Disruption verkommt zum Unwort

by Dirk Elsner on 4. August 2014

Disruption ist eines diese Modeworte der digitalen Wirtschaft, das für mich so langsam zu einem Unwort verkommt. Eine disruptive Technologie (engl. disrupt – unterbrechen, zerreißen) ist lt. Wikipedia “eine Innovation, die eine bestehende Technologie, ein bestehendes Produkt oder eine bestehende Dienstleistung möglicherweise vollständig verdrängt. Disruptive Innovationen sind meist am unteren Ende des Marktes und in neuen Märkten zu finden. Die neuen Märkte entstehen für die etablierten Anbieter in der Regel unerwartet und sind für diese, besonders auf Grund ihres zunächst kleinen Volumens oder Kundensegmentes, uninteressant. Sie können im Zeitverlauf ein starkes Wachstum aufweisen und vorhandene Märkte bzw. Produkte und Dienstleistungen komplett oder teilweise verdrängen.”

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Der Begriff soll lt. Heise zurückgehen auf Prof. Clayton M. Christensen (Harvard Business School) und seinem 1995 erschienenen Buch „The Innovators Dilemma“ beziehungsweise dem Fachartikel „Disruptive Technologies: Catching the Wave„. Eigentlich kann Disruption nach dieser Erklärung nur dazu dienen, eine Entwicklung, die bereits eingetreten ist, zu beschreiben. Seit einiger Zeit zerstören aber Start-ups über Pressemeldungen und Präsentationen auf Konferenzen systematisch die Bedeutung dieses Begriffs. Ich habe mittlerweile aufgehört zu zählen, in wie vielen Ankündigungen von Revolution eines Geschäftszweigs und Disruption einer Branche die Rede ist. AirBnB betreibt die Disruption des Hotel- und Uber des Taxigewerbes. Groupon sollte mobile Coupons disrupten (gibt es das Verb überhaupt?) und Square den Zahlungsverkehr. Letztere sind übrigens Beispiele dafür, wie sich die Erwartungen an eine “Disruption” bisher nicht erfüllt haben.

Die inflationäre Verwendung des Disruptions-Begriffs entwertet diesen. Einige scheinen zu glauben, dass es sich in Präsentationen für VCs gut macht, wenn man als Gründer ganze Branchen verändern will. Ich lösche mittlerweile alle Newsletter und Pressemeldungen bzw. höre auf zu lesen, wenn mir wieder einmal jemand etwas von der Revolution einer Branche erzählen will. Zu selten gelingen Revolutionen mit Ansage.

Frank Wiebe erweiterte vergangene Woche in der ePaper-Ausgabe des Handelsblatts (28.7. nur Gegen Entgelt) die Kritik und sieht in der Verwendung des Begriffs sogar einen gefährlichen Zynismus der Gründer. Er schreibt u.a.:

“Wer heute etwas auf sich hält, gibt also damit an, die eigene Branche – oder auch eine andere – zu zerreißen, zu zerschmettern oder jedenfalls enorm zu stören. Das ist so, als hätte Johannes Gutenberg sich damit gebrüstet, die fleißigen Mönche in den Skriptorien arbeitslos zu machen. Statt in den Vordergrund zu stellen, dass der Buchdruck die Bildung der breiten Bevölkerung ermöglicht. Oder als hätten die Pioniere der Dampfschifffahrt vor allem damit geprahlt, die Treidler um Lohn und Brot zu bringen. Wer weiß noch, was Treidler sind? Antwort: Wikipedia, die disruptive Innovation im Bereich der Lexika.

Es liegt ein ungeheurer Zynismus darin, nicht das Neue und den Nutzen zu betonen, sondern sich quasi als wirtschaftlicher Knock-out-Sieger über das Alte zu zelebrieren. So nach dem Motto: „Wie geil ist das denn – jetzt kann man mit einer einzigen App weltweit Millionen von Taxifahrern arbeitslos machen.“ Vielen, die sich jetzt „disruptiv“ finden, ist dieser Zynismus wahrscheinlich gar nicht bewusst. Aber macht es das besser? Bewusster Zynismus reizt wenigstens noch zum Widerspruch. Unbewusster stumpft nur ab.”

Auf manchen Veranstaltungen feiern sich Gründer und ihre Mitarbeiter gegenseitig ob des disruptiven Charakters ihrer Geschäftsmodelle. Andere dagegen sind mittlerweile genervt von diesem Schmoren im eigenen Saft, zumal sie ahnen, dass manche Idee bzw. deren Umsetzung die hochgesteckten Erwartungen verfehlen wird.

Katharina Brunner hat neulich auf Netzpiloten einen interessanten Text zur Debatte um Disruption veröffentlicht. Sie skizziert darin die Auseinandersetzung um den kritischen Artikel von Jill Lepore im New Yorker: The Disruption Machine. Beide Texte eignet sich gut als Vertiefung. Wer noch ein wenig theoretischen Hintergrund mag, der kann sich die Bachelorarbeit von Marcel Knöchelmann und die dortigen Literaturhinweise vornehmen.

Abschließen meine Empfehlung an die Start-ups: Redet nicht im Vorfeld von Disruption und Revolution. Wenn ihr dann wirklich eine Branche umgekrempelt habt, dann werden genügend Leute von ganz allein die Scheinwerfer auf Euch richten.

Weiterer Lesestoff

Innovationsmanagement: Disruptive Technologie (engl.: Disruptive Technology)

Business Wissen: Disruptive Innovationen – Die Regeln der Branche radikal verändern

Deutsche Startups: Was ist disruptive? – Strategien und Denkansätze für Start-ups

Wisu, Ausgabe 8/9/2004: Die Theorie der „Disruptive Technology“

dflorian1980 August 6, 2014 um 13:30 Uhr

Man kann die Verwendung des Wortes ja kritisieren, aber es bleibt doch richtig: Innovation setzt zumindest zu einem gute Teil Disruption voraus. Der im Blogpost genannte Christensen und Raynor beschreiben das meiner Ansicht nach ganz gut in ihrem Buch „The Innovator’s Solution“ (der Nachfolger von „The Innovator’s Dilemma“):

In einen etablierten Markt kann ich nicht einsteigen, wenn ich nur einen kleinen Mehrwert für Kunden biete – die Platzhirsche würden sofort ihr Angebot anpassen und mich aus dem Markt drängen. Ich muss ein neues Kundensegment erschließen und dafür ein grundlegend anderes Produkt anbieten was aber dennoch dasselbe Bedürfnis befriedigt.

So kann Disruption nicht nur ex post beschrieben sondern auch strategisch geplant werden. Ich finde die Diskussion über Disruption deswegen gut – auch wenn man im Einzelfall darüber streiten kann, ob ein Startup tatsächlich einen Mehrwert bringt: http://www.danielflorian.de/2014/05/07/lobbying-politik-und-start-ups-das-ende-einer-liebe/

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