Das verlorene Jahrzehnt: Die Komplexitätsfalle

by Dirk Elsner on 20. September 2010

Wer gehofft hat, die Erklärungsansätze des Blick Logs waren mit dem März-Beitrag zum verlorenen Jahrzehnt bereits erschöpft, den muss ich enttäuschen. Es sind ja längst noch nicht alle Themen der ökonomisch “verlorenen Zeit” zwischen 2000 und 2009 abgearbeitet.

Zum Ausgangspunkt dieser Serie. In dem am Jahresanfang erschienen Beitrag “Das verlorene Jahrzehnt: Die große Null der Wirtschaft” ging es im Blick Log darum, dass die Performance der westlichen Wirtschaft im letzten Jahrzehnt so schlecht wie nie zuvor war, einschließlich der Weltkriegsperioden und der Weltwirtschaftskrise. Wirtschaftsmedien haben in den USA eine Diskussion über “The Lost Decade” angestoßen. Der Blick Log sucht ebenfalls mögliche Ursachen für das schlechte Abschneiden und sammelt die Punkte in einer Mindmap.

Ein Thema, auf das man fast automatisch stößt, wenn man sich mit Risikomanagement, praktischer Unternehmensführung und Finanzmärkten befasst, ist das Thema Komplexität. Komplexität wird in der Unternehmenspraxis meist als Schlagwort „im Zusammenhang mit dem Verweis auf eine gestiegene Komplexität verwendet und fokussiert eher die Komplexitätsreduktion, also die Vereinfachung und Ausblendung von Interdependenzen.

Über Jahrzehnte erweckte die betriebswirtschaftliche Literatur und daneben viele Medienberichte den Eindruck von Berechenbarkeit und Erklärbarkeit von Unternehmenserfolgen. Komplexität taucht als Fehlerursache meist nur am Rande auf und wird gerade vom Top-Management noch zu oft “nur” als operatives Problem gesehen, das sich durch entsprechende Werkzeuge und Anstrengungen der weiteren Managementebenen in den Griff bekommen lässt.

Dass Komplexität die Unternehmensperformance stark beeinträchtigen dürfte mittlerweile unbestritten sein. Dies gilt insbesondere dann, wenn es aufgrund von unterschätzter Komplexität zu Fehlentscheidungen und in der Folge zu Fehlern, Kalkulationsabweichungen und Schadenfällen kommt (die Fälle Toyota und BP sind nur die jüngsten prominenten Beispiele dafür).

Kalkulationsabweichungen, wie etwa beim Bau der Hamburger Elbphilharmonie, sind dabei noch die Folgen unterschätzter Komplexität, die am leichtesten zu handhaben sind, weil es Unternehmen oder Auftraggeber in der Regel selbst in der Hand haben, ein Projekt im Zweifel auch zu beenden.

Im Umgang mit Komplexität sehe ich in der Wirtschafts- und Managementpraxis mindestens die folgenden vier Defizite, die den Umgang mit Komplexität erschweren und alle etwas mit Informationsverarbeitung zu tun haben:

  1. Informationsreduktionen, um die Wahrnehmungsschwelle zu erhöhen
  2. Ausblenden von Komplexität in Managemententscheidungen
  3. Unterschätzung der Wirkung von Komplexität
  4. Illusion, Komplexität mit einfachen Werkzeugen beherrschen zu können;

Wissenschaftler vieler Fachrichtungen (ausgenommen vielleicht die Ökonomen) haben den deterministischen Reduktionismus eindrucksvoll angegriffen und fundiert dargelegt, dass langfristige Vorhersagen große Probleme aufweisen und daher die Faktoren Komplexität (theoretisch oft durch die Chaostheorie untermauert) und Zufall deutlich stärker in der Unternehmenspraxis beachtet werden müssen.

