Bürokratie und Chaos: Schumpeter über die „schöpferische Zerstörung“

by Gastbeitrag on 29. Januar 2014

 

Wie sehen Ökonomen die Veränderung? Mit welchen Konzepten und Begriffen beschreiben sie den beständigen Wechsel? Unter den großen Wirtschaftsdenkern hat Joseph Alois Schumpeter (1883–1950) sicherlich die Fragen des Neuen und der Innovation am stärksten in den Mittelpunkt seiner Überlegungen gestellt.

Gastbeitrag von Bernd Villhauer*

Berühmt wurde Schumpeter für die Beschreibung des Phänomens der „schöpferischen Zerstörung“, einem Begriff, der 1942 zum ersten Mal auftaucht und in den öffentlichen Diskussionen unvermindert präsent ist. Damit ist der Prozess der Umwälzung und Neuschöpfung gemeint, der im kapitalistischen Wirtschaftssystem dafür sorgt, dass Unternehmen untergehen und gleichzeitig die Voraussetzungen für den Aufstieg neuer Unternehmen geschaffen werden. Diese konstruktive Destruktion wurde gleichsam zum Kennzeichen von Schumpeters Denken, seinem intellektuellen Alleinstellungsmerkmal:

„Dabei fällt es nicht schwer, ein schumpeterianisches Programm zu erkennen, ganz gleich, auf welcher Ebene man danach sucht: der des Unternehmers, des Betriebs, der Branche oder des ganzen Landes. Auf all diesen Ebenen besteht Schumpeters Lackmustest darin, ob die Akteure nach Innovation streben und schöpferische Zerstörung betreiben. Ist das der Fall, dann ist ihr Programm schumpeterianisch, andernfalls nicht.“ (Thomas K. McGraw: Joseph A. Schumpeter. Eine Biographie. Murmann Verlag, Hamburg 2008, S. 203)

Schumpeter hielt diese „schöpferische Zerstörung“ für eine der Grundlagen des Kapitalismus, der daher nie als stabiles System im Gleichgewicht gedacht werden dürfe. Kapitalismus und ständige Revolutionierung der Verhältnisse sind untrennbar miteinander verbunden. Um diese wechselhafte und quecksilbrige Gemengelage zu beschreiben, müssen wir die wichtigsten dauerhaften Kräfte und Potenziale in einem sich dauernd verändernden geschichtlichen Prozess verstehen. Dieser Prozess folgt keiner klaren Entwicklungslogik, ist ungeordnet und enthält auch lange Phasen des reinen Chaos. Konstant bleiben aber die kreativen Fähigkeiten des Menschen. Schumpeters besonderes Talent liegt darin, die ökonomischen Verhältnisse immer als historische und zugleich soziologische zu lesen und so den Menschen in einen realen Kontext der Abhängigkeiten zu stellen, anstatt ihn zum abstrakten Homo oeconomicus eines Rechenmodells zu machen.

 

Homo oeconomicus: In Abwandlung von Homo sapiens (von lateinisch homo = Mensch und sapiens = weise) bezeichnet Homo oeconomicus („Wirtschaftsmensch“) in der Wirtschaftstheorie das Modell eines ausschließlich nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten denkenden und handelnden Menschen. Der Homo oeconomicus handelt rational, ist auf die Maximierung des eigenen Nutzens bedacht und vollständig über das Marktgeschehen informiert.

 

Vielleicht greifen deshalb auch heute immer wieder Leser nach seinem großartigen Buch Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie. In ihm wird die Wirtschaftsgeschichte nicht als Abfolge von Wirtschaftsmodellen beschrieben, sondern als Anthropologie und Soziologie des wirtschaftenden Menschen, der in einer chaotischen Welt Inseln der Rationalität und Verlässlichkeit schafft. Und dies kann er nur, weil er den Mut zur Veränderung hat.

