Aktuell tobt durch die internationalen Feuilletons eine gesellschaftskritische Debatte, in deren Mittelpunkt unser Finanz- und Wirtschaftssystem steht. Ein Kern dieser Debatte ist, dass Teile der Wirtschaft unsere Gesellschaft machtpolitisch “erpressen”, um ihre wie auch immer definierten Interessen durchzusetzen. Fälschlicherweise wird daraus eine Wirtschaftsliberalismus-Links-Debatte gemacht, die ich so nicht sehe. Ich sehe aber, dass auch liberale Denker berechtigterweise die Kritik der Linken an gesellschaftlichen Zuständen aufgreifen ohne dabei die Handlungsempfehlungen linker Denker zu übernehmen.
Einen daraus folgenden wie auch immer gearteten Konsens für linke Gesellschaftmodelle (wie sehen die eigentlich in der Praxis aus) sehe ich nicht und halte ich auch nicht für wünschenswert. Vielmehr kommt es verkürzt dargestellt darauf an, die machtmotivierten Entgleisungen unseres Systems zu korrigieren und vor allem dort einzugreifen, wo sich Gruppen ohne Gegenleistung Vorteile zu Lasten der Gemeinschaft verschaffen.
Aber welche alternativen Gesellschaftsentwürfe gibt es denn noch? Ich nahm dazu zwei Bücher aus meiner Abteilung Philosophie und Ethik mit Ideen in die Hand, die vielleicht nun wieder populär werden könnten. Eines davon ist vom US-amerikanischen Soziologen Amitai Etzioni und heißt “Die Verantwortungsgesellschaft”. Etzioni galt (und gilt vielleicht immer noch) als einer der Vordenker des Kommunitarismus, einer Denkrichtung die auch als der Dritte Weg zwischen Sozialismus und Kapitalismus angesehen wurde. Das Buch ist vor über 14 Jahre erschienen. Mein Eindruck, der täuschen kann: Nach einem kurzen Hype um die Jahrtausendwende ist es, aus welchen Gründen auch immer, wieder ruhig um die Kommunitarier geworden.
Allerdings könnte sich dies angesichts der aktuellen Debatte wieder ändern. Möglicherweise bietet der Kommunitarismus Konzepte zwischen Individualismus, Liberalismus und Gemeinschaftssinn, die durchaus breitere Akzeptanz finden könnten.
Vor drei Jahren verstand Wikipedia unter Kommunitarismus einmal eine kapitalismus- bzw. liberalismuskritische Strömung in der politischen Philosophie. Das schien mir etwas kurz gesprungen zu sein. Als kapitalismuskritische Denkrichtung habe ich den Kommunitarismus nicht verdrahtet, eher als ein Konzept, das den Individualismus in Form eines opportunistischen Egoismus kritisiert und einen Mangel an Gemeinschaftssinn in modernen Gesellschaften diagnostiziert. Mittlerweile hat das Kollektiv die Erklärung angepasst und schreibt:
“Unter Kommunitarismus (von lat. communitas, Gemeinschaft) versteht man eine Weltanschauung, die die Verantwortung des Individuums gegenüber seiner Umgebung und die soziale Rolle der Familie betont. Kommunitarismus entwickelte sich um 1980 als kritische Reaktion auf die Philosophie von John Rawls in den USA. Als Hauptvertreter gelten unter anderem Alasdair MacIntyre, Michael Walzer, Benjamin R. Barber, Charles Taylor und Amitai Etzioni.”
Ein Leitgedanke des Kommunitarismus ist, “dass jedes Mitglied in einer Gemeinschaft allen in dieser Gemeinschaft etwas schuldet und umgekehrt. So ist es nicht verwunderlich, dass der Kommunitarismus ein Gleichgewicht zwischen individuellen Rechten und sozialen Pflichten propagiert.”
Dieser Satz erinnert mich ein wenig an die Kritik am opportunistischen Individualismus im Finanzsystem und eine Rückbesinnung auf die gemeinschaftliche Werte. Ist das kommunitaristisches Gedankengut? Sind die weltweiten und nun leider wieder in Vergessenheit geratenen Aktivitäten zum Klimaschutz, die ja auch Beschränkungen des Individuums zu Gunsten der Gemeinschaft wünschenswert werden lassen, nicht auch kommunitaristische Denkansätze?
