Warum wir keine ehrlichen Politiker wählen würden

by Gastbeitrag on 8. September 2013

Gastbeitrag von Jakob Wega

„Wahrheit ist etwas so Kostbares, dass Politiker nur sehr sparsam damit umgehen“ lautet eines der berühmtesten Zitate von Mark Twain. Seit seiner Zeit hat sich nur wenig geändert. Doch warum ist dies so?

Haben Politiker ein spezielles Unwahrheitsgen in sich? Dies ist unwahrscheinlich, da das Phänomen eines gestörten Umgangs von Politikern mit der Wahrheit quer über alle Völker, Nationen, politische Systeme und zeitliche Zusammenhänge besteht. Denn die verschiedenartigsten Menschen kommen mit unterschiedlichen Voraussetzungen un d Absichten in die Politik. Dennoch verhalten sie sich nach einer gewissen Zeit alle sehr ähnlich, was sich insbesondere im Umgang mit der Wahrheit zeigt.

Der Grund, warum Politiker lügen, liegt darin begründet, dass sie gewählt werden. Ein Politiker, der die Wahrheit sagt, hat nirgendwo auf der Welt auch nur die leiseste Chance, ein Amt zu erlangen.

Der langjährige Luxemburger Regierungschef Jean Claude Juncker hat einmal gesagt: „We all know what to do, we just don‘t know how to get re-elected after we have done it“. Wenn man in einem kleinen Land regiert, kurz vor der Rente steht und fast jeden Wähler persönlich kennt, darf man sich auch mal den Luxus einer ehrlichen Äußerung erlauben. Ansonsten aber gilt: Auf keinen Fall irgendwie in Widerspruch zu potenziellen Wählern geraten. Und das geht nur, wenn man lügt.

Denn jeder Wähler hat eigene Interessen, und die widersprechen sich. Der eine will mehr Schulen, der andere mehr Autobahnen. Der eine will Steuersenkungen, der andere fordert Subventionen. Usw., usw. Zudem sind selbst einzelne Wähler in ihren Wünschen oft sehr inkonsistent. Jeder will Verkehrsinfrastruktur, aber keiner will Verkehrslärm. Jeder will ein leistungsfähiges Stromnetz, aber keiner will dieses in der Nähe seines Vorgartens. Gute Schulen sollen einerseits nah genug sein, damit der eigene Nachwuchs erstklassig ausgebildet wird. Andererseits sollen Schulen ganz weit weit weg sein, da Kinder ja bekanntlich Lärm, Dreck und Zerstörung bringen.

Und vor allem sollen diese Wünsche alle erfüllt werden, ohne dass sie den Geldbeutel belasten.

Geht dies? Natürlich nicht! Aber was würden wir mit mit einem Politiker machen, der uns dies erklärt: Wir würden ihn auslachen, beschimpfen, hassen, für einen Naivling halten, oder anderes. Nur eines würden wir nicht tun: Ihn wählen. Selbst wenn wir schon ganz zynisch und abgebrüht sind, würden wir zumindest erwarten, dass der Politiker zumindest pro forma verspricht, sich für die von uns bevorzugte Sache einzusetzen.

Auch in totalitären Systemen werden Politiker übrigens gewählt, allerdings nicht in einer breit durchgeführten Abstimmung, sondern durch kleine Eliten in Hinterzimmern. Deswegen ist es völlig unerheblich für den Umgang von Politikern mit der Wahrheit, ob sie in einer Diktatur oder in einer Demokratie wirken. In der Demokratie benötigt man nur seltener Gewalt, um sie gegebenenfalls wieder loszuwerden.

Dennoch muss man Politikern nicht grundsätzlich unterstellen, dass sie unehrlich sind. Es sind hingegen die Mechanismen des Politikbetriebs, die diese Menschengruppe dazu bringen, systematisch die Unwahrheit zu sagen.

