Der methodologischer Individualismus, so leitet diesen wichtigen Begriff die Wikipedia ein, bezeichnet innerhalb der Sozialwissenschaften die Methode, bei der Beschreibung und Erklärung sozialer Vorgänge vom Handeln der einzelnen daran beteiligten Personen auszugehen. Als Folge sind auch soziale Phänomene wie Institutionen, Normen, soziale Strukturen usw. über individuelles Handeln zu erklären.
Zum Prinzip des methodologischen Individualismus schreibt Elisabeth Göbel: Alle Eigenschaften die sozialen Systemen (Gruppen, Gesellschaften Familienunternehmen usw.) zugesprochen werden, müssen aus individuellen Eigenschaften und Verhaltensweisen der Beteiligten erklärbar sein. Insbesondere dürfen nach dem methodologischen Individualismus nur die Individuen Intentionen und Ziele zugeschrieben werden. Es gibt also zum Beispiel keine Ziele oder Strategien der Unternehmung sondern nur individuelle Ziele und Strategien von Personen in Unternehmen. Wer sein Ziel durchsetzen will muss mit den möglicherweise konträren Zielen anderer rechnen. Welche Präferenzen Menschen normalerweise haben und wie die Menschen zu ihre Präferenzen kommen bleibt dabei ebenso aus dem Modell ausgeklammert wie die Frage der Bewertung von Präferenzen und die Probleme der Informationsverarbeitung[1].
Auch dann, wenn es um die Untersuchung der beabsichtigten wie der unbeabsichtigten sozialen Folgen von Handlungen geht, setzt also die ökonomische Methode zur Erklärung beim Verhalten der einzelnen Individuen an[2].
Was der methodologische Individualismus letztlich genau ist, ist in der Literatur heftig umstritten. Der Begriff geht auf Schumpeter (1908) zurück. Das Konzept selbst findet sich aber auch bereits bei C. Menger (1883)[3]. Ich gebe hier den Stand so wieder, wie er sich mir aus der aktuelleren Literatur darstellt.
Die schottische Moralphilosophie, und hier insbesondere Smith, legt die Grundlage für den (aufgeklärten) methodologischen Individualismus, der darauf basiert, dass menschliches Handeln nicht allein aus dem am Eigeninteresse orientierten Wunsch nach Bedürfnisbefriedigung heraus erklärbar ist, sondern auch vom institutionellen Rahmen beeinflusst wird (z.B. regelorientiertes Verhalten). Dieser avanciert damit zum ökonomischen Erklärungsobjekt, was u.a. bedeutet, dass die Funktionsfähigkeit von Märkten nicht unabhängig vom institutionellen Rahmen erklärbar ist[4].
Ein „Individuum“ ist etwas „Unteilbares“. In diesem Kontext handelt es sich grundsätzlich um natürliche Personen, die einen – und sei es minimalen – Entscheidungsspielraum haben[5].
Alle Ansätze der neuen Institutionenökonomik[6] (aber auch die Neoklassik) gehen vom Forschungskonzept des methodologischen Individualismus aus, d.h. sozial Gebilde wie ein Unternehmen oder der Staat werden aus der Perspektive des einzelnen Individuums und seiner Entscheidungen untersucht und erklärt[7].
Die Rolle der einzelnen Entscheidungssubjekte wird damit völlig neuartig gesehen. Der methodologische Individualismus betont, dass die Menschen verschieden sind und verschiedene und vielfältige Präferenzen, Ziele, Zwecke und Ideen haben. Daraus folgt, dass die „Gesellschaft“, „der Staat“, „das Unternehmen“, „politische Parteien“ usw. nicht als Kollektive zu verstehen sind, die sich so verhalten, als ob sie Einzelpersonen wären[8]. Genau hier liegt ein wesentlicher Unterschied zur traditionellen ökonomischen Betrachtungsweise.
