Entscheidungen in einer komplexen Welt – Gefangen zwischen Intuition und Herdentrieb? Teil 1

by RalfKeuper on 10. Januar 2012

Die Frage, wie sich effektive Entscheidungen in einer komplexen Welt treffen lassen, ist bereits seit Jahrzehnten Gegenstand der wissenschaftlichen Diskussion. Betroffen sind davon die unterschiedlichsten Bereiche wie die Psychologie, die Politikwissenschaften, die Organisationstheorie, die Wirtschaftswissenschaften bis hin zu den Computerwissenschaften. Die Liste ist damit längst nicht vollständig.

So unübersichtlich wie die Umwelt, mit der ein Individuum oder eine Organisation während des Entscheidungsprozesses konfrontiert ist, so unterschiedlich sind auch die Theorien.

Von der Bounded Rationality zur Ecological Rationality und den Fast and Frugal Heuristics

Eine der bekanntesten, die Theorie der „Bounded Rationality“ stammt von dem Wirtschaftsnobelpreisträger Herbert A. Simon, der eigentlich Psychologe war und von dem auch einige grundlegende Texte der Computerwissenschaften stammen.

Entgegen der auch heute noch häufig anzutreffenden Auffassung, dass Individuen bzw. wirtschaftliche Akteure über eine unbegrenzte Verarbeitungsfähigkeit entscheidungsrelevanter Informationen verfügen, der sagenumwobene, nutzenmaximierende „Homo Oeconomicus“, vertrat Simon einen Ansatz, der deutlich bescheidener und realitätsnäher ist. Statt sich auf die – ewige – Suche nach der optimalen Entscheidung zu begeben, begnügt sich der begrenzt rationale Akteur mit dem „Satisfizieren“:

Der Entscheidungsträger hat die Wahl zwischen optimalen Entscheidungen für eine imaginäre, vereinfachte Welt, und Entscheidungen, die „gut genug“ sind, die „satisfizieren“ in einer Welt, die der komplexen realen näher kommt. (in: Die Wissenschaft vom Künstlichen)

Die Gedanken von Simon aufgegriffen und erweitert haben Gerd Gigerenzer und sein Team vom Max Planck-Institut für Bildungsforschung. Der Bounded Rationality“  stellt Gigerenzer die „Ecological Rationality“ und die „Fast and Frugal Heuristics“ zur Seite.

Effektive Entscheidungen benötigen für Gigerenzer in den meisten Fällen keine aufwendigen Rechenoperationen, da die richtige Lösung unbewusst, intuitiv zugänglich ist – die sprichwörtlichen Bauchentscheidungen. Der Entscheider setzt hierfür Faustregeln ein, die der jeweiligen Umgebung angepasst sind. Getroffen werden die Entscheidungen auf Basis einiger weniger, trennscharfer Merkmale – alle anderen werden getrost ignoriert, ohne dass die Entscheidungsqualität darunter leidet. Selbst in für den Entscheider unbekannten Situationen greift er auf Erinnerungen an vergleichbare Konstellationen zurück und trifft dann seine Wahl – die sog. Recognition Heuristics.

Grenzen der Intuition

Über die Bedeutung der Intuition für die Entscheidungsfindung herrscht in der Fachwelt ein breiter Dissens. Die Anwendung von Faustregeln auf komplexe Entscheidungssituationen wird von vielen Forschern kritisch gesehen, da die Gefahr von Schnellschüssen mit unabsehbaren Folgen zu groß ist. Bemängelt wird außerdem, dass das Entscheidungsverhalten der sog. Experten, die sich auf ihr Erfahrungswissen, ihr implizites Wissen (M. Polanyi) stützen, zu deutlichen Verzerrungen neigt. In bestimmten Entscheidungssituationen führt die Verwendung von Faustregeln zu befriedigenden, ausreichenden Lösungen; die Ausdehnung auf nahezu alle Konstellationen ist dagegen nach Meinung von Paul Schoemaker und Paul Russo hoch riskant:

Researchers, who have studied >intuition< find that these >gut< or >sixt sense“ decisions actually follow a coherent path, but one that takes place so rapidly that people can´t notice themselves doing it. When applying automated experience, highly seasoned professionals reach into their mental storehose of past experience and rapidly match patterns of the current decision and context with those of an old situation. Then the matched pattern „fires off“ the old action in the new situation“. In a fast-paced world, this kind of intuition has an understandable appeal. If your´re a firefighter or emergency medical technician, it may be the only option, And when the situation truyl matches ones you have faced numerous times in the past, more systematic approaches may be unneccery and a waste of time. Unfortunately, as a decision-making tool, intuition also has significant drawbacks. It´s hard to dispute choices based on intuition because the decision-makers can´t articulate their own underlying reasoning. People >just knowy< they are right, or they have >a strong sense of it<, or they´re relying on >gut feel<. You can´t tell if the process is good or bad, because there´s no process to examine.  (in: Winning Decisions. Getting it right the first time)