Ein Indikator dafür, dass viele Politiker im Grunde ihres Herzens versuchen, dem Lügen zu entgehen, ist die Tatsache, dass sich so viele meistens möglichst nichtssagend oder vieldeutig äußern. Dies wird aber von einer kritischen Öffentlichkeit meist recht schnell bemerkt und angegriffen. Bestimmte Journalisten haben sich darauf spezialisiert, mit Fangfragen aus Politikern konkrete Aussagen herauszuholen. Die Politiker reagieren darauf mit Mediatrainings, in denen sie lernen, egal wie die Frage lautet, mit bestimmten vorformulierten Floskeln zu antworten. Dadurch bekommen Politikerinterviews zwar immer mehr den Hauch des Kafkaesken. Fakt aber bleibt: Nichtssagende Äußerungen sind eine Möglichkeit von Politikern, dem Zwang zum Lügen auszuweichen. Denn eine konkrete Aussage bedeutet, dass er quasi zum Lügen gezwungen wird.

Ein weiterer Mechanismus, mit dem Politiker versuchen, dem Lügen zu entgehen, ist die Entscheidungsvermeidung. Besonders unbeliebt sind Entscheidungen, die der Allgemeinheit nützen und eine kleine Gruppe benachteiligen. Wenn diese kleine Gruppe gut organisiert ist, nennt man sie je nach Teilnehmerkreis entweder Lobby oder Bürgerinitiative. Diese zwingen Politiker dann meist, entweder eine richtige Entscheidung nicht zu treffen oder in eine falsche abzuändern. Die Begründung eines solchen Handelns ist dann meist mit Lügen verbunden. Gelegentlich wird die richtige Entscheidung trotz allem durchgezogen. Allerdings dürfen dann niemals die wahren Gründe hierfür genannt werden, es müssen andere, viel bessere erfunden werden. Die besondere Herausforderung ist dann für den Politiker, der kleinen Gruppe, welche die Verlierer umfasst, die Entscheidung so zu verkaufen, dass so aussieht, als ob sie auch davon profitieren würde.

Besser sind Entscheidungen (wie z. B. bestimmte Subventionen), die einer Minderheit stark nützen und der gleichgültigen Mehrheit schaden. Die Minderheit wird alles tun, um in den Medien diese Entscheidung als sehr weitsichtig zu loben. Darüber hinaus wird sie dem Politiker finanziell und logistisch unterstützen, sodass er zumindest etwas Geld in seine Taschen bekommt, ohne dass man ihn direkt schmieren muss.

Andererseits ist es aber natürlich so, dass Politiker im Amt sind, um Entscheidungen zu treffen. Da es sich meist um Sachfragen handelt, die völlig unabhängig von der ideologischen Voreinstellung des Politikers zu treffen sind, sind hier tendenziell unehrliche Politiker im Vorteil. Sie haben keine Skrupel, auf ihre vorgeblichen Prinzipien zu pfeifen und schnell die sachlich richtige Entscheidung zu treffen. Irgendeine Begründung, wie das irgendwie mit Parteiprogrammen, Versprechungen etc. zusammenpasst, lässt sich hinterher schon irgendwie erfinden.

Das inzwischen über Jahrzehnte andauernde Gezerre um ein Atommüllendlager ist ein schönes Beispiel für die Alternativen, die für jeden Politiker im Umgang mit der Wahrheit gelten: Vermeidung von Entscheidungen, inhaltslose Aussagen oder Lügen.

Jeder Regierungschef eines Bundeslandes weiß, dass seine politische Zukunft besiegelt ist, wenn er einem Atommülllager auf dem Boden seines Landes zustimmt. Er wird seinen Wählern schwören, dass er alles tun wird, um eine solche Stätte zu verhindern. Trotzdem muss irgendwann einmal solches Lager irgendwo in Deutschland gebaut werden, es sei denn, man verschifft die Atomabfälle irgendwo hin in die Dritte Welt oder versenkt sie im Meer, was im politisch korrekten Deutschland aber auch völlig ausgeschlossen ist. Deswegen bleibt nur a) die Entscheidung möglichst lange hinauszögern (was ja auch erfolgreich geschieht); und b) wird irgendwann in letzter Minute mit vereinigtem Druck vom Bund und der übrigen Länder das Lager irgendwem aufgedrückt. Der betroffene Ministerpräsident wird dann versuchen, seine Haut zu retten, indem er öffentlich behauptet, dass ein Atommüllendlager gar nicht so schlimm sei, sondern im Gegenteil ein zukunftsweisendes Projekt und wegen der vielen Bundeszuschüsse eine große Chance für sein Land darstelle.

