Philosophische Perspektive: Risiko Normalität

by Gastbeitrag on 25. Oktober 2012

Gastbeitrag aus Agora42*

Die gefährlichen Menschen sind jene, die nicht wahrhaben wollen, dass die
Welt nicht in Ordnung ist, die auf die verrückte Fantasie von Normalität angewiesen sind, um ihrem Leben Struktur zu geben. Diese Menschen sind das Risiko.

Es gibt zwei Sorten von Spießern. Die einen wollen aus der Normalität ausbrechen. Sie suchen das Risiko, indem sie zum Beispiel Sportarten ausüben, bei denen sie ihr Leben oder ihre Gesundheit aufs Spiel setzen. Oder sie wollen sich durch alternative Lebensentwürfe von der gesellschaftlichen Normalität abgrenzen und geben dadurch ihrem Dasein einen riskanten Anstrich. Die andere Sorte sind die klassischen Spießer, jene also, die sich in der Normalität einrichten, die ihr Dasein biedermeierlich geordnet über die Runden bringen und dabei vor allem auf Bequemlichkeit und Schmerzvermeidung bedacht sind.

Warum sind beide Sorten Spießer? Weil beide dem Glauben anhängen, dass so etwas wie eine Normalität existieren würde. Weil sie ganz selbstverständlich davon ausgehen, dass es einen geordneten Hintergrund gibt, einen gesellschaftlichen Normalzustand, den auch der Risikospießer voraussetzt, der seine sichere Basis bildet, von der aus er beispielsweise zu einer lebensgefährlichen Klettertour aufbricht und zu dem er wie in Mutters Schoß zurückkehrt, wenn’s denn geklappt haben sollte mit der Lebensgefahrüberwindung. Eine Rückkehr, die auch manch wagemutiger Unternehmer bereits im Hinterkopf hatte, bevor er sein waghalsiges Unternehmen begann. Oder der Spekulant, der ja heutzutage kaum befürchten muss, von einer aufgebrachten Menschenmenge gelyncht zu werden.

Spinner und Lemminge

 

Die einen wie die anderen Spießer geraten gerne miteinander in Konflikt. Für die klassischen Spießer sind die Risikospießer Spinner, die die Normalität nicht wertschätzen. Für die Risikospießer sind die klassischen Spießer Lemminge, die sich von billigen Konsumversprechen an der Nase herumführen lassen. Erscheint den einen die Lebensweise der anderen als zu riskant, wird ihnen von den anderen vorgeworfen, zu wenig Risiko einzugehen. Dieser Konflikt bildet jedoch nur die Oberfläche, unter der sich die eigentliche Motivation verbirgt. Denn tatsächlich dient die Abgrenzung gegenüber dem jeweils anderen Lebensentwurf als Rechtfertigung für den eigenen Standpunkt.

Nun könnte man sagen: „Alles kein Problem, sollen sie doch machen, was sie wollen, die Spießer“. Falsch, denn Spießigkeit ist ein unverantwortliches Risiko für das Gemeinwesen. Warum? Die klassischen Spießer verschließen sich der persönlichen Fortentwicklung, indem die Erhaltung des (normalen) Status quo für sie höchste Priorität hat. Denn eine solche Fortentwicklung kann ohne Brüche, das heißt ohne die zeitweise Aussetzung des Status quo, nicht erfolgen. So berauben sie sich nach und nach ihrer Freiheit. „Wer die Freiheit aufgibt, um Sicherheit zu gewinnen, wird am Ende beides verlieren“, soll Benjamin Franklin gesagt haben. Mit anderen Worten: Der Entwurf von Normalität trägt von vornherein sein eigenes Scheitern in sich. Das trifft natürlich auch auf die Spießer zu, die keine sein wollen, sich aber dennoch an der Normalität des klassischen Spießers orientieren. Denn ohne diese Abgrenzung wäre auch ihr eigener Lebensentwurf hinfällig.

Was ist schon normal?