Anders als Gigerenzer, der die punktuelle Entscheidungssituation im Blick hat, verlegen Russo und Schoemaker ihre Aufmerksamkeit auf den Entscheidungsprozess. Ihrer Ansicht nach dient das Prozessdenken nicht nur der Transparenz und besseren Nachvollziehbarkeit, sondern auch dazu, eigene Fehleinschätzungen frühzeitig, vor der endgültigen Entscheidung,  zu erkennen. Hierfür stehen mehrere Techniken wie das „Framing“ und „Bootstrapping“ zur Verfügung.

Das deckt sich wiederum mit der allgemeinen Erfahrung, dass einem die Tragweite eines Problems erst dann richtig bewusst wird, wenn es artikuliert, dokumentiert und einer anderen, möglichst neutralen Person zur Begutachtung vorgelegt wird – sofern die Zeit dafür zu Verfügung steht. Ein Mangel an Zeit wird häufig und allzu gerne herangezogen, um eine rasche Entscheidung, die zu >suboptimalen< Ergebnissen geführt hat, zu rechtfertigen.

Da kann es nicht schaden, sich die Worte Alfred Herrhausens in Erinnerung zu rufen:

 Die meiste Zeit geht dadurch verloren, dass man nicht zu Ende denkt.

Der Vorteil rationaler und systematischer Entscheidungsprozesse

Lange Zeit vor Schoemaker und Russo, im Jahr 1958, entwarfen die beiden amerikanischen Unternehmensberater Charles Kepner und Benjamin Tregoe eine neuartige Methode zur Problemlösung, die inzwischen als KepnerTregoe® weltweit bekannt ist. Die Methodik setzt sich aus vier verschiedenen Denkprozessen, der Problemanalyse, der Entscheidungsanalyse, der Situationsanalyse und der Analyse der Potentiellen Chancen und Risiken zusammen.

Die Verfahren werden je nach Problemstellung eingesetzt. Für weniger komplexe Aufgaben genügt häufig die Problemanalyse, während für hochkomplexe Problemstellungen zum Einstieg die Situationsanalyse durchgeführt wird, der sich dann, je nach Bedarf, die anderen Verfahren anschließen. Die Betonung liegt hier, wie nicht unschwer zu erkennen ist, auf einer rationalen, systematischen Vorgehensweise, deren Erfolg um so größer ist, je mehr Personen sich bei der Lösung eines Problems dieser Methode bedienen. Damit wird nach Auffassung der Urheber ein für alle am Prozess beteiligten Personen verbindlicher Lösungsrahmen geschaffen, der – im Idealfall – für Transparenz und eine gemeinsame Sprache sorgt. Entscheidungsfindung also ohne Verzerrungen z.B. in Form von Präferenzen, vorgefassten Meinungen und persönlichen Gefühlen.

Nahe mit der Situationsanalyse verwandt ist das systemische Denken. Die Autoren des Buchs „Denken macht den Unterschied. Wie die besten Unternehmen Entscheidungen treffen und Probleme lösen“, Quinn Spitzer und Ron Evans, ziehen allerdings eine Trennlinie zwischen dem systemischen Denken und der Anwendung der Situationsanalyse in der Praxis:

Wenn jede Handlung sich auf Myriaden von Systemen auswirkt, wie kann irgendjemand dann all diese Auswirkungen im voraus erkennen und steuern? Wenn jedes System Teil immer größerer Systeme ist, ist jeder Versuch, einen zugegebenermaßen winzigen Teilbereich zu beeinflussen, zum Scheitern verurteilt. Wie die Protagonisten in den Werken von Franz Kafka spüren wir angesichts dieser Situation die Vergeblichkeit all unseres Tuns.

Für die Autoren besteht die Gefahr des systemischen bzw. systemtheoretischen Denkens darin, die Sache (unnötig) zu verkomplizieren. Mit anderen Worten: Vor lauter Bäumen sieht man irgendwann den Wald nicht mehr.

Bei aller Kritik sehen sie zwischen der Situationsanalyse nach Kepner Tregoe und dem Denken in offenen Systemen wichtige Parallelen:

Der rationale Denkprozess, der das Systemdenken am ehesten fördert, ist die Situationsanalyse. .. Gute Situationsanalyse hilft einem Unternehmen, seine internen und externen Rahmenbedingungen zu erkennen und zu beschreiben. So bedeutsam die kritische, kontextbezogene Betrachtung der Systemauswirkungen einer Situation auch sein mag, man darf dabei nicht übersehen, dass die Situationsanalyse, wie alle guten Dinge, auch übertrieben werden kann. Wie Ecklin betont, muss die Führung stark genug sein, um festzustellen, wann die Grenze zwischen umsichtiger und übertriebener Analyse erreicht ist. (ebd.)

