Warum der Aktienmarkt so gestört ist (Teil 1): Auf Spurensuche mit der Kay-Review

by Karl-Heinz Thielmann on 12. März 2013

Die Finanzkrise von 2008 löste bei vielen Menschen tief greifende Zweifel über die Funktionsweise der Finanzmärkte aus, zumal einfache Erklärungsansätze für das Zustandekommen der Turbulenzen offensichtlich keine befriedigenden Antworten liefern konnten.

Eine der Initiativen, um etwas besser zu verstehen, was schiefgegangen war und was es zu verbessern gilt, ging vom britischen Wirtschaftsministerium aus. Im Juni 2011 wurde der in Großbritannien sehr bekannte Wirtschaftsprofessor John Kay damit beauftragt, zu überprüfen, inwieweit der Aktienmarkt überhaupt noch seine ökonomische Funktionen erfüllt. Als wesentliche Funktionen des Aktienmarktes wurden definiert: Er soll a) zur Schaffung und Verbesserung von erfolgreichen britischen Unternehmen führen sowie b) die Kapitalanleger an deren Erfolg partizipieren zu lassen.

Im Juli 2012 legte John Kay nun seinen Bericht vor, die Kay-Review. In ihm stellte er fest, dass der britische Aktienmarkt seinen eigentlichen Aufgaben nicht mehr nachkommt. Als Quelle der Finanzierung von produktiven Investitionen spielen Aktien in Großbritannien praktisch keine Rolle mehr. Stattdessen dienen Börsengänge im Moment fast nur noch dem Ausstieg von Alt-Investoren. Immer mehr Unternehmen werden zudem von der Börse genommen oder ihr Kapital durch Aktienrückkäufe reduziert. Weiterhin führt die wachsende Dominanz von an kurzfristigen Performancezielen orientierten Vermögensverwaltern dazu, dass immer mehr Aktieninvestoren ihr Anlageverhalten an den Aktionen anderer Marktteilnehmer orientieren und immer weniger an den fundamentalen Daten derjenigen Unternehmen, in die eigentlich investiert wird. Damit gehen die Zusammenhänge zwischen Wirtschaftsentwicklung, Börsenkursen, Unternehmenserfolg und Anlageergebnis verloren.

Als Ursache für diese Fehlsteuerung wurde das kurzfristige Denken sowohl von Unternehmen wie auch von Investoren identifiziert. Als Gründe für diese Entwicklung wurden wiederum zwei zentrale Ursachen benannt:

• Falsche Leistungsanreize bei Unternehmen und Investmentgesellschaften.

• Ein genereller Vertrauensverlust am Kapitalmarkt.

In Hinblick auf die Anreizsetzung sieht Kay vor allem ein Problem darin, dass es in vielen Bereichen des Kapitalmarktes Belohnungen für Aktivitäten gibt, die längerfristig kontraproduktiv sind: Sei es, dass Führungskräfte Reorganisationen oder Restrukturierungen nur durchführen, weil sie sich gegenüber ihren Vorgängern profilieren müssen; Börsenhändler gemessen am Volumen ihrer Transaktionen vergütet werden; Analysten an der Zahl ihrer Empfehlungen und den hieraus generierten Umsätzen bewertet werden; oder Finanzberater nur dann Geld verdienen können, wenn sie ihre Kunden zu an sich überflüssigen Umschichtungen überreden.

Kurzfristiges Denken bei Unternehmen hat vor allem zwei Ausprägungsformen: zu niedrige Investitionen und „hyperaktives“ Management. Mit zu niedrigen Investitionen sind sowohl zu niedrige Ausgaben für Kapitalgüter wie auch ungenügende Aufwendungen für Forschung und Entwicklung sowie für die Fortbildung der Mitarbeiter gemeint. Unternehmen, die zu wenig investieren, können kurzfristig überdurchschnittliche Rentabilitätskennzahlen aufweisen, verspielen aber ihre Wettbewerbsposition und sind dann längerfristig in der Existenz gefährdet.

Unter „hyperaktivem“ Management versteht Kay den Aktionismus vieler Unternehmensführer, deren Han-deln vor allem darauf ausgerichtet ist, Taten zu produzieren. Anstatt die operative Performance ihrer Firma zu stärken, setzen sie auf permanente interne Reorganisationen; bzw. richten ihre Strategie vorwiegend auf Unternehmenskäufen und -verkäufen aus; oder fabrizieren durch Financial Engineering (= Bilanztricksereien) finanzielle Erfolge, die mit der eigentlichen operativen Tätigkeit nichts mehr zu tun haben.