Tatsächlich kann der Kommunitarismus heute (noch?) nicht als ein homogenes Paradigma angesehen werden. Der Philosoph Diplom-Sozialwirt ergänzt dazu auf seiner Homepage ganz treffend:
“Die Kommunitaristen bilden keine einheitliche, abgrenzbare Gruppe, sie bezeichnen sich meisten selbst gar nicht als solche. Sie werden von anderen als solche bezeichnet und zu einer Gruppe zusammengefaßt.
Die Kommunitaristen dürfen nicht mit den Kommunisten verwechselt werden. Ihre starke Betonung der Gemeinschaft bedeutet außerdem nicht, daß sie etwa ähnlich wie die Faschisten die Demokratie und die freie Gesellschaft durch die autoritäre Volksgemeinschaft o. ä. ersetzen wollen. Es geht den Kommunitaristen um eine Stärkung gemeinschaftlicher Werte in einer freien und demokratischen Gesellschaft. (Amitai Etzioni war Berater von Präsident Clinton und ein beliebter Gesprächspartner deutscher Politiker aus verschiedensten Parteien.)”
Was ich nicht sehe, ist, dass der Grundgedanke des Kommunitarismus dem liberalen Individualismus entgegengesetzt ist. Er setzt ihm nur dort Schranken, wo mit Rechtfertigung des “liberalen Individualismus” Einzelne die Interessen der Gesellschaft ausbeuten und gerade so liberale Prinzipien und individuelle Freiheitsrechte außer Kraft setzen.
Es lohnt sich aber, dieses Thema im Auge zu behalten. Der Einstieg über die Wikipedia erscheint mir aber bei allem Respekt für das Online-Lexikon nicht geeignet zu sein. Ich habe hier noch ein paar weitere online erhältliche Quellen zusammen gestellt. Erstaunlich ist, dass man dieser Ansatz in der aktuellen Debatte bisher nicht aufgetaucht ist. Dabei könnten doch gerade die darauf basierenden Vorschläge gut zu der aktuellen Gesellschaftskritik passen.
Beiträge zum Kommunitarismus
Ein Spezial der Fachzeitschrift Aus Politik und Zeitgeschichte hat sich in Ausgabe 16-17/2001 ausschließlich mit dem Thema Kommunitarismus befasst. Im Editorial hieß es u.a. : “Neue Konzepte in Politik und Wirtschaft werden gern alsDritte Wege apostrophiert. Zu Zeiten der Konfrontation zwischen Kapitalismus und Kommunismus sollten diese eine Art Kompromiss zwischen „Gut“ und „Böse“ darstellen. Heute werden Dritte Wege zwischen zwei Extremen im eigenen System gesucht. Derzeit steht der Begriff für neues sozialdemokratisches Regierungshandeln in Europa. Es war Tony Blair, der den neuen alten Leitbegriff wieder aufgegriffen hat. Seit seinem Wahlsieg dient das Schlagwort der Legitimierung neuer sozialdemokratischer Regierungsansprüche – auch in Deutschland. Die „neue Mitte“ besetzen hier nach eigenem Bekunden die Sozialdemokraten.” Neben diesem Editorial gibt es fünf weitere Beiträge, die schon einen recht guten Einblick bringen:
- Der Dritte Weg – Königsweg zwischen allen Ideologien oder selbst unter Ideologieverdacht? (Roland Sturm)
- Was sind Dritte Wege? (Alexander Gallus / Eckhard Jesse)
- Dritter Weg und Kommunitarismus (Hans Vorländer)
- New Economy und die Politik des Modernen Dritten Weges (Lothar Funk)
- Tony Blair „im Dickicht der Städte“ (Frank Eckardt)
Thomas Knapp: Was ist Kommunitarismus?
Irene van Staveren: Communitarianism and the Market: A Paradox, Working Paper 2009
Ausgewählte Beiträge zur aktuellen gesellschaftskritischen Debatte
Zeit: Systemkritik Kapitalismus in der Reichtumsfalle (11.11.11): Mehr Schulden statt mehr Wohlstand – das Wirtschaftssystem, wie wir es kennen, funktioniert nicht mehr gut. Warum es sich lohnt, nach Alternativen zu fragen.
