Finanzmarktteilnehmer ist erst 2008 wirklich angewachsen. Bis dahin haben wir in der Wirtschaft und Gesellschaft das Finanzsystem vergleichsweise unkritisch begleitet. Das ist kein Wunder, denn wir haben kollektiv davon profitiert bzw. haben geglaubt davon zu profitieren.
Zu 2. Die Protestbewegung in den USA richtet sich zwar gegen das opportunistische Verhalten der Banken (und das vollkommen zurecht), es ist aber (noch?) nicht klar, wofür die Bewegung eintritt. Ich will sagen, ihr fehlt das alternative Gesellschafts- oder Regulierungsmodell. Ich finde diverse Vorwürfe der Protestler absolut gerechtfertigt und sympathisiere daher mit den Aktivisten. Die Finanzbranche muss hier spüren, dass sie mit ihrem Verhalten den gesellschaftlichen Konsens verlassen hat und gerade nicht die Funktionen erfüllt hat, die von einem gut funktionierendem Finanzsystem erwartet werden.
Aber die Forderungen nach strengeren Auflagen für die Finanzbranche sind schnell formuliert, die Konsequenzen daraus sind jedoch vollkommen unklar. Dies bedeutet nicht, dass die partikular formulierten Forderungen alle unsinnig sind. Nur die neue Bewegung wird erst noch ein Forderungskern herausgeschälen müssen, um eine breitere Akzeptanz zu bekommen.
Wichtig ist aber, dass die Diskussion über die Neuausrichtung des Finanzsektors die akademischen Studierstuben verlässt und die Straße erreicht. Dies wird auch die globale Finanzelite nachdenklich machen.
Berichte über Occupy Wall Street
FAZ: „Occupy Wall Street“ Die Unermüdlichen wollen Amerika wecken (6.10.11):Angefangen hatte alles mit einem Häufchen junger Leute, die das Finanzzentrum an der Wall Street besetzen wollten. Langsam breitet sich die Protestbewegung aus – die Ziele der Demonstranten bleiben jedoch unklar.
Querschüsse: “Occupy Wall Street” oder: “Was gut ist für JP Morgan, ist gut für Amerika?”(6.10.11): In Europa hat die Schieflage der belgisch-französischen Großbank Dexia die Politiker alarmiert. Die Aktienmärkte sind nach wochenlanger Talfahrt in eine Phase starker Volatilität eingeschwenkt und drohen, noch weiter einzubrechen. Negative Entwick-lungstendenzen gibt es wahrlich genug, in Europa, in den USA. Zu rechnen ist aber ebenso mit krisenverschärfenden Entwicklungen andernorts, die bisher kaum oder gar nicht als solche wahrgenommen werden – in China zum Beispiel.
HB: „Occupy Wall Street“Obama adelt Demonstranten (6.10.11): Am Anfang war es ein Häuflein Aufrechter – jetzt werden sie sogar durch Barack Obama geadelt: Er habe Verständnis für die Wall-Street-Demonstranten, sagte der US-Präsident. Deren Kapitalismuskritik wird damit hoffähig.
NYT-DB: On Wall Street, a Protest Matures (3.10.11): “I think a good deal of the bankers should be in jail.” That is what Andrew Cole, an unemployed 24-year-old graduate of Bucknell University, told me Monday morning in Zuccotti Park, the epicenter of the Occupy Wall Street movement. Mr. Cole, an articulate young man dressed in jeans, a sweatshirt and with a blue wool beanie on his head, had just arrived by bus from Madison, Wis., where he recently lost his job.
Ausgewählte Beitrag zu dem Einfluss von Social Media auf Proteste
FAZ-Blogs: Jeder Twitt ein Tritt (6.2.11): Die Welle der Proteste war gerade von Tunesien nach Ägypten weitergeschwappt, als sich Beobachter schon fragten, ob am Nil nun die nächste von Facebook und Twitter getriebene Revolution stattfände. Nach der mehrtägigen Abschaltung des Internets, welche die massiven Proteste im Land eher nicht abschwächte, könnte ich es jetzt kurz und schmerzlos machen und antworten: Nein, die nächste Facebook-Revolution in Ägypten wurde abgeblasen oder zumindest vertagt.
Spon: Demokratie – Die Revolution, die keine war (31.1.11): Der erfolgreiche Umsturz in Tunesien und der Volksaufstand in Ägypten werden in diesen Tagen wieder als „Facebook-Revolutionen“ bezeichnet, gelobt wird die befreiende Kraft der Technologie. Das sei naiv und falsch, sagen Kritiker.
Bloomberg: Twitter Can Start a Party but Can’t Keep It Going: Noah Feldman (3.10.11)
Sehr guter Beitrag! Im Grunde ist ja das US-Rettungspaket zum Großteil in den Finanzsektor geflossen. Mit Ausnahme vielleicht von den Autobauern. Und das Geld haben die Banken genommen und haben es am Markt investiert. Sie haben Aktien, Gold, Silber und anderes Zeug damit gekauft und eine neue Blase entstehen lassen. Beim Bürger ist von all dem Geld nichts angekommen. Sie Institute verleihen kein Geld mehr. Statt dessen erhöhen sie wie verrückt die Gebühren.
Vielleicht ist an dieser Stelle der Begriff der „moralischen Ökonomie“ ja von Nutzen. Es gibt (sehr vereinfacht gesagt) einen Punkt, an dem die Menschen nicht mehr das Gefühl haben, das zurückzubekommen, was sie gegeben haben. Wird dieses Gefühl des Ungleichgewichts stärkter, kommt es gut und gerne zum Aufstand. Damit hat sich auch die Frage geklärt, wofür die Menschen eintreten. Es geht gar nicht darum, einen Alternativplan vorzulegen, sondern darum, auf dieses Ungleichgewicht aufmerksam zu machen.
Ich erinnere auch an den Begriff des „Wutbürgers“. Setzt sich ein „Wutbürger“ wirklich für eine alternative Welt ein, oder geht es in erster Linie darum ein lautes „Nein, bis hierhin und nicht weiter!“ von sich zu geben?
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