Die Organisation oder das Kollektiv als solches ist nicht länger die Hauptsache. Vielmehr muss eine Theorie sozialer Erscheinungen mit ihren Erklärungen bei den Ansichten und Verhaltensformen der Einzelpersonen ansetzen, deren Handlungen die zu untersuchenden Erscheinungen überhaupt erst entstehen lassen[9]. Es wird also davon ausgegangen, dass die Erklärung der Handlungen sozialer Gruppen von den Einstellungen und Verhaltensweisen ihrer individuellen Mitglieder auszugehen hat[10].
Zentrum und der Ausgangspunkt der liberal-ökonomischen Argumentation ist das Individuum, das seine eigenen Bedürfnisse kennt und anerkennt, seine Ziele setzt und seine Entscheidungen und Handlungen an der Befriedigung dieser Bedürfnisse, an der Realisierung dieser Ziele ausrichtet. Gemeint ist, dass das Problem des gesellschaftlichen Zusammenlebens der Menschen von den einzelnen Menschen, nicht aber von der Gesellschaft als Ganzem her aufgerollt wird. Was in einer Gesellschaft geschieht, passiert deshalb, weil einzelne Menschen in ihr fühlen, denken, reden, handeln. Nicht aber wird von der Gesellschaft her verstanden, was und wie die einzelnen fühlen, denken, reden und handeln[11].
Dies bedeutet nicht, dass der methodologische Individualismus außer Acht lässt, dass der einzelne Mensch auch gesellschaftlichen Einflüssen ausgesetzt ist. Vielmehr ist der Individualismus als Methode sehr wohl vereinbar mit der Beeinflussbarkeit und Formbarkeit des Menschen durch soziale Einflüsse. Im Gegensatz zu dem Organizismusals Methode geht er allerdings von der Vorstellung aus, dass es zweckdienlich ist, diese gesellschaftlichen Einflüsse nicht als Einflüsse der Gesellschaft zu interpretieren, sondern als Einflüsse von Individuen auf Individuen in der Gesellschaft. Der methodologische Individualismus ist sehr wohl vereinbar mit der These, dass der einzelne Mensch bis zu einem bestimmten Grad in der Gesellschaft geformt wird. Entscheidend ist: In der Perspektive des methodologischen Individualismus wird der Mensch nicht durch die Gesellschaft, sondern in der Gesellschaft geformt. Der einzelne Mensch begegnet nicht der Gesellschaft, sondern Gesellschaftsmitgliedern[12].
Der Ansatz des methodologischen Individualismus unterstellt also keineswegs, dass die individuellen Nutzenvorstellungen von der sozialen Umwelt unabhängig seien. Er geht lediglich davon aus, dass Individuen es sind, die handeln, und dass sie im Handeln ihren jeweiligen Nutzen zu mehren trachten[13].
Dass der Individualismus, nicht aber der Organizismus die methodologische Basis der Neuen Institutionenökonomik ist, lässt sich im wesentlichen aus Gründen der Zweckmäßigkeit rechtfertigen. Die Erfahrung hat gezeigt, genauer: Die Forschungserfolge belegen, dass der methodologische Individualismus, im Vergleich zum methodologischen Organizismus, eher in der Lage ist,
- eine Theorie zu erstellen, die mit wenigen, aber vergleichsweise klaren Begriffen auskommt;
- eine Theorie zu erstellen, die komplexe Zusammenhänge in eher einfachen Modellen abbilden kann;
- eine Theorie zu erstellen, die in dem Sinne ideologiekritisch ist, daß sie Wert- und Vorurteile von alternativen Analyseentwürfen zu enttarnen vermag und ihre eigenen Wert- und Vorurteile recht offen und schutzlos zur Schau stellt[14].
Schräder findet den Ansatz nicht unproblematisch, „denn er kann Interaktionen und Beziehungen zwischen Individuen und zwischen Individuum und Gesellschaft nur am Rande berücksichtigen.“ [15]
[1]E. Göbel, Neue Institutionenökonomik, Tübingen 2002, S. 25 f.
[2] G. Kirchgässner, Homo Oeconomicus, 2., erg. u. erw. Aufl. Tübingen 2000, S. 23.