Wie so oft, so gilt auch hier der Satz von Paracelsus: Die Dosierung ist das Gift 😉

Mehr als der Systemtheorie fühlen sich Spitzer und Evans dem kritischen Rationalismus von Karl R. Popper verpflichtet:

Der berühmte britische Philosoph Karl Popper vertrat sein Leben lang die Auffassung, dass wir die Bedeutung von Vermutungen und Hypothesen in der Naturwissenschaft nicht richtig verstünden. Er behauptete hartnäckig, dass nur solche Theorien wirklich gültig seien, die widerlegt werden könnten. In der Problemlösung könnte dieses Argument in abgewandelter Form gelten: In vielen Fällen werden wir die wahre Ursache niemals zweifelsfrei feststellen, doch können wir durchaus beweisen, welche Ursachen >nicht< für den vorliegenden Misstand verantwortlich sind. Angesichts der Komplexität der heutigen Probleme ist der Ansatz äußerste praxisrelevant. (ebd.)

Ökonomie des menschlichen Verhaltens

Wenn jemand die Nutzenmaximierung in der Ökonomie auf neue Höhen geführt hat, dann ist es der Wirtschaftsnobelpreisträger Gary Becker.  Für ihn lässt sich das menschliche Verhalten mit Hilfe der Ökonomie vollständig erklären. Zwar gesteht er ein, das sein Bezugsrahmen einige Lücken enthält, für deren Schließung auch weiterhin die Unterstützung anderer wissenschaftlicher Disziplinen nötig sein wird, jedoch lässt sich auch dann alles menschliche Verhallten ökonomisch d.h. über Nutzen und Präferenzen erklären:

Alles menschliche Verhalten kann vielmehr so betrachtet werden, als habe man es mit Akteuren zu tun, die ihren Nutzen, bezogen auf ein stabiles Präferenzsystem, maximieren und sich in verschiedenen Märkten eine optimale Ausstattung an Informationen und anderen Faktoren schaffen. Trifft dieses Argument zu, dann bietet der ökonomische Ansatz einen einheitlichen Bezugsrahmen für die Analyse menschlichen Verhaltens, wie ihn Bentham, Comte, Marx und andere seit langem gesucht, aber verfehlt haben.

Bescheidenheit, so viel jedenfalls kann als gesichert gelten, ist seine Sache wohl nicht 😉

Wie auch immer. Sein Ansatz hat mehrere Schönheitsfehler, die sich mit Gödelschen Theorem am besten beschreiben lassen. Seit der Entdeckung des Unvollständigkeitssatzes, der den Namen seines Erfinders, des Mathematikers Kurt Gödel, trägt, gilt, dass keine Theorie vollständig und konsistent zugleich sein kann. Ist sie vollständig, so ist sich nicht konsistent und umgekehrt. Es bleibt zuletzt eine Lücke, die sich durch noch so viele Beobachtungen oder die Hinzufügung neuer Variablen und Annahmen nicht schließen lässt.

Oder anders ausgedrückt: Was nicht passt, wird passend gemacht bzw. gleich weggelassen.

Es bleibt auch gültig, was Karl R. Popper mit dem Falsifikationsprinzip gemeint hat, dass eine Theorie niemals verifiziert werden und immer nur vorläufig sein kann – bis zu ihrer Widerlegung.

Jede darüber hinaus gehende Argumentation, dass es nämlich nur ein Frage der Zeit sei, bis sich das Bild zusammenfüge und der endgültige Beweis erbracht sei, wurde von ihm einmal in einem anderen Zusammenhang als >Schuldschein-Materialismus< bezeichnet und für wissenschaftstheoretisch unhaltbar erklärt. (Karl R. Popper und John Eccles, in: Das Ich und sein Gehirn)

Neue Wege: Verhaltensökonomie

Eine Forschungsrichtung, für die die Unfehlbarkeit des Homo Oeconomicus nicht sakrosant ist, steht mit der relativ neuen Disziplin der Verhaltensökonomie zur Verfügung.

