Eine Woche Wall Street Journal Deutschland: Latte Macchiato für die Wirtschaft

by Dirk Elsner on 17. Januar 2012

Letzte Woche am Dienstag startete fast klammheimlich der deutsche Online Ableger des Wall Street Journals. Zwar war der Start für Januar schon länger angekündigt gewesen, der genau Termin war aber unbekannt. Via Twitter sprach sich der Start natürlich am Dienstag Morgen schnell herum. Das Look & Feel der deutschsprachigen Version entspricht übrigens weitestgehend der US-Ausgabe.

WSJ Deutschland Start

Allerdings fehlte beim Start noch die Seite Drei mit den Blogs. Die gibt es aber seit letzten Mittwoch. Weil ich zum Start bei einem Kunden weilte, hatte ich für einen ausführlichen Blick auf den ersten Tag wenig Zeit. Ich hatte freilich den Eindruck, dass es nicht viele Aktualisierungen gab im Vergleich zu den Hauptkonkurrenten Handelsblatt und Financial Times Deutschland. Zwar kann der deutsche Onlineableger der wichtigsten Finanzzeitung auf einen Pool von 2.000 Korrespondenten zurückgreifen, davon merkte man jedoch nicht viel in den ersten Tagen. Dies soll sich aber ändern, wie ich mit Freude gehört habe.

Apropos großer Pool. Ich weiß nicht, ob man bei der Konkurrenz lästert, wenn das WSJ Artikel der US-Ausgabe einfach nur 1:1 übersetzt (Beispiel: “Money for Nothing” vs. “Geld zum Nulltarif “). Mich stört es jedenfalls nicht, denn bei harten Wirtschaftsinformationen und Analysen spielt nun einmal das Original in der Champions League globaler Wirtschaftsinformationen.

Man muss mal schauen, ob sich der deutsche Ableger auch dorthin arbeiten kann. Laut Turi2.de kann die Redaktion zwar auf Inhalte aus dem internationalen Netz des Wall Street Journals, der Nachrichtenagentur Dow Jones sowie in Deutschland von Springer-Medien Finanzen.net und Welt Online zurückgreifen. Gestalten muss man die Inhalte aber mit nur 10 Redakteuren. Bei allem Respekt, aber dies ist eine vergleichsweise geringe Zahl, wenn man eigene Akzente in deutscher Sprache setzen will.

Inhaltliche Schwerpunkte legen will Chefredakteur Engelmann mit der “internationalen Perspektive”, sagte er dem Fachblatt Journalist (Link unten). Inhaltlich umgesetzt, wird dies aber vorwiegend unter US-Perspektive. Ob das allein ausreicht, bezweifele ich, denn für die Zielgruppe der angelsächsischen Inhalte gibt es mehr als genug erstklassige Nachrichtenquellen im Netz. Und diesen Lesern ist die Sprache in der Regel egal. Andererseits schadet es uns Medienkonsumenten nicht, wenn eine Nachrichtensite mehr vertiefte Analysen und Hintergrundberichte in der Heimatsprache bringt. Hier muss der deutscher Ableger aber erst noch beweisen, dass er das US-Niveau in der Breite erreichen kann.

Immerhin hat WSJ.de gepunktet mit einem Servicelink auf den Livecast der Pressekonferenz von EZB-Chef Mario Draghi am vergangenen Donnerstag. Solche Links auf der Homepage habe ich bisher auf Handelsblatt Online und FTD nicht gesehen, allenfalls in den Blogs. Schade freilich, dass WSJ.de diesen Livecast nicht auch archiviert hat, wie das etwa Zero Hedge gemacht hat. Die Verlinkung auf Primärquellen scheint für die professionellen Medien in Deutschland immer noch ein Tabu zu sein.

Und gerade mit der Verlinkung auf Primärquellen könnte man im professionellen Medienbereich noch viel mehr punkten, wenn man es etwa so angeht wie die angelsächsischen Blogs, wie etwa Dealbook, Dealjournal, Alphaville, Business Insider oder Zerohedge. Die machen auch deswegen ihren (professionellen) Lesern so viel Freude, weil ihnen mit (teilweiser) rotzfrecher Sprache trotzdem fachlicher Tiefe gelingt, die sie sich aus anderen Quellen holen. Zero Hedge und Alphaville zum Beispiel machen einfach Spaß und vermitteln dabei Hintergrundinformationen aus interessanten Primärquellen, die den Lesern sonst meist verborgen bleiben. Ob ein solcher Stil auch etwas für die Zielgruppe des deutscher Onlineablegers von Rupert Murdochs WSJ ist, von dem Zyniker sagen, sie sei die Prawda der 1%, weiß ich nicht.