[3] G. Kirchgässner, Homo Oeconomicus, 2., erg. u. erw. Aufl. Tübingen 2000, S. 23.
[4] H. Geue, Evolutionäre Institutionenökonomik, Stuttgart 1997, S. 24.
Adam Smithund anderen Vertretern der schottischen Moralphilosophie wird zu Unrecht zugeschrieben, daß sie in einem allgemeinen System des „laissez-faire“, in dem dem Staat nur sehr wenige Aufgaben, wie z.B. Verteidigung oder Gewährleistung der Sicherheit für Leib, Leben und Besitz zufallen, die Grundvoraussetzung für den Wohlstand der Nationen sehen würden. Die Vertreter der schottischen Moralphilosophie erkannten durchaus die Bedeutung der staatlichen Rahmengesetzgebung für ökonomische Prozesse. Der Staat hat nämlich die abstrakten Regeln festzulegen, die in Smiths System der Kontrolle menschlichen Verhaltens eine für entwickelte Volkswirtschaften zentrale Rolle einnehmen.“ Die legitimen staatlichen Aufgaben liegen demnach vor allem im Bereich der Ordnungspolitik, weniger im Bereich der Prozeßpolitik. Vgl. ausführlicher dazu H. Geue, Evolutionäre Institutionenökonomik, Stuttgart 1997, S. 26-31.
[5] K. Homann u. A. Suchanek, Ökonomik, Tübingen 2000, S. 29.
[6] Aber schon die Vertreter der schottischen Moralphilosophie – Geue nennt sind hier vor allem Adam Ferguson, David Hume und Adam Smith – stützen sich bei ihren Betrachtungen zu gesellschaftlichen Problemen auf eine individualistische Sozialtheorie. Die Handlungen von Individuen und ihre sozialen Auswirkungen werden imm Sinne des methodologischen Individualismus zum Erklärungsobjekt der Theorie gemacht; vgl. dazu ausführlich H. Geue, Evolutionäre Institutionenökonomik, Stuttgart 1997, S. 15-18.
[7] A. Picot et al., Die grenzenlose Unternehmung, 3., überarb. Aufl. Wiesbaden 1998, S. 38.
[8] R. Richter u. E. Furubotn, Neue Institutionenökonomik, Tübingen 1996, S. 3.
[9] R. Richter u. E. Furubotn, Neue Institutionenökonomik, Tübingen 1996, S. 3.
[10] R. Richter, Institutionen ökonomisch analysiert, Tübingen 1994, S. 4.
[11] G. Kirsch, Neue Politische Ökonomie, 3., überarb. u. erw. Aufl. 1993, S. 17.
[12] Kirsch illustriert das an einem konkreten Beispiel: Der methodologische Individualismus analysiert Gewerkschaften, indem er auf die Aktionen und Interaktionen von einzelnen Gewerkschaftsmitgliedern abstellt. Er analysiert nicht das Verhalten einzelner Gewerkschaftsmitglieder, indem er auf die Gewerkschaft als Ganzes abstellt. Wenn das Verhalten der einzelnen als Gewerkschaftsmitglieder analysiert werden soll, so geschieht dies durch die Analyse der Aktionen und Interaktionen einzelner in der Gewerkschaft. Das Verhalten eines Gewerkschaftspräsidenten hängt in dieser Optik nicht von der Gewerkschaft ab, sondern vom Verhalten der Gewerkschaftsmitglieder. Und das Verhalten der Gewerkschaftsmitglieder hängt nicht von der Gewerkschaft ab, sondern vom Verhalten u. a. des Vorsitzenden. G. Kirsch, Neue Politische Ökonomie, 3., überarb. u. erw. Aufl. 1993, S. 17 f.
[13] K. Homann u. A. Suchanek, Ökonomik, Tübingen 2000, S. 30.
[14] G. Kirsch, Neue Politische Ökonomie, 3., überarb. u. erw. Aufl. 1993, S. 18.
[15] Olaf Schräder, Wohin wollen wir gehen, München 2008, S. 19
Zuletzt geändert am 31.1.2015
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