Kurzfristiges Denken bei Investmentgesellschaften macht Kay weniger an dem Aufstieg von High Frequency Trading fest, auch wenn dies ein Symptom der Tendenz zur Kurzfristigkeit ist. Trading Aktivitäten hat es an der Börse immer gegeben und ökonomisch gesehen erfüllt Trading die Funktion, Liquidität für Langfristinvestoren zu schaffen. Deshalb sieht Kay das Problem weniger darin, dass traditionell kurzfristig orientierte Trader auch weiterhin kurzfristig sind. Das Problem ist, dass eigentlich langfristig ausgerichtete Investoren wie Versicherungen oder Investmentfonds selbst zunehmend kurzfristig agieren. Diese Tendenz hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass die Performance von Investmentmanagern sowohl kurzfristig wie langfristig in Vergleich mit Marktindizes sowie Konkurrenten gemessen wird. Keiner kann und will es sich leisten, in Performanceranglisten zurückzufallen. Wenn ein Markt fundamentalen Trends entgegenläuft, muss sich auch der Fondsmanager kurzfristig gegen die langfristig bessere Struktur positionieren, weil er sonst Gefahr läuft, in den Rankings zurückzufallen und Kunden zu verlieren. Deswegen gleichen sich fast alle Fondsmanager sehr nah an den Marktindex an, auch wenn sie etwas anders behaupten.

Das Problem wird noch dadurch verschärft, dass die Beaufsichtigung der Fondsmanager – sei es durch die staatliche Finanzaufsicht oder durch interne Risikomanager – darauf abzielt, Risiken, soweit es geht zu vermeiden. Ein Fondsmanager, der ein deutliches Abweichungsrisiko zu seinem Index eingeht und dafür nicht sofort Recht bekommt, geht für sich das persönliche Risiko ein, hierfür bestraft zu werden, selbst wenn er längerfristig gesehen völlig richtig positioniert ist.

Auch die Rolle der Finanzmarktaufsicht wird kritisch beleuchtet. Insbesondere diejenigen Vorschriften werden infrage gestellt, die auf die Theorie effizienter Märkte zurückgehen, nach der ein Markt um so effizienter ist, je mehr Informationen zur Verfügung stehen. Dies habe dazu geführt, dass die meisten Finanzmarktteilnehmer eine enorme Menge nichtssagender Daten produzieren, die Investoren sogar zu falschen Aktionen verleiten können. Zudem hat ein auf Kursschwankungen ausgerichtetes Risikoverständnis bei der Regulierung dazu geführt, dass Versicherungen und Pensionsfonds sich vom Aktienmarkt sehr stark zurückgezogen haben. Kaum eine Rolle spielt bisher bei der Finanzmarktregulierung, welche Anreizstrukturen bei Fondsmanagern, ihren Beratern und Vertriebspartnern bestehen.

Ein weiteres schwerwiegendes Problem sieht Kay darin, dass viele Fondsmanager, wenn ihnen bei einem ihrer Investments etwas nicht gefällt, lieber die Aktien verkaufen als auf das Management Einfluss zu nehmen. Viele Fondsmanager scheuen die Kosten und die Mühen, die mit einem Engagement auf Hauptversammlungen oder anderen Investorentreffen verbunden sind. Zudem liegen viele Aktien nicht mehr wie früher in den Händen von Privataktionären und inländischen Institutionen, sondern überwiegend in den Händen von relativ gleichgültigen ausländischen Investoren und Indexfonds. Managements, die ihrem Unternehmen langfristig schaden, können so leichter agieren. Die direkte Einflussnahme von Fondsmanagern auf Unternehmenslenker wäre aber ein zentraler Punkt, mit dem sie die operative Effizienz von schwachen Firmen verbessern und so zur Verbesserung der gesamtwirtschaftlichen Situation beitragen könnten.

