Die Zukunft des Kapitalismus … Teil 3: Vertrauensverlust, Bullshit und Regulierung

by Karl-Heinz Thielmann on 29. Januar 2018

Im Jahr 2005 hat der amerikanische Philosoph Harry G. Frankfurt ein kleines Büchlein veröffentlicht, das seitdem große Wellen geschlagen hat: „On Bullshit“. Hierin beschreibt er eine Tendenz in der modernen Gesellschaft, weder explizit die Wahrheit zu sagen noch zu lügen. Stattdessen wird immer mehr Bullshit produziert – laut Frankfurt eine Kategorie, die zwischen Lüge und Wahrheit liegt.

Wer im Wirtschaftsleben lügt, macht sich sich als Betrüger strafbar, wenn er einen konkreten Schaden verursacht. Wer hingegen die Wahrheit sagt, muss sehr oft unbequeme Dinge ausdrücken oder eigene Unkenntnis offenbaren. Man setzt sich dadurch in eine nachteilige Position. Doch es gibt noch einen dritten Weg dazwischen: Durch Verwendung von sprachlichen Leerformeln Unkenntnis überspielen bzw. durch selektiven Umgang mit Tatsachen Wahrheiten verzerrt wiedergeben. Dieses irreführende Nicht-Lügen bezeichnete Frankfurt als Bullshit. Der Begriff ist am ehesten ins Deutsche mit „Hohlsprech“ oder „Geschwurbel“ zu übersetzen. Er führt zu einer Falschdarstellung in täuschender Absicht, ohne dass der Verbreiter von Bullshit explizit die Unwahrheit sage muss.

Bullshit spielt eine große Rolle beim Anstieg des Angstgefühls: Durch extensive Berichterstattung über Einzelbeispiele von seltenen und gefährlichen Erkrankungen kann z. B. trotz allgemein verbesserter Gesundheitsversorgung ein Gefühl der Angst vor Erkrankung verstärkt werden, ohne explizit zu lügen, indem nachweisbar falsche Behauptungen hierüber verbreitet werden. Die hierdurch gesteigerte Nachfrage nach (überflüssigen) Gesundheitsdienstleistungen begünstigt deren Anbieter, ohne wirklichen Nutzen für Patienten zu bringen.

Die Finanzbranche ist und bleib ein Hotspot bei der Verbreitung von Bullshit

Auch Bullshit, mit dem keine Angst gemacht werden soll, spielt eine immer größere Rolle in der Wirtschaft: Er dient dazu, Produkte oder Dienstleistungen besser erscheinen zu lassen, als sie eigentlich sind. Dies ist z. B. beim „Greenwashing“ besonders deutlich, wenn spezielle PR-Agenturen Unternehmen dahin gehend beraten, wie sie nach außen nachhaltig erscheinen, ohne dass diese tatsächlich viel für mehr Nachhaltigkeit tun zu müssen.

Gerade im Finanzbereich gibt es erschreckender Weise besonders viele Beispiele für Bullshit:

  • Präzise Prognosen für Kursentwicklungen sollen die Kompetenz von Börsenexperten demonstrieren. Dabei werden Kurse kurz- bis mittelfristig stark von Überraschungsfaktoren beeinflusst und lassen sich nicht vorhersagen. Dies demonstriert z. B. jedes Jahresende die Misserfolgsstatistik der Jahresendprognosen vom Vorjahr für den Dax aufs Neue – was die Investmentbankstrategen nicht davon abhält, sich jedes Jahresende mit neuen Vorhersagen hervorzuwagen.
  • Es gibt eine Unzahl von schönfärberischen Wortschöpfungen wie „Diskontzertifikat“, „Robo-Advisor“, Risk Parity“, „Mittelstandsanleihe“ etc., die im Wesentlichen zum Verschleiern von Risiken oder Kosten dienen. „Smart Beta“ z. B. suggeriert eine intelligente (smart) und finanzmathematische (Beta) Vorgehensweise beim Investieren. In Wirklichkeit folgt man oft nur prozyklisch simplifizierten Erfolgsformeln – was an der Börse langfristig bisher noch nie gut gegangen ist.
  • Es gibt eine epidemisch zunehmende Verwendung von „Adjusted Earnings“ bei der Gewinnberichterstattung börsennotierter Unternehmen. Vorgeblich soll durch Herausrechnung von außerordentlichen Faktoren ein korrekteres Bild der Ertragskraft einer Firma gezeichnet werden als mit der gesetzmäßigen Berichterstattung nach IFRS bzw. GAAP. Tatsächlich rechnen Finanzvorstände in der Praxis zumeist jede Form von Belastungsfaktoren heraus, egal ob außerordentlich oder nicht. So kann man völlig legal Ertragskennzahlen schön färben, ohne das Risiko einzugehen, als Bilanzfälscher bestraft zu werden.
  • Die intransparente Darstellung bei den Kosten von Finanzprodukten führt dazu, dass sie effektiv oft höher ausfallen als sie dem Kunden bei Abschluss erscheinen. Investmentfonds sind mit sehr hohen Kosten belastet, welche die Erträge durch aktives Fondsmanagement i.d.R. überkompensieren. Kreditzinsen und -gebühren werden oft nach dubiosen Formeln ermittelt, die bei Schuldnern zu einer ungerechtfertigt hohen Belastung führen.

