"Die Idee des politischen Liberalismus" von John Rawls

by RalfKeuper on 12. Januar 2012

In Zeiten, die uns immer klarer vor Augen führen, was Liberalismus nicht ist, bietet es sich an, die Quellen aufzusuchen. Was liegt da näher, als sich mit dem Werk des wohl einflussreichsten Denkers des Liberalismus des 20. Jahrhunderts, John Rawls, zu beschäftigen. Konkret handelt es sich dabei um das im Vergleich zu seinem epochalen Werk „Eine Theorie der Gerechtigkeit“ weniger bekannte Buch Die Idee des politischen Liberalismus. Zum Thema Ungleichheiten heisst es dort:

„Was die Theorie der Gerechtigkeit regulieren muss, sind diejenigen Ungleichheiten in den Lebensperspektiven von Bürgern, welche sich aufgrund der sozialen Ausgangslage, natürlicher Vorteile und historischer Zufälligkeiten ergeben. Selbst wenn diese Ungleichheiten in einigen Fällen nicht sehr groß sind, kann ihre Wirkung groß genug sein, um auf Dauer bedeutende kumulative Folgen zu haben. Die kantische Form der Vertragslehre konzentriert sich auf diese Ungleichheiten innerhalb der Grundstruktur in der Überzeugung, dass sie die grundlegendsten sind. Sind einmal geeignete Grundsätze zu ihrer Regulierung gefunden und die erforderlichen Institutionen geschaffen, so läßt sich das Problem, wie andere Ungleichheiten zu regeln sind, leichter lösen.“

Warum umfassende Ideale dem Liberalismus widersprechen:

„Als umfassende moralische Ideale sind Autonomie und Individualität für eine politische Gerechtigkeitskonzeption ungeeignet. Dies umfassenden Ideale werden daher trotz ihrer großen Bedeutung für das liberale Denken in den Theorien Kants und Mills überzogen, wenn sie als einzige angemessene Grundlage für einen Verfassungsstaat dargestellt werden. So verstanden wäre der Liberalismus nichts anderes als eine weitere sektiererische Lehre.“

Diese Zeilen sollten sich einige Politiker, die sich als liberal ausgeben, vielleicht einmal etwas näher zu Gemüte führen. Da umfassende Lehren bzw. Ideale als Grundlage für eine politische Gerechtigkeitskonzeption untauglich sind, ruhen alle Hoffnungen auf den wichtigsten gesellschaftlichen Institutionen als Repräsentanten allgemein geteilter Gedanken und Grundsätze, was große Ähnlichkeit mit Karl Poppers Sozialtechnik hat:

„So kommen wir zu einem dritten Merkmal einer politischen Gerechtigkeitskonzeption , nämlich dem, dass diese nicht in Begriffen einer allgemeinen und umfassenden religiösen, philosophischen oder moralischen Lehre formuliert wird, sondern vielmehr in Begriffen bestimmter grundlegender intuitiver Gedanken, von denen wir annehmen, dass sie latent in der öffentlichen politischen Kultur einer demokratischen Gesellschaft vorhanden sind. Diese Gedanken werden gebraucht, um in prinzipieller Weise deren grundlegende politischen Werte zu formulieren und zu ordnen. Wir gehen davon aus, dass es in jeder solchen Gesellschaft eine Tradition demokratischen Denkens gibt, deren Inhalt von Bürgern allgemein zumindest intuitiv vertraut ist. Die wichtigsten Institutionen der Gesellschaft werden zusammen mit den anerkannten Formen ihrer Interpretation als Grundstock implizit geteilter grundlegender Gedanken und Grundsätze angesehen. Wir nehmen an, dass diese Gedanken und Grundsätze zu einer politischen Gerechtigkeitskonzeption ausgearbeitet werden können, von der wir hoffen, dass sie die Unterstützung eines übergreifenden Konsenses gewinnt.“

In Eine Theorie der Gerechtigkeit geht Rawls näher auf den Charakter der Institutionen und ihre Rolle für die soziale Gerechtigkeit ein:

„Unter den wichtigsten Institutionen verstehe ich die Verfassung und die wichtigsten wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse, Beispiele sind etwa die gesetzlichen Sicherungen der Gedanken- und Gewissenfreiheit, Märkte und Konkurrenz, das Privateigentum an den Produktionsmitteln und die monogame Familie. Zusammengenommen legen die wichtigsten Institutionen die Rechte und Pflichten der Menschen fest und beeinflussen ihre Lebenschancen, was sie werden können und wie gut es ihnen gehen wird. Die Grundstruktur ist der Hauptgegenstand der Gerechtigkeit, weil ihre Wirkungen so tiefgreifend und von Anfang an vorhanden sind. Intuitiv stellt man sich vor, dass sie verschiedene soziale Positionen enthält, und dass die Menschen, die in sie hineingeboren werden, verschiedene Lebenschancen haben, die teilweise vom politischen System und den wirtschaftlichen und sozialen Verhältnissen abhängen. Die gesellschaftlichen Institutionen begünstigen also gewisse Ausgangspositionen. Dies sind besonders tiefgreifende Ungleichheiten. Nicht nur wirken sie sich überall aus, sie beeinflussen auch die anfänglichen Lebenschancen jedes Menschen; sie lassen sich aber keinesfalls aufgrund von Verdiensten rechtfertigen. Auf diese Ungleichheiten – die wahrscheinlich in der Grundstruktur jeder Gesellschaft unvermeidlich sind – müssen sich die Grundsätze der sozialen Gerechtigkeit in erster Linie beziehen. Sie bestimmen dann die politische Verfassung und die Hauptzüge des wirtschaftlichen und sozialen Systems.“

Einige hundert Seiten später fügt er hinzu:

„Institutionen sind Verhaltensmuster, die durch öffentliche Regelsysteme festgelegt werden, und das bloße Innehaben der in ihnen bestehenden Ämter und Positionen ist gewöhnlich schon ein Zeichen für bestimmte Absichten und Ziele. Die Gerechtigkeit oder Ungerechtigkeit der gesellschaftlichen Verhältnisse und die Ansichten der Menschen darüber haben starken Einfluss auf die sozialen Gefühle; sie bestimmen in hohem Maße, wie man es ansieht, wenn jemand eine Institution anerkennt oder verwirft oder versucht, sie zu reformieren oder zu erhalten.“

Vor diesem Hintergrund wird deutlich, worum es in der aktuellen Diskussion um Bundespräsident Wulff auch geht – es handelt sich immerhin um das höchste Staatsamt!

Wie eine gerechte Gesellschaft aussehen kann, beschreibt Rawls, ebenfalls in „Theorie und Gerechtigkeit“, so:

„Die gemeinsame gesellschaftliche Tätigkeit, die vielen Gruppen und das öffentliche Leben der umfassenden Gemeinschaft, die sie regelt, unterstützen unsere Bemühungen und fordern unsere Leistung heraus. Doch das Gute, das sich aus der Gesamtstruktur ergibt, geht weit über unsere Arbeit hinaus, in dem Sinne, dass wir keine bloßen Bruchstücke mehr sind: Der Teil von uns, den wir unmittelbar verwirklichen, verbindet sich mit einem umfassenderen gerechten System, dessen Zielen wir zustimmen. Die Arbeitsteilung wird nicht dadurch überwunden, dass jeder selbst das Ganze wird, sondern durch freiwillige und sinnvolle Arbeit innerhalb einer gerechten sozialen Gemeinschaft, an der alle frei gemäß ihrer Neigung teilnehmen können.“

Das ist doch schon mal was 😉

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