Kapitalismus – zum Untergang verurteilt

Kreative und mutige Einzelpersönlichkeiten erkennen in glücklichen Augenblicken die Chancen, die die Marktentwicklung bietet – im Kern der Schumpeterschen Wirtschaftssoziologie steht die Unternehmerpersönlichkeit. Ohne sie bleibt von der „schöpferischen Zerstörung“ nur die Zerstörung. Und er beschreibt mit Unbehagen eine Zeit, in der die Kreativität durch die Macht gigantischer Bürokratien begrenzt wird. Aber kann man das verhindern? Tatsächlich sieht Schumpeter den Untergang des Kapitalismus als etwas Notwendiges. Dieser untergräbt nämlich genau die kreativen und produktiven Kräfte, die ihn selbst hervorgebracht und am Leben erhalten haben. Allerdings ist zweifelhaft, ob etwas Besseres nach ihm kommt – denn Schumpeters Beschreibungen eines alternativen Systems (in seiner Zeit als Sozialismus beschrieben) klingen nicht sonderlich sympathisch und anstrebenswert. So ist es für Schumpeter ausgemacht, dass sich die sozialistische Weiterentwicklung der kapitalistischen Ökonomie mit der uns bekannten Form der freiheitlichen Demokratie nur schlecht verträgt. In den riesigen Apparaten und Bürokratien, die der Sozialismus vom Kapitalismus erben soll, herrscht der Technokrat, nicht der mündige Bürger, der an das Gemeinwohl denkt und die Freiheiten der Mitbürger sichert. Es wird also dann unter „Demokratie“ etwas anderes verstanden werden als ein System der organisierten Freiheit. Gleichwohl kann dieser Sozialismus, so Schumpeter, genauso effizient Waren und Dienstleistungen zur Verfügung stellen. Die Fackel der Freiheit aber, die auch im hochentwickelten Kapitalismus nicht mehr sehr hell leuchtete, wird ganz erlöschen.

Im Herzen des Chaos

Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie lässt sich auf vielerlei Weise lesen – als sachliche Bestandsaufnahme wie als Programm, als prophetisches Buch, als warnendes, als ironisches … Und so wurde es als Plädoyer für den Sozialismus verstanden, ebenso wie als Warnung vor demselben, es wurde als Lob des Großunternehmers interpretiert, aber auch als melancholische Rückschau auf die Zeit der „königlichen Kaufleute“, über die die Geschichte hinweggegangen ist. Aber Schumpeter ist kein Ewiggestriger, der dem 18. oder 19. Jahrhundert nachhängt und nach Möglichkeiten sucht, Tierschutzreservate für die Spezies der Unternehmer zu errichten. Trotz seiner Selbststilisierung als Dandy und Grandseigneur, als charmante Erinnerung an österreichisch-ungarische Größe, war er nicht rückwärtsgewandt. Er ist in all seinen Äußerungen modern, geradezu entschlossen modern – ein Denker der Gegenwart. Die Entfaltung immer neuer Technologien hat er mit Optimismus begleitet:

„Technische Möglichkeiten sind ein unerforschtes Meer. (…) Und jene, die noch im Schoße der Götter ruhen, können mehr oder weniger produktiv sein als alle, welche bislang in den Bereich unserer Betrachtungen gekommen sind. (…) es liegt kein Grund vor, ein Nachlassen des Produktionstempos infolge Erschöpfung der technischen Möglichkeiten zu erwarten.“ (Joseph A. Schumpeter: Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie. A. Francke Verlag, Stuttgart 2005, S. 193)

Wenn schon Veränderung – und sie ist geradezu naturgesetzlich notwendig – dann soll sie verstanden werden. Schumpeter sieht sehr genau, dass es eine Eigenschaft des Menschen ist, die jeweils gegenwärtige Situation als notwendig und stabil zu betrachten: so wie es ist, so soll es bleiben. Aber diese bürgerliche Behäbigkeit ist ihm doch fremd; seine eigene wechselvolle Biografie, die Geschichte eines begabten Außenseiters, der vernichtende (auch finanzielle) Niederlagen zu verkraften hatte, gab ihm die Möglichkeiten zu einem offenen und ehrlichen Blick ins Herz des Chaos, das hinter den wirtschaftlichen Verhältnissen jeder Zeit existiert. Dazu war Schumpeter bereit und deshalb hat er auch frühzeitig die Bedeutung von Karl Marx verstanden. Als einer der wenigen bürgerlichen Ökonomen der Zeit hat er Marx ernst genommen und in ihm nicht nur eine fragwürdige Mixtur aus englischer Nationalökonomie, hegelianischer Geschichtsphilosophie und jüdischem Messianismus gesehen. Er beschrieb Marx als einen der großen Aufklärer und Augenöffner. Marx machte die wirtschaftlichen Entwicklungsprozesse für die durchsichtig, die am meisten von ihnen betroffen waren. Er ermöglichte den einfachen Menschen, ihre Scheu vor den Eliten zu verlieren und „sich nicht länger als Außenseiter in den großen Affären des Lebens zu fühlen – plötzlich sehen sie durch die aufgeblasenen Marionetten von Politik und Wirtschaft hindurch“.

