Der Schwarze Schwan der Physik: Neutrinos übertreffen möglicherweise Lichtgeschwindigkeit und bringen Paradigma ins wanken

by Dirk Elsner on 27. September 2011

Black swan

Mich hat die Nachricht vergangenen Woche vom Wanken von Einsteins Relativitätstheorie nachhaltig beeindruckt und elektrisiert. Ich verstehe zwar nichts von Physik, entnehme aber den Meldungen über den Fachaufsatz “Measurement of the neutrino velocity with the OPERA detector in the CNGS beam”, dass die Messungen zwischen dem europäischen Kernforschungszentrum Cern und dem italienischen Forschungslabor INFN mit dem Ergebnis, dass Neutrinos die Lichtgeschwindigkeit übertreffen, die wichtigste Theorie der Neuzeit in Frage stellt, wenn die Ergebnisse richtig sind.

Naturwissenschaftler, so mein Eindruck als abseits stehender Beobachter, zeichnet ja ohnehin eine größere Vorsicht im Umgang ihren wissenschaftlichen Erkenntnissen aus, als etwa die Ökonomen, an denen ich deutlich dichter dran bin. Während Ökonomen auf Basis stark umstrittener Modelle Handlungsempfehlungen für die politische Praxis geben, die weitreichenden Einfluss auf unseren Lebensraum haben, üben sich Physiker eher in intellektueller Bescheidenheit. Wie gesagt, dass ist nur meine Wahrnehmung.

Eine Erkenntnis allerdings, die ich für sehr gesichert hielt, war die der allgemeinen und speziellen Relativitätstheorie von Albert Einstein. Eine Schlussfolgerung dieser Theorie ist es, dass sich kein Objekt schneller als das Licht bewegen könne, für Science Fiction Fans eine kaum zu ertragende Tatsache. Ich habe derzeit keinerlei Vorstellung davon, welche Konsequenz es hätte, wenn diese Messungen bestätigt werden würden, außer dass wir es hier mit dem Anfang einer neuen wissenschaftlichen Revolution im Sinne von Thomas Kuhn zu tun haben könnten.

Im Sinne Kuhns und Poppers gibt es ohnehin keine letzte Erkenntnis, sondern nur Paradigmen bzw. Modelle, um deren Falsifizierbarkeit, so Popper, sich Forscher bemühen sollen. Karl Popper ist ja u.a. dadurch bekannt geworden, dass er sagte, ein einziger Schwarzer Schwan erlaube bereits den logischen Schluss, dass die Aussage, alle Schwäne seien weiß, falsch ist. Nach Poppers Falsifikationismus sollte jede Theorie nur als vorläufiges Gesetz solange gelten, wie sie nicht durch ein Experiment widerlegt (falsifiziert) wird (siehe “Die Logik der Forschung”).

Natürlich ist der Falsifikationismus nicht unumstritten (siehe dazu diese Präsentation), dennoch zeigt die aktuelle Entdeckung, dass als nahezu 100% gesichert geglaubte und dargestellte Erkenntnisse durch neue Entdeckungen in Frage gestellt werden können. Vermutlich steht die wissenschaftliche Physik derzeit Kopf und diskutiert sich die Schädel heiß.

Interessant fand ich, dass sich in dem Google Plus Thread: “Auch das hat die Physik der Ökonomie voraus. Sie stellt selbst ihre besten Theorien in Frage: Neutrino-Forschung: Wankt Einsteins Relativitätstheorie?”  eine spannende Diskussion im Vergleich der Ökonomie zu der Physik entwickelte. Meine These war natürlich etwas provokativ. Tatsächlich tritt die wissenschaftliche Ökonomie deutlich bescheidener auf, als die praktische Ökonomie. Gerade aber die praktische Ökonomie propagiert mit ihren Stellungnahmen und Meinungsäußerungen über die Medien ihre Erkenntnisse oft als Heilmittel gegen Krisen, ohne dabei den leisesten Zweifel an der Fehlbarkeit der eigenen Modelle erkennen zu lassen. Hier wünsche ich mir tatsächlich mehr Bescheidenheit.

Hintergrund in der NZZ

Das Cern rüttelt an Einsteins Relativitätstheorie

Neutrinos: Die verschiedenen Gesichter der «Geisterteilchen»

Relativitätstheorie: Ein Strich durch Einsteins Rechnung?

Dr. Hansjörg Leichsenring September 27, 2011 um 09:41 Uhr

Das finde ich in der Tat auch spannend (ohne wirklich etwas davon zu verstehen). Vielleicht geht eines Tages doch was mit Warp-Antrieb …

Wolfgang September 27, 2011 um 07:40 Uhr

Im weitesten Sinne sind auch Wetter- und Klimamodelle
physikalische Modelle. Wenn ich an die Empfehlungen zur
Klimapolitik denke, sehe ich keinen Unterschied zu ökonomischen
Modellen.

Wirtschaftswurm September 27, 2011 um 07:33 Uhr

Ich denke, dass sich die meisten Volkswirte sehr genau der Grenzen ihrer Modelle bewusst sind. Es nützt aber nichts, darauf hinzuweisen, wenn eine aktuelle Antwort auf z. B. die europäische Schuldenkrise gesucht wird. Dann muss man unter Unsicherheit beraten und unter Unsicherheit handeln.

dels September 27, 2011 um 07:55 Uhr

Ich denke das auch und habe das ja oben auf die Bescheidenheit der akademischen Ökonomie hingewiesen. Diese Vorsicht kommt freilich in vielen praktischen Empfehlungen insbesondere von Volkswirten in Unternehmen und Banken rüber.

david.mpo September 27, 2011 um 07:06 Uhr

Als Physiker muss ich auch sagen, dass die Unterschiede wirklich gravierend sind, wie da mit den Modellen und den Schlussfolgerungen umgegangen wird. Ich denke mal, dass dies darauf zurück geht, dass die Physiker schon eine sehr viel längere Erfahrung mit ihren Modellen haben und es hier schon viel häufiger vorgekommen ist, dass sich etwas als komplett unhaltbar erwiesen hat.

Unter Physikern wird es auch immer als unseriös empfunden, wenn man versucht zuviel auszusagen oder die Schwächen zu vertuschen. Die Ökonomie kann davon wirklich noch einiges lernen.

Übrigens legen die Forscher in diesem experiment soweit ich weiß sich nicht auf eine Interpretation fest. Schließlich kann hier auch ein übersehener Einflussfaktor eine Rolle spielen.

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