Weiterhin bemängelt Kay, dass viele Analysten und Investoren positiv auf Unternehmensmeldungen reagieren, die kurzfristige Erfolge auf Kosten der langfristigen Marktposition generieren. Somit würde ein Umfeld geschaffen, in dem Vorstände belohnt werden, wenn sie Entscheidungen treffen, um kurzfristig gute Zahlen zu produzieren, dabei aber die langfristige Wettbewerbsposition gefährden. Dies können übertriebene Kostensenkungen oder unsinnige Akquisitionen sein. Allerdings sind die Beispiele, die Kay zu diesem Punkt anführt, wie GEC, ICI oder BP schon relativ alt. Insofern ist zu hoffen, dass zumindest in diesem Punkt schon eine Verbesserung eingetreten ist.

Den Vertrauensverlust an den Finanzmärkten wird von John Kay vor allem auf die wachsende Zersplitterung und Anonymisierung des Finanzmarktes zurückgeführt. Vor 50 Jahren war der Privatanleger dominierend, der Aktien von Unternehmen kaufte, die er persönlich kannte. Heutzutage investiert der Anleger bei einer Institution, die in Fonds anlegt, die wiederum in Subfonds aufgespalten sein können. Diese legen direkt in Aktien und andere Wertpapiere an oder indirekt über Derivate bzw. strukturierte Produkte. Insbesondere die strukturierten Produkte können extrem intransparent sein und böse Überraschungen bergen. Und zu jeder Stufe gibt es spezialisierte Berater, die jeweils eine eigene Interessenlage einbringen.

Im Finanzbereich gibt es inzwischen eine Vielzahl von Situationen, bei denen sich Anbieter, Kunden und Berater gegenüberstehen und unterschiedliche Informationen über den jeweils relevanten Sachverhalt haben. Für diejenigen mit einem Informationsvorsprung besteht ein großer Anreiz, ihren Vorteil auszunutzen. Dieser Anreiz ist umso größer, je anonymer die Beziehung zwischen den einzelnen Akteuren ist. Je weniger die Interessenlage der mit unterschiedlichen Informationen ausgestatteten Geschäftspartner übereinstimmt und umso geringer die persönliche Beziehung zwischen ihnen ist, desto größer ist die Verführung zum Missbrauch von Expertenwissen. Die Finanzkrise 2008 war nicht zuletzt deshalb so schlimm, weil die Anonymisierung und Zersplitterung der Finanzintermediaton dazu führte, dass Risiken, die z. B. durch Immobilienspekulation in Kalifornien entstanden waren, global über mehrere Stufen weitergereicht und damit völlig unkontrollierbar wurden. Sie konnten dann z. B. auf einmal zur plötzlichen Pleite einer norwegischen Pensionskasse führen, bevor sich die Fondsmanager überhaupt bewusst werden konnten, in was sie eigentlich investiert hatten.

Als Konsequenz hat John Kay eine Reihe von Maßnahmen vorgeschlagen, um einerseits das Vertrauen an den Kapitalmärkten wieder herzustellen und um andererseits Anreize für Finanzmarktteilnehmer zu schaffen, die dem Wohl der Gesamtheit dienen.

Die wichtigsten Einzelempfehlungen sind:

– Verhaltenskodexe sollen entwickelt werden, die die treuhänderische Verantwortung von Unternehmensführern und Fondsmanagern in den Vordergrund stellen.

– Die Kommunikation von Investoren und Unternehmen sollte verbessert werden wie z. B. durch die Einbeziehung von Investoren bei Management-Personalentscheidungen. Weiterhin soll die Wahrnehmung von Investoreninteressen effektiver gestaltet werden wie z. B. durch Einrichtung einer Koordinationsstelle für Investoreninteressen.

– Die Finanzmarktkommunikation von Unternehmen soll sich nicht mehr an der kurzfristigen Steuerung von Ertragserwartungen orientieren.

– Die Effektivität von Unternehmenstransaktionen soll besser analysiert werden.

– Die Finanzmarktregulierung soll ihre Aufmerksamkeit darauf richten, wie die treuhänderischen Beziehungen zwischen einzelnen Finanzmarktteilnehmern besser geregelt werden können.

– Vermögensverwalter sollen zu vollkommener Transparenz gezwungen werden, einerseits was die Kostenbelastung für ihre Mandate angeht, andererseits aber auch was Zusatzeinnahmen (wie z. B. aus der Aktienleihe) betrifft.

– Verpflichtungen zum kurzfristigen Performancereporting sollen aufgehoben werden, stattdessen sollen Fondsmanager ihre Entscheidungen besser begründen.