Der Zwang für Politiker, entweder nichts zu tun oder zu lügen, führt in erheblichem Umfang zu sogenannten kognitiven Dissonanzen. Eine große psychologische Hilfe für Politiker ist deshalb, bevor man andere Menschen belügt, vor allem erstmal sich selbst zu belügen. Nur wenn Politiker sich selbst erfolgreich einreden, dass das, was sie machen, gut und richtig ist, können sie ihre andauernden Lügen psychologisch überstehen.

Hier kommt ein Phänomen zum Tragen, dass man auch von Hochstaplern oder Schauspielern kennt: Je mehr man sich in eine Rolle hineinversetzt, je stärker man sich mit der angenommenen Persönlichkeit mit ihren Werten und Meinungen identifiziert, desto überzeugender wirkt man. Wie ein guter Schauspieler muss ein Politiker in eine Rolle schlüpfen können, die jeweils zu seinem Publikum passt. Dies hat zur Folge, dass die Politiker, die sich besonders gut selbst belügen können, nicht nur sich selbst als ehrlich wahrnehmen, sondern auch vielen Wählern als solche erscheinen.

Denn selbst wenn Wähler grundsätzlich Politikern misstrauen, so hegen doch die meisten die Hoffnung, dass es doch einen gibt, der ein bisschen ehrlicher ist als die anderen. Zudem wäre schön, wenn der ein bisschen ehrlichere Politiker auch noch die gleichen Interessen vertreten würde wie der jeweilige Wähler.

Damit entscheiden sich Wähler in ihrem Drang nach Ehrlichkeit möglicherweise genau für den falschen Politiker. Denn Menschen, die sich permanent selbst belügen, bekommen Realität und Imagination auch in anderen Sachverhalten durcheinander. Politiker hingegen, die bewusst und skrupellos lügen, haben sich hingegen ihren unverstellten Blick auf die Realität bewahrt und sind somit besser in der Lage, Entscheidungsalternativen objektiv abzuwägen.

Richtig gefährlich wird es, wenn Politiker das machen, was sie versprechen. Ein tragisches Beispiel für einen Politiker, der gerade scheitert, weil er sich an seine Versprechen gehalten hat, ist Francois Hollande. Nach der Wahl hat er tatsächlich die versprochenen sozialen Wohltaten über die Wähler ausgeschüttet, nur um dann festzustellen, dass sie nicht bezahlbar sind und das Wachstum belasten. Damit das nicht auffällt und man ja auch keine Fehler zugeben darf, wird die Situation jetzt verharmlost und gesundgebetet, also gelogen. Die Konsequenz der Ehrlichkeit beim Einhalten von Versprechungen ist also der Zwang zu Lüge.

„Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen“ hat Ludwig Wittgenstein einmal postuliert. In unserer modernen Medien-Welt ist dieses Prinzip auf den Kopf gestellt. Denn Wähler erwarten genau das Gegenteil. Nur wer permanent über alles Mögliche redet, kann Aufmerksamkeit erregen, sich in den Vordergrund drängen. Nur wer dauernd in der Öffentlichkeit präsent ist, kann wahrgenommen und somit auch gewählt werden. Nur darf man dabei nichts Falsches sagen.

Denn die besondere Missgunst von Journalisten gilt Politikern, die Fehler machen. Natürlich sind Politiker auch Menschen und machen wie alle anderen auch Fehler. Nur dürfen diese auf keinen Fall rauskommen. Und wenn sie herauskommen, dürfen sie auf keinen Fall zugegeben werden, es sei den, sie sind hieb- und stichfest nachzuweisen. Denn die Presse lebt davon, dass sie Skandale produziert. Und wenn man keine echten Missstände mehr aufdecken kann (oder will), dann kann man immer noch irgendeine verunglückte Politikeräußerung zum Thema machen.

Interessanterweise sind Wähler im Akzeptieren von Fehlern viel toleranter als Journalisten. Dies ist vielen Politkern aber nicht klar, weil sie im Alltag vor allem mit Journalisten zu tun haben und nur selten mit echten Wählern. Die panische Angst vor dem Zugeben eines Fehlers treibt Politiker darum insbesondere in absurde Lügen (historisch sind z. B. Bill Clintons Ausführungen dazu geworden, was kein Sex ist).