 

Für Spießer jeglicher Couleur ist es undenkbar, dass so etwas wie Normalität nicht wirklich existiert, dass sie nur eine Illusion ist, der sehnsüchtige Traum eines Kindes. Es ist für sie folglich unbegreiflich, dass diese Illusion selbst das allergrößte Risiko darstellt, genauer, dass von dem Versuch, sie aufrecht zu erhalten, genau wie von dem Versuch, eine neue (einer anderen Vorstellung von Normalität entsprechende) Ordnung zu schaffen, die größten Gefahren ausgehen. Doch dass dem so ist, dass also Menschen bereit sind, für die Aufrechterhaltung dieser Illusion jedes Verbrechen zu begehen, hat das vergangene Jahrhundert in aller Deutlichkeit vor Augen geführt. Normalität muss auf bestimmten Grundsätzen beruhen, die immer Ausgrenzung und Ungerechtigkeit zur Folge haben. Normalität ist der Nährboden für Gewaltexzesse aller Art, weil sie überhaupt erst Einteilungen ermöglicht (zum Beispiel gut/böse, gesund/krank), die Gewaltexzesse (scheinbar) rechtfertigen.

Nehmen wir beispielsweise den nicht normalen Außenseiter. Wie soll denn ein solcher überhaupt denkbar sein? Lebt er auf einer einsamen Insel, ohne jeglichen Kontakt zu anderen Menschen? Ist er vom Himmel gefallen? Hat er keine Mutter, keinen Vater? Nein, Außenseiter waren noch nie Außenseiter. Und  heute sind wir alle medial derart miteinander verkoppelt, dass es noch absurder
erscheint, einen solchen zu proklamieren, wie dies dennoch beispielsweise im Fall des „Teufels-Killers“ (Bild) Anders Behring Breivik getan wurde. Tatsächlich aber transportiert ein solcher „Außenseiter“ immer etwas der Gesellschaft Innewohnendes. Seine Taten mögen von ihm mit verdrehten und unausgegorenen Argumenten begründet werden; dennoch kommt in seinen
Taten etwas zum Ausdruck, das auch seine Mitmenschen betrifft und beschäftigt. Bleiben ihm die Gründe seines Handelns letztlich nicht ebenso verborgen wie uns „Normalen“ die Gründe unseres eigenen Tuns – ein Tun, das uns immer häufiger in ausweglose Situationen bringt? Drückt sein Handeln nicht eine unbewusste Sehnsucht aus, die auch in weiten Teilen der Normalbevölkerung beheimatet ist – eine Sehnsucht, durch sein Handeln eine ausweglose Situation herzustellen, in der man selbst nicht mehr Herr seines Handelns ist (weil Gerichte oder Finanzmärkte darüber bestimmen)? Bringen gleichermaßen nicht radikale Gruppierungen stets eine untergründig schwelende Stimmung auch bei der übrigen Bevölkerung zum Ausdruck? Jemanden als Außenseiter zu bezeichnen, dient also allein dem Zweck, von den eigenen Problemen und Widersprüchen abzulenken. Auch damit macht man sich schuldig.

Würde jeder Mensch die Widersprüchlichkeit seines Daseins akzeptieren, wäre schon viel erreicht. Dann käme man auch nicht auf die irrsinnige Idee, es könne gute oder böse Menschen geben, kranke oder gesunde. Denn auch die Unterteilung in gesund und krank zeugt nur von der tiefer liegenden Krankheit, solche Einteilungen überhaupt vorzunehmen, das heißt an eine körperliche oder psychische Normalität zu glauben. War der SS-Mann, der andere als krank bezeichnete, gesund? Ist der alkohol- oder tablettenabhängige Arzt gesund? Der arbeitssüchtige Unternehmer? Ist der Freizeitsportler, der sich von einem Sportunfall zum nächsten hangelt, gesund? Oder der gedopte Leistungssportler? Ist der Mensch, der die ganze Zeit nur die wahnwitzige Idee vor Augen hat, gesund zu leben und dabei seine sämtlichen sozialen Kontakte an die Wand fährt und mit seiner Gesundheit überhaupt nichts anfangen kann, weil er sich durch seine zwanghafte Lebensweise den Zugang zu jeder Art von Genuss verbaut hat, gesund? Man käme dann auch nicht auf die Idee, zwischen gut und böse zu unterscheiden und sich folglich für den Guten zu halten, der das Recht auf seiner Seite hätte – notfalls eben das Recht, zu töten oder töten zu lassen.