HB: Debatte„Der Kapitalismus ist ein systemischer Fehler“ (11.11.11): In den Medien tobt eine neue Kapitalismusdebatte. Wer hat Schuld am Euro-Desaster – Zockerbanken oder Schuldenpolitiker? Die Handelsblatt-Leser äußern in ihren Kommentaren zuweilen weisere Ansichten als manche Experten.
FAZ: Kurszettel gegen Stimmzettel: Warum Habermas nichts von der Krise versteht (11.11.11)
HB: Kapitalismuskritik – Angriff auf die Marktwirtschaft (8.11.11): Auf der Straße begann es, die Medien setzen es fort: die Dämonisierung der Marktwirtschaft. Dabei ist sie nicht Täter, sondern Opfer einer unheiligen Allianz von Bankern und Schuldenpolitikern. Eine Verteidigungsrede
Spon: Unter Apokalyptikern (7.11.11): Jetzt hat sich auch der Philosoph Jürgen Habermas in die Euro-Debatte eingeschaltet: Europa sei auf dem Weg in die “Postdemokratie”, mit Angela Merkel als Erfüllungsgehilfin des Kapitals. Damit hat die Schuldenkrise endgültig das Stadium der Hysterie erreicht.
FAZ: Euro-Krise Rettet die Würde der Demokratie (4.11.11): Papandreou hält dem zerrissenen Europa den Spiegel vor. Ein Kommentar zu Frank Schirrmachers „Demokratie ist Ramsch“. Von Jürgen Habermas
FAZ: Der griechische Weg Demokratie ist Ramsch (1.11.11): Wer das Volk fragt, wird zur Bedrohung Europas. Das ist die Botschaft der Märkte und seit vierundzwanzig Stunden auch der Politik. Wir erleben den Kurssturz des Republikanischen. Von Frank Schirrmacher
Zeit: Zivilgesellschaft Auserwählt und verachtet (16.10.11): Keine Demokratie kommt ohne sie aus: Eine Verteidigung der Eliten. In Deutschland wird wieder nach Orientierung gerufen. Manche scheuen sogar vor dem Wort »Führung« nicht zurück. Doch wenn eine demokratische Gesellschaft ihren Bedarf an klaren Perspektiven befriedigen will, braucht sie dazu Eliten, die den Mut haben, schwierige Themen anzusprechen, neue Gedanken zu entwickeln und ihre öffentlichen Debatten so zu führen, dass möglichst viele daran teilnehmen können. Dass in Deutschland solche Debatten fehlen, liegt auch daran, dass es um die Eliten schlecht bestellt ist.
Stefan Leichners Blog: Schuldenkrise: State of the Art der Krisenbewältigung (10.10.11): Wirtschaftsliberalismus bedeutet „Freiheit der Märkte“ oder genauer gesagt, die Freiheit der Märkte von jeglicher staatlichen oder korporativen Bindung, sprich Beeinflussung, Beschränkung und Regulierung. Entsprechend richtet sich wirtschaftsliberale Politik auf die Zurückdrängung des Einflusses von Staat und etwa auch von Gewerkschaften bzw. auf die Liberalisierung (Öffnung für den Wettbewerb) und Deregulierung von Märkten, die Privatisierung von Staatsbetrieben und natürlich auch auf die Realisierung von Freihandel (Öffnung nationaler Märkte für den inter-nationalen Handel).
FAZ: Hegel und die Finanzkrise – Der Geist ist heiß: Der reiche und der arme Pöbel (24.9.11): Was der Philosoph Hegel über die Folgen der Finanzkrise wusste und warum seine Staats- und Rechtsphilosophie gerade auch in ihren Schwachpunkten hochaktuell ist.
Spon: Neoliberalismus nach Lehman-Pleite – Das unzähmbare Monster (10.9.11): Seit dem Crash der US-Bank Lehman Brothers gilt der freie Markt als gescheitert. Selbst Erzkonservative flirten inzwischen mit dem Sozialismus, der Staat mischt wieder mit. Der Neoliberalismus aber lebt – er hat sich so stark im Finanzsystem eingenistet, dass man ihn kaum noch wegregulieren kann.
