Inquisition 2.0 – oder die verlorene Ehre der deutschen Presse

by Karl-Heinz Thielmann on 23. September 2013

Ich hätte nie gedacht, dass das Einzige, was ich mal über Jürgen Trittin schreibe, etwas zu seiner Verteidigung ist. Zur Politik des Erfinders des Dosenpfands möchte ich mich auch weiterhin nicht äußern, und auch sonst nicht zu seiner Person, insofern erscheint dieser Beitrag folgerichtig einen Tag nach der Wahl.

Nur eines möchte ich zu Jürgen Trittin sagen: Nach allem was ich weiß, ist er definitiv kein Kinderschänder und auch kein Sympathisant dieser Leute.

Wie allerdings in der deutschen Presse seit einigen Tagen versucht wird, genau diesen Eindruck zu erwecken, ist unsäglich. Nur noch unsäglicher ist die Aufregung der Presse darüber, dass fast alle seine politischen Gegner nicht versucht haben, aus diesem Pseudoskandal Profit zu schlagen, sondern sich im Gegensatz zur üblichen Wahlkampfrhetorik sachlich damit auseinandersetzen. Haben sich etwa alle verschworen, um einen Skandal zu vertuschen?

Jürgen Trittin hat vor 32 Jahren etwas sehr dämliches zum Thema Pädophile presserechtlich verantwortet. Das war keine Glanzleistung, aber er hat seitdem nach allgemeinem Erkenntnisstand zu diesem Thema nichts Dummes mehr gesagt oder gemacht und auch seine früheren Aussagen bedauert. Soweit, so gut.

Nichtsdestotrotz wurde auf hysterische Art und Weise versucht, seine Person in den Dreck zu zerren. Er reiht sich damit in die Reihe von Politikern und anderen Prominenten ein, die irgendwann einmal etwas Unbedachtes oder Missverständliches gesagt bzw. getan haben, was später dann als angebliche Skandalgeschichte ausgeschlachtet wurde.

Ob Angela Merkel als Stasi-Schläfer, weil sie mal in der FDJ war; ob Rainer Brüderle als Sexismus-Monster, weil er sich mal vor Jahren abends an der Bar besoffen gegenüber einer Journalistin im Ton vergriffen hat; oder Günter Grass als verkappter Nazi, weil er mit 17 ein paar Tage zwangsweise in der SS war; keine Story ist zu abseitig, um nicht wochenlang hochgekocht zu werden. Und es kann jeden erwischen, ob links, ob rechts, ob sehr bekannt oder wenig prominent.

Dies wird als investigativer Journalismus verkauft, ist aber in Wirklichkeit inquisitorisch. Genau so, wie die Inquisition früher angebliche Indizien für „Hexerei“ an den Haaren herbeigezogen hat, um Menschen dann zu foltern und zu vernichten, so sucht die deutsche Presse jetzt nach Fehlern von Prominenten in der Vergangenheit, um diese Leute dann einem öffentlichen Inquisitionstribunal zum Eingestehen ihrer Sünden mit anschließendem Rücktritt von ihren jeweiligen Posten zu zwingen. Da es für Politiker ja nichts Schlimmeres gibt, als Fehler einzugestehen, ist die Skandalisierung früheren Verhaltens gleichbedeutend mit der Vernichtung ihrer Existenz.

Wie viele deutsche Gymnasiasten musste ich in der Schule „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“ lesen; ungern, wie alles, was man zwangsweise macht. Dennoch ist mir dieses Buch in Erinnerung geblieben, weil es auf eindrückliche Weise die Vernichtung eines Menschen durch die Boulevardpresse schildert. Vor 39 Jahren, als dieses Buch erschien, ging es nur um einen Teil der Presse, viele Zeitungen und Magazine definierten sich noch als „seriös“.