Es wäre außerdem erfreulich, wenn der Terminus Komplexität nicht wie von Malik vermutet nur der Exkulpation der eigenen „Unfähigkeit“ unreflektiert verwendet und als eine „Rechtfertigung für reduktionistische“ Strategie genutzt wird, um einer expliziten Untersuchung der angemessenen  Handhabung von Komplexität aus dem Weg zu gehen.
Malik hat vor einigen Wochen in einem Gastbeitrag für das Handelsblatt darauf hingewiesen, dass die herkömmlichen Managementsysteme, wie sie in Betriebswirtschaftslehre und Business-Administration gelehrt werden, für die Bewältigung komplexer Situationen, von Katastrophen einmal ganz zu schweigen, kaum geeignet sind.

Märkte und Unternehmen sind Beispiele für komplexe ökonomische Systeme, in denen Menschen in vielen ökonomischen Funktionen interagieren. Der Homo Oeconomicus, der mit vollständiger Information über seine Umwelt nur seinen eigenen Nutzen maximiert und in diesem Sinn nur rational handelt, ist eine mathematische Fiktion linearer Gleichgewichtsdynamik. Diese Fiktion weicht deutlich von der Realität ab, die die Wirtschaftspraxis vor.

Die Entdeckung der Komplexität für die Managementliteratur erfolgte übrigens bereits in den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts. Peter Kappelhoff hat sich in einem Arbeitspapier kritisch mit der auf der „Mode“ Komplexität reitenden Managementliteratur auseinandergesetzt und bemängelt die Fundierung vieler Ansätze. Joachim Hentze ergänzt dies:

“Aus Mangel an wissenschaftlich fundierten und umsetzungsorientierten Alternativen reagieren Management von Großunternehmen und Unternehmensberater jedoch bis heute mit Instrumenten, die sich in der Vergangenheit (bis Mitte der 1990er Jahre) bewährt haben. Diese Instrumente sind vor allem durch die Reduktion von Komplexität in Organisationen gekennzeichnet und werden den heutigen unternehmerischen Herausforderungen nicht in angemessener Weise gerecht. Beispielsweise werden durch den Einsatz starrer und simplifizierender Informationsmanagementsysteme in Verbindung mit Methoden wie Re-Engeneering, Six Sigma und virtuellen Teams Interdependenzen zwischen einzelnen Teilaspekten vernachlässigt. Die Folge sind Spezialisierung, Kollaps von Systemen und ausbleibende Wirkungen von Unternehmensreorganisationen. Daher wird die Forderung nach einem Paradigmenwandel, der vorsieht, Komplexität in Organisationen nicht zu reduzieren, sondern angemessenen zu handhaben bzw. sogar zu produzieren, lauter. Bisher stehen jedoch nur Partialansätze zur Verfügung, um diesen Wandel einzuleiten.”

Welcher Weg zu gehen ist, um mit den Wirkungen von Komplexität und Zufall in der Unternehmenspraxis angemessen umzugehen, ist freilich trotz des zunehmenden wissenschaftlichen und praktischen Interesses nicht klar. Es zeichnen sich aber immerhin erste ernstzunehmende Ansätze ab. Aber das ist ein Thema für einen anderen Beitrag.


Literaturhinweise:

Henning Bandte, Komplexität in Organisationen – Organisationstheoretische Betrachtungen und agentenbasierte Simulation, Wiesbaden 2007.

J. Briggs u. F. D. Peat, Die Entdeckung des Chaos, Eine Reise durch die Theorie des Zufalls,  dtv Taschenbuchausgabe 9. Aufl. 2006.

J. Hentze, Geleitwort in: Henning Bandte, Komplexität in Organisationen – Organisationstheoretische Betrachtungen und agentenbasierte Simulation, Wiesbaden 2007

P. Kappelhoff, Komplexitätstheorie: Neues Paradigma für die Managementforschung?, Arbeitspapier, 2001

K. Mainzer, Komplexität, Paderborn 2008.

F. Malik, Komplexe Systeme überfordern jeden Manager, in: Handelsblatt v. 15.6.2010

F. Malik, Strategie des Managements komplexer Systeme, 8. unveränderte Auflage. Bern, Stuttgart, Wien

S. Mitchel, Komplexitäten – Warum wir erst anfangen, die Welt zu verstehen, Frankfurt 2008.

L. Mlodinow, Wenn Gott würfelt, Hamburg 2009

C. Shirky, The Collapse of Complex Business Models

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