Bullshit zerstört langfristig das Vertrauen

Die zunehmende Bedeutung der Verwendung von Bullshit in Politik und Wirtschaft hat eine fatale Konsequenz: Menschen bemerken irgendwann, dass sie straflos an der Nase herumgeführt werden können, und verlieren daraufhin ihr Vertrauen. Umfragen – wie z. B. der jährlich durchgeführte globale „Trust Survey“ der Edelman Group – zeigen, dass die vergangenen Jahre durch einen bisher beispiellosen Vertrauensverlust von Menschen in das Wirtschaftssystem und seine Institutionen gekennzeichnet sind. Besonders groß ist dabei das Misstrauen in die Finanzindustrie – mit global 54% Vertrauen liegt die Branche weit abgeschlagen auf dem letzen Platz hinter Energie (61%), Verbrauchsgüter (63%), Nahrung (66%) und Technologie (76%). Besonders schlecht sind die Werte für die europäische Finanzindustrie: In Deutschland haben nur noch 35% der Befragten Vertrauen in sie; in Großbritannien 45%.

Leider ist eine Umkehrung der Tendenz zu immer mehr Bullshit nicht absehbar. Denn das Vordringen von Bullshit diskreditiert bzw. relativiert auch die Wahrheit. Insofern ist es so gut wie unmöglich, Misstrauen dadurch zu überwinden, indem man die Wahrheit sagt. Stattdessen wird immer ausgefeilterer Bullshit produziert, der zumindest kurzfristig das Misstrauen überlistet, langfristig aber umso mehr Vertrauen zerstört. Ein Teufelskreis entwickelt sich und setzt sich immer weiter fort … was auch dazu führt, dass immer mehr Menschen den Kapitalismus infrage stellen, obwohl es ihnen wirtschaftlich eigentlich gut geht.

————————————————————————————

Neben der spürbaren Zunahme von Bullshit gibt es eine weitere Grunderfahrung des modernen Lebens: die permanente Zunahme von Vorschriften und Verordnungen, die uns genau vorschreiben, wie bestimmte Dinge zu machen sind. Im Finanzbereich erleben wir beispielsweise aktuell mit der 20.000 Seiten an Rechtstexten umfassenden Verordnung Mifid II einen gewaltigen Bürokratie-Schub.

Jede einzelne dieser Verhaltensregeln ist normalerweise gut begründet, weil sie darauf basieren, dass jeweils konkrete Missstände abgeschafft werden sollen. Ihre schiere Masse allerdings führt dazu, dass wir uns in ihnen gefangen fühlen wie ein Insekt im Spinnennetz: Je mehr wir haben, desto mehr schnüren sie uns ein. Zudem sind die vielen Regeln inzwischen für die meisten Menschen und selbst für Großkonzerne undurchschaubar geworden. Nichtsdestotrotz entstehen ständig neue Missstände – nicht zuletzt auch als Ausweichreaktionen auf neue Vorschriften. Die Bekämpfung der neuen Missstände erzeugt wiederum neue Vorschriften, die zu weiteren Ausweichreaktionen führen. Ein unendlicher Teufelskreis zunehmender Regulierung ist die Folge.