– Risikomodelle sollen von einer Regierungskommission in Hinblick auf ihre tatsächliche Aussagekraft überprüft werden. Darüber hinaus soll die Praxis aufgegeben werden, dass Aufsichtsbehörden spezifische Risikomodelle vorschreiben.

– Die Bezahlung sowohl von Vermögensverwaltern als auch von Managern darf sich nicht mehr an der Erreichung von kurzfristigen Performancezielen orientieren, sondern sollte auf die Erreichung längerfristiger Ziele ausgerichtet sein. Bonuszahlungen sollen nur noch anhand von dauerhaften Erfolgskriterien berechnet und zeitverzögert ausgezahlt werden dürfen.

– Die Möglichkeiten für Privataktionäre, Aktien direkt zu halten, sollen wieder verbessert werden.

Die Schlussfolgerungen Kays sind im Wesentlichen nachvollziehbar und zu begrüßen. Lediglich die von ihm vorgeschlagene Aufweichung der Verpflichtung zum umfassenden Performancereporting ist kritisch zu sehen. Eine möglichst umfassende Information von Investoren auch mit Performancezahlen erscheint unserer Einschätzung nach im Sinne größtmöglicher Transparenz wünschenswert. Wenn die Investoren die Daten falsch bewerten, dann sollte nicht die Information vermindert werden, sondern besser erläutert werden.

Dieser Text wird fortgesetzt durch einen zweiten Teil, der sich damit befasst, inwieweit sich die Ergebnisse der Kay-Review auf Deutschland übertragen lassen.

Teil 1 und 2 des Textes „Warum der Aktienmarkt so gestört ist“ sind aktualisierte Fassungen von: „Der Kay-Report und seine Bedeutung für Deutschland“, erschienen am 1. Oktober 2012 in „Mit ruhiger Hand“ Nummer 6.

Stich März 13, 2013 um 13:04 Uhr

Wer wirklich glaubt, dass der Aktienmarkt, bzw viele Investoren, kurzfristige Ereignisse zu hoch bewertet, kann ja relativ leicht Geld verdienen. Sowohl Informationsbeschaffung wie auch das Handeln selbst sind heute mit deutlich geringeren Kosten belastet als noch vor 20 Jahren, damit lohnt sich das Ausnutzen auch kleinerer Vorteile. Ein Paradies für die, die aufgrund eigener Analysen eine bessere Einschätzung haben als der Durchschnitt.

Ein Teil des kurzfristigen Denkens ist meiner Meinung nach aber auch auf die globalisierte Wirtschaft zurückzuführen, in der Firmen in kürzester Zeit erheblich Marktanteile verlieren können (z.B. Nokia). Das ist dann also lediglich eine sinnvolle Anpassung an die veränderte Umwelt. In Firmen wird dies übrigens unter dem Stichwort „Flexibilisierung“ (der Produktionsfaktoren, der Entwicklung, der supply chains etc) als Erfolgsfaktor fürs Überleben in einer sich schneller verändernden Welt gehandelt.

Die mangelnde Verantwortung der Aktienbesitzer (lieber verkaufen als versuchen, das Management zu beeinflussen) könnte in der Tat ein Problem sein. Hier wäre Regulierung vielleicht nützlich. Vor allem dahingehend, dass der Einsatz von „poison pills“ gegen Übernahmen verhindert wird, denn diese dienen ja vornehmlich zur Absicherung des bisherigen Managements und nicht dem Schutz der Eigentümer. Damit wäre sichergestellt, dass der durch Verkäufe sinkende Kurs auch von neuen Eigentümern, die den Wert des Unternehmens besser einschätzen und steigern können, ausgenutzt werden kann.

FDominicus März 12, 2013 um 07:02 Uhr

Nun mich wundert das Fazit nicht wirklich. Wir leben in einer Kultur in der Eigentum wie ein Schimpfwort behandelt wird. Nur wenn weise Politiker dieses Eigentum in die Hand bekommen und dann nach welchen-Grundsätzen-auch-immer verteilen kann „Gerechtigkeit“ erzielt werden.

Ich weise nur auf ein banales Thema hin, was dennoch hochgekocht wurde. Aktionäre sollen über die Gehälter entscheiden. Dafür soll es ein neues Gesetz geben? Deutlicher kann man die Verachtung von Eigentümern m.E. schwerlich ausdrücken.

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