Heutzutage werden die Persönlichkeitsrechte einfacher Menschen wie der Katharina Blum aus dem Roman geschützt, dafür gelten Prominente als Freiwild. Wer sich in die Öffentlichkeit begibt, so die allgemeine Auffassung, ist selbst schuld. Deshalb dürfen auch die früher als seriös geltenden Medien ungehemmt Jagd auf sie machen.

In diesem Land und in der Welt gibt es viele echte Skandale. Promis anzuschwärzen, weil sie mal einen Fehler gemacht haben, lenkt nur von den eigentlichen Problemen ab. Glücklicherweise gibt es das Internet und man ist daher in der Lage, sich dort Artikel der schweizerischen und britischen Qualitätspresse durchzulesen. Weder der Guardian als Musterbeispiel eines investigativen Journalismus, die NZZ als seriöse Tageszeitung noch die Financial Times oder der Economist in der Wirtschaftspresse haben ein deutsches Gegenstück, was auch nur ansatzweise das Niveau erreicht. Dies liegt u.a. auch daran, das man sich dort die Unabhängigkeit bewahrt hat. Kritischer Journalismus ist nicht, wenn man andere Leute mit Mist bewirft, da man über die wahren Skandale nicht schreiben mag. Dies könnte daran liegen, dass man hier inzwischen entweder zu unfähig zu echter Recherchearbeit ist, oder weil man eventuell Anzeigenkunden verärgern könnte. Beides sind keine wirklich befriedigenden Antworten für den Leser.

Die Schriftstellerin Monika Maron hat vor einigen Wochen im Spiegel das viel beachtete Essay „Bin ich vielleicht verrückt geworden?“ veröffentlicht, in dem sie ihre Befremdung beim täglichen Medienkonsum schildert. Dass sie dafür ausgerechnet den Spiegel gewählt hat, entbehrt nicht einer gewissen Ironie, da gerade bei diesem im Moment den Wandel vom Qualitäts- zum Sensationsjournalismus besonders spürbar ist. Sie schildert eindrücklich die selbstgerechte Moral deutscher Pressevertreter und die sich daraus ergebende Unlust zum weiteren Konsum ihrer Produkte.

Liebe Journalisten: Auch ich mag den ganzen Müll nicht mehr lesen, insbesondere die heuchlerische Skandalberichterstattung. Es ist mir egal, ob derjenige, den ihr in den Dreck tretet, mir sympathisch ist oder nicht. Das in den Dreck treten ist das ekelerregende, und mir wird von mal zu mal übler. Durch diese Berichterstattung büßt der Journalismus die Ehre ein, und nicht Jürgen Trittin oder seine Leidensgenossen.

Mit Boulevardgeschichten ist es wie mit Junk Food: Wir alle haben ein bisschen Sensationsgier in uns, und die will gelegentlich befriedigt werden, genauso wie man manchmal eine fette Bratwurst oder Hamburger isst, auch wenn es zu Magen- und Verdauungsproblemen führt. Ernährt man sich aber ständig davon, wird man dick und krank.

Wenn die deutsche Presse unter Auflagenschwund klagt, dann sollte sie mal darüber nachdenken, wer für den Einheitsbrei von Pseudoskandalen, der uns täglich vorgesetzt wird und nur Blähungen im Kopf hinterlässt, auch noch Geld ausgeben soll. Das Businessmodell der deutschen Presse stimmt nicht mehr. Wenn die Leser nichts oder fast nichts mehr bezahlen wollen, liegt das nicht an der Gratiskonkurrenz im Internet, sondern daran, dass die verkauften Inhalte immer mehr zu intellektuellem „Junk Food“ werden, also auch fast nichts mehr wert sind.

Klaus September 23, 2013 um 21:32 Uhr

Für mich sind das zum Teil aber auch echte Skandale, vor allem die Protagonisten selbst so moralisch über andere urteilen. Nehmen wir mal Grass und Trittin.