Noch ganz normal?

 

Heute veranschaulicht auch der Glaube an eine ökonomische Normalität das erschreckende Ausmaß der mit diesem Glauben verbundenen Risiken. Ganz normale Familienväter gefährden mit ihren riskanten Geschäften, wie im Falle der Verbriefungen von Immobilienkrediten, ganze Volkswirtschaften. Ganz normale Mütter arbeiten für eine ganz normale heimische Firma, die Waffen herstellt, und erhöhen dadurch das Risiko, dass Menschen in großer Zahl verletzt oder getötet werden. Und führt nicht gerade die Lebensweise der ach so zivilisierten, aufgeklärten und freien Menschen der westlichen Hemisphäre zu Gewaltexzessen und brutaler Unterdrückung in anderen Erdteilen (Ölförderung; Abbau anderer Ressourcen; Umweltzerstörung; Klimawandel und die Folgen: Kriege um Wasser beispielsweise; Unterstützung diktatorischer Regime, um die eigenen wirtschaftlichen Interessen durchzusetzen; etc. pp.)?

Das Problem sind die Menschen, die glauben, normal zu sein, gut zu sein oder jene, die ganz gesund leben wollen. Menschliches Leben ist immer ein Drahtseilakt und wer das nicht akzeptiert, zieht sich und andere in die Tiefe. Kein Mensch hat das Recht darauf, ein Spiesser zu sein. Kein Mensch hat das Recht darauf, nicht erwachsen zu werden. Ein Gemeinwesen wird getragen
von Erwachsenen, nicht von kindischen Träumern. Und erwachsene Menschen sind solche, die wissen, dass es im Leben keine Sicherheit gibt, dass die Vorstellung einer geordneten Normalität absurd ist. Die gefährlichen Menschen sind jene, die nicht wahrhaben wollen, dass die Welt nicht in Ordnung ist, die auf die verrückte Fantasie von Normalität angewiesen sind, um ihrem Leben
Struktur zu geben. Diese Menschen sind das Risiko.


* Dieser Beitrag ist in Agora 42, Ausgabe 5/2011 erschienen und von der Redaktion verfasst. Agora ist ein zweimonatlich erscheinendes Print-Magazin für Ökonomie, Philosophie und Leben. Der Beitrag ist urheberrechtlich geschützt und mit Erlaubnis der Redaktion hier exklusiv online gestellt.

Martin Burch November 20, 2012 um 20:28 Uhr

Die gefährlichsten Menschen sind jene, die mit dem Finger auf andere zeigen!
(ganz schön allumfassend die Kritik und wer Schuld ist, aber das ganze ohne einen Lösungsvorschlag macht den Beitrag fast schon hinfällig)

nigecus Oktober 28, 2012 um 12:51 Uhr

irgendwie bilde ich mir ein, dass die folgenden Videos die Sache mit den Spießern schonmal angesprochen haben:

0:30 Gleiches Ambiente
http://www.youtube.com/watch?v=s-ULvJeqDdU

Das bißchen Totschlag
http://www.youtube.com/watch?v=01Hxq-PFOlc

Meine Kleine Welt
http://www.youtube.com/watch?v=8AUMzg6i4R0

„…Und führt nicht gerade die Lebensweise der ach so zivilisierten, aufgeklärten und freien Menschen der westlichen Hemisphäre zu Gewaltexzessen und brutaler Unterdrückung in anderen Erdteilen…“

Haha „frei“. Wer ist schon „frei“. Fast jeder Mensch ist Zwängen ausgesetzt und somit nicht „frei“. In ein Rollenmodell zu verfallen, sprich‘ ein „Spießer“ zu sein, ist i.d.R. nahezu perfekt die Zwänge zu bedienen.

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