Zu den zentralen Annahmen der Verhaltensökonomie zählt die >Verankerung<. Darunter versteht Daniel Ariely die Tatsache, dass viele unserer Entscheidungen eine Folge einiger weniger, wesentlicher Entscheidungen sind, die es für uns immer schwieriger machen, den einmal betretenen Pfad wieder zu verlassen:

Ein besonderes Augenmerk verdient auch unsere erste Entscheidung bei allen Dingen, die eine lange Reihe von Entscheidungen nach sich ziehen werden – .. Es mag in solchen Fällen den Anschein haben, als ginge es nur um eine einzige Entscheidung, die keine großen Folgen nach sich zieht, aber in Wirklichkeit können die Erstentscheidungen einen derart prägenden Effekt haben, dass sie unsere späteren Entscheidungen noch jahrelang beeinflussen. (in: Denken hilft zwar, nützt aber nichts. Warum wir immer wieder unvernünftige Entscheidungen treffen)

Jede Entscheidung, die auf eine Erstentscheidung folgt, erhöht die Pfadabhängigkeit und schränkt damit die Wahlfreiheit ein. Damit geraten automatisch Alternativen aus dem Blick, die Suche nach weiteren Informationen erübrigt sich – solange bis der Pfad so ausgetreten, der Veränderungsdruck so gross ist, dass intensiv Ausschau nach anderen Möglichkeiten gehalten wird.

Bis also der Punkt erreicht ist, der Lichtenberg einmal sagen ließ:

Ich weiss nicht, ob es besser wird, wenn es anders wird. Aber es muss anders werden, wenn es besser werden soll.

Ähnlich wie Ariel argumentiert der Wirtschaftswissenschaflter Brian Arthur vom Santa Fe Institute mit seiner Theorie der zunehmenden Erträge. http://bit.ly/A32Cbx

Zwischenfazit und Ausblick

In einer Welt, die von einer Neuen Unübersichtlichkeit (Habermas) geprägt ist, werden die (kognitiven) Grenzen des rational entscheidenden, nutzenmaximierenden Akteurs in der Wirtschaft immer offensichtlicher. Als Ausweg bleibt, um mit Karl Popper zu sprechen, häufig nur noch die Immunisierung, d.h. die Interpretation empirischer Daten, die die eigenen Hypothese widerlegen, als indirekte Bestätigung oder als irrelevant. Die Anzeichen verdichten sich, dass wir es hier mit einem Paradigmenwechsel im Sinne Thomas Kuhns zu tun haben, d.h. in erster Linie mit einem Generationenproblem.

Alternativen stehen mit der Theorie der Bounded Rationality nach Simon und in der Fortführung von Gigerenzer, wie auch in der Verhaltensökonomie zur Verfügung. Allerdings lassen sich einige Defizite nicht übersehen. So hat die Betonung der Intuition einiges für sich, nicht zuletzt deshalb, da sie dem vielzitierten gesunden Menschenverstand, der gerade vor Ausbruch und während der Finanzkrise arg gelitten hat, rehabilitieren. Damit der Entscheidungsträger aber den „Tipping Point“ auch erkennt, bedarf es zuvor eines hohen Maßes an Erfahrung und Lernen. Ohne entsprechende Vorlaufzeit sind Bauchentscheidungen wirkungslos. Das gilt es zu beachten, bei dem Versuch, die Intuition auf Fragestellungen zu übertragen, deren Komplexität einen Entscheidungsprozess benötigt, an dem mehrere Personen, mit unterschiedlichem Erfahrungshintergrund, beteiligt sind. Hier bieten die Kepner Tregoe Methodik  ebenso wie das Framing von Schoemaker und Russo wichtige Anhaltspunkte.

Dennoch stellt sich das Gefühl ein, dass wir das Problem auch dann noch nicht ausreichend erfasst haben. Bisher haben wir Entscheidungsprozess als ein Problem einer oder ggf. auch mehrerer Personen aufgefasst, die direkt in den Vorgang involviert sind. Was aber, wenn Entscheidungen noch von anderen, unsichtbaren Faktoren beeinflusst werden, welche den gesunden Menschenverstand oder die besten innerbetrieblichen Entscheidungsprozesse aushebeln?

Fragen wie diese sind es, die uns in dem zweiten Teil intensiv beschäftigen werden. Dort werden wir versuchen zu klären, inwieweit von einer freien Entscheidung des Individuums wie auch ganzer Organisationen und Institutionen in einer komplexen Umwelt gesprochen werden kann ohne den Begriff ad absurdum zu führen. Dabei begegnen uns so unterschiedliche Autoren wie Max Bazerman, Karl Weick und Sebastian Haffner ebenso wie die noch relativen neuen Forschungsfelder der Identitiätsökonomie und  der „Intelligenz der Massen“. Auf neue Höhen der Abstraktion wird uns Niklas Luhmann führen und uns eine Ahnung davon geben, warum es auch heißt:

Luhmann lesen ist wie Techno hören 😉

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