Eindeutig punkten wird das Wall Street Journal mit dem Paid Content-Modell. Für den Preis eines Latte Macchiato pro Woche (2,92 Euro) erhält man nicht nur Zugriff auf alle exklusiven Inhalte der deutschen Ausgabe, sondern auch der US-Ausgabe via Internet, Tablet und Smartphone (allerdings nur bis Android 2.3, als Android 4-Nutzer muss ich noch draussen bleiben) gefunden. Der Preis von 12,67 Euro für die digitalen Inhalte ist unschlagbar. Bei der FTD blättert man 24,90 Euro hin, beim Handelsblatt sogar 29,99 EURO, wobei sich beide bisher auf iPhone und iPad beschränken. Das ist schon lange nicht mehr zeitgemäß. Freilich können FTD und Handelsblatt mit einem weit umfangreicheren Archiv in deutscher Sprache punkten. Dafür sind bei WSJ.de die Online-Inhalte aller Ausgaben des Wall Streets Journals enthalten.

BTW, das Handelsblatt, dass ich in der Printausgabe abonniert habe, hat sich seit dem Weggang von Sven Scheffler in der Paid Content Strategie wieder zurück entwickelt. Die meisten Inhalte der Printausgabe sind nur über die im Handling umständliche ePaper-Funktion zu erreichen. Die zwischendurch verfolgte Strategie auch Bezahlinhalte auf die Seite zu stellen, hat man wieder aufgegeben, was ich ärgerlich finde.

Einen wirklichen Meinungstrend habe ich noch nicht verorten können. Klar dürfte sein, dass das WSJ.de sich nicht gerade zum Sprachrohr der Occupy Bewegung machen dürfte. Aber ob das neue Angebot sich rechts von FAZ und Handelsblatt einordnet, ist ebenfalls noch nicht ausgemacht. Punkten wird man damit aber weder bei mir noch bei weiteren webafinen Zielgruppen. Ich erwarte von dem Angebot auch eine gewissen Frische im Denken und nicht eine weitere Plattform, auf der sich etablierte Persönlichkeiten mit langweiligen PR-Interviews in Szene setzen.

Mein Fazit nach einer Woche: Die deutsche Ausgabe des Wall Street Journals schmeckt wie ein Latte Machiaoto: Sie macht munter und unter dem Schaum der US-Ausgabe gibt es Geschmack. Eine eigene Note habe ich zwar noch nicht schmecken können, dazu darf man ihr aber Zeit zur Gehrung lassen. Die Aktualisierungsfrequenz darf besser werden, denn kalter Latte irritiert den Gaumen. Für die Seite Drei würde ich mir mehr starken Espresso analog zu den Blogs des Originals wünschen oder noch besser am Menü von Alphaville. Aber so etwas kann sich noch entwickeln. Jedenfalls gehört die neue Webseite zu meinen täglichen Surfzielen und in die Bookmarks eines jeden, der an Wirtschaftsthemen interessiert ist.

Aber wie ist denn das Fazit der Leser? Ich habe bisher keine einzige Reaktion gelesen. Anders als beim Start der deutschen Wired-Ausgabe schweigt das Netz zum Start von Wirtschaftspublikationen.

Reaktionen zum Start des Wall Street Journals in Deutschland

Journalist: Wirtschaftsjournalismus ohne Zeitung

SZ: US-Wirtschaftsblatt expandiert nach Deutschland – Wall Street Journal geht online

derstandard: Alles Digital: „Wall Street Journal“ startet Deutschland-Ausgabe

mediencity: Das deutsche Wall Street Journal ist ein Hybrid-Produkt und sehr amerikanisch

kress:  Mit Inhalten von „finanzen.net“ und „Welt Online“: „Wall Street Journal

HORIZONT-Check: Wie WSJ.de den deutschen Markt erobern will

tobiasgillen: “Wall Street Journal Deutschland” versucht es mit paid Content

Media Business Journal: WSJ Deutschland gestartet

MACDalchow Januar 18, 2012 um 20:11 Uhr

Na dem letzten Teil der Aussage stimme ich zu. Nach den ersten Blicken ist der Vergleich sehr gut, der Vergleich aber nicht der Gedanke an lau warmen Latte Machiaoto von Starbucks. Da lohnt sich doch eher der Blick ins Original

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