Die Zunahme von Bullshit und von Regulierung steht deswegen in einem engen Zusammenhang: Denn Bullshit ist oftmals nichts anderes als regulierungskonformes Lügen – auch als Ausweichreaktion auf mehr Regulierung. Sobald dieses Lügen entlarvt wird, ist der natürliche Impuls von Technokraten, dieses mit noch mehr Regulierung einzudämmen. Dieses wiederum führt zu neuen Umgehungsreaktionen; u.A. neuer Bullshit. Irgendwann kommt dann als Reaktion mehr Regulierung usw. usw.

Insofern führt mehr Regulierung wie bei Mifid II im Endeffekt nicht wie beabsichtigt zu mehr Verbraucherschutz, sondern vor allem zu neuen Marktzutrittsschranken und der Verbreitung von neuem Bullshit. Die Wettbewerbsintensität sinkt, was letztlich zum Schaden des Konsumenten ist. Auch die Kosten der Regulierung können weitgehend auf den Endverbraucher überwälzt werden. Er ist er Dumme, was ihm besonders dann bewusst wird, wenn ihm auffällt, dass er sich durch Bullshit hinter das Licht hat führen lassen. Es ist daher auch kein Zufall, dass gerade in Europa das Vertrauen in die Finanzindustrie besonders gering ist, während die Regulierungsintensität sehr hoch ist.

Regulierung und Bullshit gehen insbesondere dann eine Symbiose ein, wenn es darum geht, Menschen durch die Verwendung von zwar richtigen, im jeweiligen Kontext aber unsinnigen bzw. missverständlichen Zahlen in die Irre zu führen. Manchmal wird die Verbreitung  von Zahlen-Bullshit sogar durch Regulierung zwingend vorgeschrieben, so z.B. in den bei Mifid II in den Kid (Key information document) festgelegten Vorschriften für das Risikoreporting von Investmentfonds. Hierzu hat man sich eine Risikokennzahl VEV (Value-at-risk Equivalent Volatility) ausgedacht, die a) rein basiert auf Volatität bzw. VaR ist (also Risikokennszahlen, die in der Vergangenheit schon oft ihre praktische Untauglichkeit bewiesen haben); sowie b) nur auf Performancedaten der vergangenen fünf Jahre basiert. Wenn ein Fonds eine besonders riskante Strategie fährt und damit einige Jahre eine sehr gute Performance hat, erscheint er somit als besonders risikoarm. Der britsche Ökonom John Kay hat diese Vorgehensweise vor einigen Tagen als „Triumph der Pseudowissenschaft über den gesunden Menschenverstand“ bezeichnet.

Einziger Hoffnungsträger im Kampf gegen die immer ausuferndere Bürokratie ist ausgerechnet die Administration des in Europa weitgehend abgelehnten US-Präsidenten Trump. Während Trump in der Öffentlichkeit vor allem durch die Verbreitung von Bullshit und missglückten nationalistischen politischen Initiativen von sich reden macht, haben in seinem Rücken Wirtschaftsfachleute wie der Ex-Goldman Sachs Manager und jetzige Finanzminister Mnuchin eine effektive Politikwende zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit eingeleitet. Hierzu zählen neben einer Steuerreform, die eine Bildung von Produktivkapital fördert, auch Deregulierungsmaßnahmen.

In Europa setzt die EU hingegen nach wie vor auf immer weiter greifende Regulierungen. Allerdings häufen sich die Rohrkrepierer: Die Bemühungen zur Umsetzung von Mifid II beispielsweise haben in der Finanzbranche vor allem Chaos ausgelöst, wichtige Schritte wie z. B. Kontrolle von Dark Pools wurden verschoben. Die Blockade der Übernahme von Niki durch die Lufthansa hat als Konsequenz nicht zu mehr, sondern zunächst zu weniger Wettbewerb im Luftverkehr geführt.

Die Fortsetzung der Reihe folgt in zwei Tagen mit: „Die Zukunft des Kapitalismus Teil 4: Asien und Staatsfonds“

Previous post:

Next post: