Parallaxe: Der Faule Schwan

by Gastbeitrag on 23. Oktober 2012

Gastbeitrag aus Agora42*image

Wissen ist macht. dieses geflügelte Wort geht auf den englischen Philosophen Francis Bacon zurück. Wenn aber Wissen macht ist, was ist dann erst der Glaube? Der Glaube, so heisst es, kann sogar Berge versetzen. Er wäre mithin eine macht, die unser Wissen – zumindest unser heutiges –  bei weitem übertreffen würde.

Wie unser Glaube ist auch unser Wissen einem ständigen Wandel unterworfen. So „wussten“ wir bis zur Entdeckung Australiens, dass nur weiße Schwäne existieren. Seitdem dort die ersten schwarzen Schwäne gesichtet wurden, wissen wir, dass es auch schwarze gibt. Und seit Nassim Talebs Buch Der Schwarze Schwan – Die Macht höchst unwahrscheinlicher Ereignisse wissen wir um die Macht, die diese seltenen Vögel ausüben.

Schwarzer Schwan: Der Schwarze Schwan hat seine Berühmtheit zu einem Gutteil dem Philosophen Karl Popper (1902–1994) zu verdanken, der mithilfe des Schwarzen Schwans seine Theorie der Falsifi  zierbarkeit (Widerlegbarkeit) von Aussagen illustriert. Popper zufolge kann man grundsätzlich nicht von der Beobachtung eines weißen Schwans (oder mehrerer weißer Schwäne) zu der allgemeinen Aussage „Alle Schwäne sind weiß“ übergehen. Denn man kann nicht ausschließen, dass es nicht irgendwo einen schwarzen Schwan gibt. Wissen hat demzufolge nur so lange Bestand, bis es widerlegt ist. Im Zusammenhang mit extremen Ereignissen in der jüngsten Zeit (Weltwirtschaftskrise, Revolutionen in Nordafrika, GAU in Fukushima) wird der „Schwarze Schwan“ oft gleichbedeutend mit dem Eintritt eines höchst unwahrscheinlichen Ereignisses verwendet.

Handelsblatt-Chefredakteur Gabor Steingart meint sogar zu wissen, dass der Schwarze Schwan Bote einer neuen Zeit sei, „in der die alten Wahrscheinlichkeiten nicht mehr gelten“; er glaubt, erkannt zu haben, dass das einzig Verlässliche unserer Zeit darin besteht, „dass es keine Verlässlichkeit mehr gibt“. Es wäre aber vielen anderen Journalisten gegenüber unfair, diese Meisterleistung menschlicher Erkenntnis nur Herrn Steingart zuzuschreiben. Viele scheinen seine Auffassung zu teilen. Der Glaube an den Schwarzen Schwan nimmt fast biblische Ausmaße an. Vor allem Finanzjournalisten meinen, tatsächlich eingetretene Ereignisse, deren Eintritt aber sehr unwahrscheinlich schien, dem Schwarzen Schwan zuschreiben zu können. So schreibt beispielsweise Markus Zydra von der Süddeutschen Zeitung noch am 2. August 2011: „Investoren versichern sich gegen die nächste Finanzschmelze – obwohl die große Katastrophe so unwahrscheinlich erscheint wie die Begegnung mit einem schwarzen Schwan.“ Ein höchst unwahrscheinliches Ereignis trat bereits drei Tage später, am Abend des 5. August 2011, ein: Das Rating für die Vereinigten Staaten wurde durch Standard & Poor’s erstmals von der Bestnote AAA auf AA+ herabgestuft. Dies war lange Zeit unvorstellbar.

Was nun aber die alten Wahrscheinlichkeiten mit Verlässlichkeit gemein haben, will uns Herr Steingart nicht verraten. Denn die alte Wahrscheinlichkeitstheorie ist lange nicht so verlässlich, wie er uns glauben machen will…

Die Unmöglichkeit Schwarzer Schwäne

 

Was hat es nun mit dem Schwarzen Schwan auf sich, der für allerlei scheinbar unvorhersehbare Ereignisse, wie beispielsweise plötzliche Börseneinbrüche, Fukushima, dem Arabischen Frühling etc., bemüht wird? Nassim Taleb definiert als Schwarzen Schwan ein Ereignis, das den folgenden drei Attributen genügt:

  1. Das Ereignis ist ein „Ausreißer“, das heißt es liegt außerhalb des Bereichs der regulären Erwartungen.
  2. Es ist ein Ereignis mit enormen Auswirkungen.
  3. Und es veranlasst die Menschen dazu, im Nachhinein Erklärungen für sein Eintreten zu
    konstruieren, um es künftig vorhersagbar zu machen – obwohl man es auch einfach als „Ausreißer“ abhaken könnte, der so schnell nicht mehr auftreten wird.

Insofern die oben genannten Ereignisse vor ihrem Eintritt überhaupt nicht erwartet wurden, ihre Auswirkungen jedoch enorm sind und wir nun versuchen, sie zu erklären, erfüllen sie Talebs Attribute des Schwarzen Schwans. Hier sollte man kurz innehalten und sich fragen, ob man, nur weil man diese Ereignisse überhaupt nicht erwartet hat (ihnen eine geringe Wahrscheinlichkeit zugewiesen hat), auch von der Unmöglichkeit dieser Ereignisse ausgehen konnte – und dementsprechend folgern durfte, keinen Gedanken an sie verschwenden zu müssen. Angenommen, wir schreiben den 1. Dezember 2011. Das Jahr endet also in 30 Tagen. In Bezug auf die Wahrscheinlichkeit wie auch die Möglichkeit von Autounfällen können wir dann beispielsweise folgende Diagramme erstellen:

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Das linke Diagramm zeigt die Wahrscheinlichkeiten für Autounfälle: Nicht eintreten wird das Ereignis Autounfall in den verbleibenden 30 Tagen mit einer Wahrscheinlichkeit von 90 %. Ein einziger Autounfall wird mit einer Wahrscheinlichkeit von 5 % eintreten. Zwei Autounfälle werden mit einer Wahrscheinlichkeit von 2,7 %, drei Autounfälle mit einer Wahrscheinlichkeit von 2,3 % eintreten.

Im Rahmen der Möglichkeitsrechnung sieht die Verteilung jedoch ganz anders aus: Mit einem hohen Möglichkeitsmaß wird das Ereignis „kein beziehungsweise ein Autounfall“ eintreten. Auch zwei, drei, vier und fünf Autounfälle sind möglich. Im Grunde ist es möglich (in der Beispielgrafik nicht dargestellt), dass in den verbleibenden 30 Tagen sogar noch 100 Autounfälle verursacht
werden. Das würden wir aber für vollkommen unwahrscheinlich halten. Offensichtlich sind also alle wahrscheinlichen Ereignisse auch möglich, aber nicht alle möglichen Ereignisse sind wahrscheinlich.
Wenn nun Schwarze Schwäne für Ereignisse stehen, deren Eintritt höchst unwahrscheinlich ist, dann ist das nicht gleichbedeutend mit ihrer Unmöglichkeit. Ist es unmöglich, dass ein Börsencrash stattfindet? Ist es unmöglich, dass in einem Erbebengebiet tatsächlich das Ereignis „Erdbeben“ eintritt, mit der Folge, dass sich in einem Atomkraftwerk, das sich in eben diesem Erdbebengebiet befindet, ein Reaktorunglück ereignet? Ist es unmöglich, dass eine von Unterdrückung und Perspektivlosigkeit geplagte Gesellschaft sich gegen den Despoten erhebt? Obwohl all diese Fragen mit nein zu beantworten sind, titulieren wir sie als Schwarze Schwäne und versuchen, sie im Nachhinein zu plausibilisieren. Allerdings: Sich ein paar Gedanken im Voraus zu machen, würde solche Ereignisse in den Möglichkeitenraum überführen und folglich das Label „Schwarzer Schwan“
als eine Form der Denkfaulheit enttarnen. Warum aber machen wir uns diese Gedanken nicht?

Unser Glaube ist stärker als unser Wissen

 

Es sind die Wahrscheinlichkeiten, die uns heimtückisch mitspielen. Herr Steingart scheint in der Wahrscheinlichkeit etwas Verlässliches zu sehen, etwas, worauf er bauen kann. Und in der Tat entstammen Wahrscheinlichkeiten der Mathematik, einer Sprache, die keine Grenzen kennt und die für alle die gleiche objektive Gültigkeit besitzt.

So weit, so wahrscheinlich. Den nächsten Schritt überlassen wir Immanuel Kant. In seiner Kritik der reinen Vernunft nahm er eine Unterscheidung der Begriffe Meinen, Glauben und Wissen vor, die heute unreflektiert und inflationär verwendet werden. Meinen steht hier für ein sowohl subjektiv als auch objektiv unzureichendes „Fürwahrhalten“. Ist dieses Fürwahrhalten nur subjektiv zureichend, wird aber zugleich objektiv für unzureichend gehalten, so heißt es Glauben. Als Wissen schließlich bezeichnet Kant das sowohl subjektiv als auch objektiv zureichende Fürwahrhalten. Wissen ist also etwas, das subjektiv sicher wie auch objektiv gesichert ist. Auch hierzu ein Beispiel: Dass die Erde
eine Kugel ist, gilt heute als gesicherte (das heißt objektive) Erkenntnis. Wenn ich auch noch persönlich davon überzeugt bin, dann bekommt meine Überzeugung das Etikett „Wissen“. Manchen Wissenschaftlern und Philosophen wurde dieses Etikett in früheren Zeiten verweigert. Ihrer Erkenntnis wurde damals nur das Label (falscher) „Glauben“ verpasst – mit zum Teil schwerwiegenden persönlichen Folgen.

Dass Wissen allerdings einem ständigen Wandel unterworfen ist und von der Gesellschaft und der vorherrschenden Philosophie abhängt, gibt selbst Kant zu, wodurch es letztlich eine Frage der Konvention wird, was als objektiv gesichert gilt.

Und hier kommen wieder die Wahrscheinlichkeiten ins Spiel. Weil die Wahrscheinlichkeiten auf einer universal gültigen Sprache fußen (Mathematik) und entsprechend für jedermann die gleiche Gültigkeit besitzen, geben sie unserem Glauben eine objektive Gültigkeit, sodass unser Glaube zu einem Wissen mutiert. Beispielsweise versehen Ratingagenturen Länder, Firmen, Anleihen etc. mit gewissen Bewertungen hinsichtlich ihrer Kreditwürdigkeit, die uns eine objektive Gültigkeit
suggerieren und somit unseren Glauben zum Wissen adeln. Und wenn wir etwas bereits wissen, dann brauchen wir nicht mehr weiter zu denken. In der Berichterstattung über die Finanzwelt führt das zu merkwürdigen Phänomenen: Wissenschaftler vom Trinity College und der University College Dublin haben herausgefunden, dass in wirtschaftlichen Boomphasen die Sprache der Finanzjournalisten sehr homogen ist – das heißt, fast alle Journalisten benutzen die gleichen
Wörter, um die paradiesischen Zustände zu beschreiben. Alle bewegen sich im gleichen Modus, dem Modus „Wissen“. Ganz anders verhält es sich, wenn sich die Märkte im freien Fall befinden. Dann existiert kein objektiv gültiges Urteil, und jeder bringt seinen Glauben über die Gründe des Absturzes mit eigenen Worten zu Papier.

Geistige Scheuklappen

 

Indem wir uns auf das Spiel der Wahrscheinlichkeit einlassen, lassen wir automatisch  mögliche Ereignisse außen vor – Ereignisse, denen wir keine Wahrscheinlichkeit zuordnen können oder wollen. Unser Wissen besteht dann nur aus jenen Ereignissen, an die wir eine Wahrscheinlichkeit heften können. Wenn sich dann aber ein Ereignis aus dem Möglichkeitenraum in unsere Realität verirrt, sind wir überrascht, entsetzt und verwirrt; die Auswirkungen eines solchen Ereignisses führen zu Zuständen, die sich nicht mit unserem Weltbild vereinbaren lassen. Solche bizarren Zustände, die unserem gängigen Weltbild widersprechen, sind in der Quantenphysik gang und gäbe: Ob beispielsweise der Mond da ist oder nicht, hängt letztlich davon ab, ob er überhaupt beobachtet wird. Albert Einstein fragte Vertreter dieses Fachs einmal, ob sie denn wirklich glaubten, der Mond sei nicht da, es sei denn, jemand schaut hin. Vielleicht hatte er noch nichts vom Schwarzen Schwan gehört. Denn es ist durchaus möglich, die Wirklichkeit auszublenden. Wir schauen einfach nicht auf die Möglichkeiten, die uns die Wirklichkeit zur Verfügung stellt. Und solange wir nicht hinschauen, sind sie auch nicht da. Wenn wir dann doch hinschauen, erblicken wir Schwarze Schwäne.


* Dieser Beitrag ist in Agora 42, Ausgabe 5/2011 erschienen und von der Redaktion verfasst. Agora ist ein zweimonatlich erscheinendes Print-Magazin für Ökonomie, Philosophie und Leben. Der Beitrag ist urheberrechtlich geschützt und mit Erlaubnis der Redaktion hier exklusiv online gestellt.

topperhopper Oktober 25, 2012 um 09:36 Uhr

Ein toller Artikel – auch wenn er neben Talebs Schwarzem Schwan nicht wirklich Neues bietet. Aber er macht deutlich, dass WIR ALLE immer nur mit Meinungen oder Glauben unterwegs sind – gerade in der Ökonomie.

Print- und Online-Medien, die ihre Meinungen als Wissen verkaufen – und davon gibt es genug – sind äußerst kritisch zu sehen. Diese Blog gehört für mich nicht dazu!

VG

Martin Burch Oktober 23, 2012 um 19:00 Uhr

Wieso für Sie ein Börseneinbruch ein schwarzer Schwan sein soll ist mir unbegreiflich oder gehen Sie echt noch immer von der Annahme aus, dass ein stetiges, unendliches Wachstum auf einem begrenzten Planeten logisch sein soll..?

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