Zeit: Unterwegs zur Plutokratie (3.9.11): Hemmungsloser Reichtum, betrogene Bürger: Der entfesselte Markt bringt die Demokratie in Gefahr
HB: Wer zügelt die Gier des Staates? (2.9.11): Alle Welt schimpft auf entfesselte Finanzmärkte. Die Rolle des Staates hat keinen Platz in der gängigen Kapitalismuskritik. Warum eigentlich nicht? Die neuen Kritiker haben ein kurzes Gedächtnis.
FAZ: Deutschland und die Finanzkrise – Groß war unser Selbstbetrug (2.9.11): Wird Deutschland langsam zu „Deutschland“? Wenn das mit der Finanzkrise so weitergeht, sollten wir unser Land besser in Anführungszeichen setzen. Wer Europa neu aufstellen will, muss zuerst seine eigenen Verhältnisse in Ordnung bringen.
FTD: Angst vor der Krise Hatte Karl Marx doch recht? (1.9.11): In Zeiten der Krise werden die Werke des deutschen Kommunisten wieder populär. Selbst konservative Politiker und Ökonomen berufen sich auf ihn – leider aus den falschen Gründen
European: Gute Absichten bewirken nicht automatisch gute Politik (29.8.11): Die Politik eiert in finanzpolitischen Fragen von einem Vorschlag zum nächsten – man will den Wähler schließlich nicht verprellen. Doch politisches Stehvermögen war noch nie gleichbedeutend mit Weitsicht.
FAZ: Krise des Bürgertums – Auch die Linken haben nichts geahnt (28.8.11): Links sind höchstens noch die Erinnerungen: Als die Finanzmärkte entfesselt wurden, entschied sich die rot-grüne Regierung, das Großkapital zu fördern. Wir brauchen bürgerliche Kontrollen, die der Fuck-you-Politik der Finanzwelt etwas entgegensetzen.
FAZ: Eine Verteilungsfrage – Die nächste Stufe der Finanzkrise (20.8.11): Welche Möglichkeiten hat die Politik noch, des Finanzsystems Herr zu werden? Die Lösung der Schuldenkrise ist eine Verteilungsfrage: Wer bezahlt, was längst ausgegeben wurde?
FAZ: Bürgerliche Werte – „Ich beginne zu glauben, dass die Linke recht hat“ (14.8.11): Im bürgerlichen Lager werden die Zweifel immer größer, ob man richtig gelegen hat, ein ganzes Leben lang. Gerade zeigt sich in Echtzeit, dass die Annahmen der größten Gegner zuzutreffen scheinen. Von Frank Schirrmacher
Debatte zum Beitrag Schirrmachers
- Ursprungsbezug ist der Beitrag im Telegraph: I’m starting to think that the Left might actually be right von Charles Moore
- Cicero: Frank Schirrmacher und die Erosion des Bürgertums von Gunter Hofmann
- Zeit: Kapitalismus – Anständig zahlen von Uwe Jean Heuser: Haben die Kapitalismuskritiker nicht doch recht behalten? Nein, aber die Reichen müssen jetzt mehr leisten.
- Herdentrieb: Warum Frank Schirrmacher immer noch kein Linker ist
- TAZ: Konservative zweifeln an ihren Analysen – Aus Erfahrung klüger von Robert Misik
- PS: Ist der Kapitalismus dem Untergang geweiht? Von Nouriel Roubini
- Tagesanzeiger: Der rechte Abschied von der Politik
- Spon Warum Frank Schirrmacher irrt: von Jan Fleischhauer
FAZ: Krawalle in England – Woher kommt diese Wut? (14.8.11): Die Krawalle in England sind schlimm. David Camerons Vorschlag, beteiligten Sozialmietern die Wohnung zu kündigen, dürfte auf offene Ohren stoßen. Doch die Plünderer haben ein Vorbild für ihre Gier: das britische Establishment.
Diese und viele weitere Beiträge aus den letzten Jahren habe ich auf der Sonderseite „Philosophie, Ethik und Gesellschaft“ zusammen getragen
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