Grass hat sich vehement gegenüber CDU-Politiker geäußert, die eine NSDAP-Vergangenheit hatten, auch wenn diese wie bei ihm selbst eher gering war. Bei Kiesinger hat er bspw. nicht gelten lassen, dass dieser bei Himmler angeschwärzt wurde, weil er Befehle gegen Juden torpedierte. Gleichzeitig aber seine (wenn auch eher geringe) Teilhabe zu verschweigen, hat schon was stark Heuchlerisches an sich.

Trittin fordert den Rücktritt Schavans, weil diese vor 30-40 Jahren plagiiert hat (und dabei im wesentlichen lediglich aus Sekundärliteratur zitierte ohne dies anzugeben). Aber jetzt soll es unfein sein, seinen Rücktritt zu fordern, weil er mit seiner Unterschrift die Forderung einer kompletten Abschaffung einer Altersgrenze (also auch unter 14 oder gar 12 Jahren) bei Geschlechtsverkehr mit Kindern forderte?

ludwig September 23, 2013 um 10:00 Uhr

Traurig aber absolut zutreffend.
Mein FAZ und Spiegel Abo habe ich schon längst gekündigt,ich informiere mich
fast nur noch über Blogs und Presseerzeugnisse aus dem Ausland.Allenfalls
berufsbezogene Fachpresse ist noch lesenswert.

Es ist geradezu symptomatisch für unsere Medien,dass sachgerechte, analytische
Behandlung der Themen und Ereignisse durch Oberflächlichkeit,kontextuale Entstellung und interessenbedingter Einfärbung ersetzt wurde.

Besonders der Niedergang der einstigen Ikone des investigativen Journalismus „Spiegel“ ist zu beklagen.So gesehen ist das wirtschaftliche Ausbluten der Verlage nur folgerichtig,denn eine Zeitung,die keinen informativen Mehrwert erzeugt braucht wirklich kein Mensch.

Schöne Grüsse

ralf sippel September 23, 2013 um 08:26 Uhr

Das mag ja alles richtig sein. Für mich und viele andere grüne Sympathisanten aus meinem Freundeskreis hat es leider ausgerechnet Frau Familienministerin Schröder (warum leider, sie hatte ja in ihrer Amtszeit kaum etwas sinnvolles zur Politik beigetragen bzw. gesagt) auf den Punkt gebracht:
„Als Jürgen Trittin mit falschen Bolzenschneider- und Schlagstock-Fotos von einer Göttinger Demo konfrontiert wurde, konnte er sich sofort perfekt an jedes entlastende Detail der Szene erinnern“, sagte die Ministerin dem in Berlin erscheinenden „Tagesspiegel“ (Dienstagausgabe). Derselbe Jürgen Trittin brauche nun einen Professor, „um seine persönlichen Erinnerungen an grüne Pädophile wachzurütteln und zu veröffentlichen“.

Die Verteidigungsstrategie war erbärmlich und hat das Gefühl hinterlassen, da war doch mehr….

Karl-Heinz Thielmann September 23, 2013 um 13:50 Uhr

Wie soll die „Verteidigungsstrategie“ von jemandem aussehen, der in der Öffentlichkeit mit völlig absurden Unterstellungen konfrontiert wird? Es gibt keine, der Betroffene wird sich immer in irgendeiner Form unglücklich äussern oder ganz abtauchen; und genau darauf spekulieren die Inquisitoren, denn dann kann man gleich weitere Verdachtsmomente konstruieren, usw.

„… hat das Gefühl hinterlassen, da war noch mehr…“ exakt darum geht es. Mit difusen (und vielleicht sogar paranoiden) Unterstellungen kann man jeden Menschen zugrunde richten. Im Rechtsstaat git das Prinzip der Unschuldsvermutung. Im Medienstaat scheint sich das gegenteilige Prinzip durchzusetzten: Wer mit Unterstellungen konfrontiert wird, muss sich selber reinwaschen. Dies ist natürlich um so schwieriger, wenn nichts war, denn dann kann man ja auch nicht die Unschuld beweisen, weil man ja nicht damit gerechnet hat, dass man jemals irgendetwas beweisen müsste.

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