Würde es denn jetzt etwas nützen, wenn allgemein bekannt würde, dass Politiker, wenn sie etwas sagen, eigentlich nur die Unwahrheit sagen können. Nein, ganz im Gegenteil, es würde die Notwendigkeit für Politiker zu lügen noch verstärken.

Nehmen wir einmal an, die Wähler teilen sich in drei Gruppen auf: Gruppe A, die an Politikerversprechen glauben; Gruppe B, die Politikern nicht grundsätzlich nicht glauben; Gruppe C, die glauben, dass nur Politiker einer anderen politischen Richtung lügen. Auf das Wahlverhalten von der Gruppen B und C hat es keinen Einfluss, ob Politiker die Wahrheit sagen. Sie bilden sich ihr Urteil aufgrund anderer Faktoren, seien es Interessen, Zugehörigkeit zu sozialen Gruppen, oder schlichtweg Antipathie gegenüber bestimmten Kandidaten.

Gruppe A hingegen kann durch geschicktes Lügen in die erwünschte Richtung manipuliert werden. Selbst wenn diese Gruppe sehr klein ist, kann sie damit den Ausschlag geben.

Doch was ist nun die Konsequenz aus allem?

Zum einen sollten wir uns von der Vorstellung verabschieden, dass Unehrlichkeit in der Politik etwas Schlechtes ist. Die Mechanismen des Politikbetriebes bedingen Unehrlichkeit. Ein ehrlicher Politiker hat keine Chance, weil wir ihn niemals wählen würden. Insbesondere sollte man sich von der Illusion verabschieden, dass nur der Politiker ehrlich ist, den man selber gerne mag.

Nebulöse Wortwahl und Entscheidungsschwäche sind Indikationen für Resteherlichkeit beim Politiker. Insbesondere die Entscheidungsschwäche hilft ihm aber nicht, seine eigentliche Aufgabe, Entscheidungen zu treffen, zu erfüllen. Politiker, die sich konsequent selbst belügen, erscheinen am ehrlichsten, sind aber auch am gefährlichsten, da sie die Realität nicht richtig wahrnehmen. Lediglich Politiker, die bewusst lügen, scheinen überhaupt in der Lage, nach erfolgreicher Wahl ihren Job einigermaßen zu erledigen. Allerdings darf man von diesen dann nicht erwarten, dass sie sich an Dinge wie Wahlprogramme oder Versprechen halten.

Des Weiteren sollten wir uns ehrlich eingestehen, dass wir selbst keine ehrlichen Menschen als Politiker wollen. Seien wir zumindest ehrlich zu uns selbst: Jemand, der uns freundlich belügt, ist uns lieber als derjenige, der uns mit der tristen Realität konfrontiert. Die Wahrheit ist unangenehm, kann manchmal sogar unerträglich sein. Egal, welche politische Entscheidung getroffen wird, es gibt immer Verlierer. Und wenn man schon zu den Beschissenen gehört, will man dies nicht direkt ins Gesicht gesagt bekommen. Ein ehrlicher Politiker verbreitet Hoffnungslosigkeit, und das ist die schlechteste Wahlwerbung. Bei einem unehrlichen Politiker kann man zumindest träumen, seine Wünsche auf ihn projizieren. Oder man kann sich einreden, dass der präferierte Politiker das kleinere Übel ist; selbst wenn am Ende alles egal ist und aufgrund von Sachzwängen alle hinterher sowieso fast identische Entscheidungen treffen würden. Auf jeden Fall sind die gekonnt unehrlichen Politiker die besseren Illusionskünstler, und damit in der heutigen Welt des schönen Scheins die von uns bevorzugten Kandidaten.

Robert Michel September 8, 2013 um 21:27 Uhr

Darum sind wirtschaftliche Entscheidungsprozesse politischen Entscheidungsprozessen überlegen. Wirtschaftliche Entscheidungsprozesse führen dazu dass man sich die angenehmen Unehrlichkeiten nicht mehr leisten kann.

Hobbes September 8, 2013 um 11:03 Uhr

Darum führt Demokratie ins Desaster. (FJS hat es damals von Politikerseite aus betrachtet: „vox populi, vox rindvieh“.)

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