Er stimmt mit Marx allerdings in einer Weise überein, die weder marxistische noch bürgerliche Ökonomen befriedigen kann. Dieses im Einzelnen auseinanderzusetzen, fehlt hier der Raum, aber so viel sei gesagt: als Ökonom wird Marx von ihm kritisch gesehen, hingegen als Soziologe (und heute würden wir wohl Politikwissenschaftler hinzufügen) hält er ihn für ein visionäres Genie. Wie Marx ist Schumpeter der Ansicht, dass der Kapitalismus scheitern muss, aber nicht aus ökonomischen, sondern aus sozialen Gründen. Der Kapitalismus kann die Menschen mit Gütern versorgen, aber er kann nicht ihr Herz gewinnen. Vielmehr bringt er zwangsläufig immer wieder Gruppen hervor (Schumpeter liefert eine lesenswerte Analyse der Schicht der Intellektuellen und legt dar, warum diese notwendig in ihrer Mehrheit antikapitalistisch eingestellt sind), die nach Systemalternativen suchen. Deshalb kann das Wirtschaftsystem auch nicht untersucht werden, ohne seine soziologischen und psychologischen Voraussetzungen zu erkunden. Dies verdeutlicht er auch an Prozessen wie der Anonymisierung der wirtschaftlichen Macht: Von den familiengeführten Einzelfirmen bis zur Aktiengesellschaft mit Gremien, in denen niemand mehr wirklich verantwortlich ist, und „Eigentümern“, die nur ihre Dividende im Blick, aber kein Verständnis für die praktischen Alltagsprobleme der Firmenentwicklung haben, führt eine abschüssige Bahn. Um sie zu verstehen und sich klar zu machen, welche Probleme auftreten, wenn für unabhängige Firmen mit einer Inhabertradition keine Nachfolger gefunden werden (gerade im Deutschland der Gegenwart ein wichtiges Problem), muss man geschichtswissenschaftlich und psychologisch sensibilisiert sein. Eine Aufgabe, mit der die herkömmliche Mainstream-Wirtschaftswissenschaft hoffnungslos überfordert ist. Schumpeter weist nach, weshalb die Ökonomie einfach zu wichtig ist, um sie den Ökonomen zu überlassen.

Der Selbstdenker Schumpeter hat aber nicht eine neue Wirtschaftsphilosophie begründet und die Dogmengeschichte nicht um ein weiteres System erweitert. Was ihm seine zahlreichen wirtschaftstheoretischen Erkenntnisse ermöglicht hat, das war schlicht: tiefes Interesse am Menschen. Nichts Menschliches war dem eitlen Frauenhelden Schumpeter fremd. Sein Renommiergehabe, seine Manierismen – all das macht ihn zutiefst human und zieht an. Dass er in seinen Analysen den Menschen in seiner Fülle von guten und schlechten Eigenschaften ernst nahm, in seiner erhabenen Lächerlichkeit anerkannte – das macht Joseph Alois Schumpeter zu einem der wichtigsten ökonomischen Denker des 21. Jahrhunderts.


* Bernd Villhauer, Ausbildung zum Industriekaufmann, Studium der Philosophie, Alten Geschichte und Kunstgeschichte; Tätigkeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter/Dozent sowie im Lektorat verschiedener Verlagsunternehmen. Zurzeit Leiter des Lektorats in einer wissenschaftlichen Verlagsgruppe. Initiator der Reihe „Klüger wirtschaften“ am Weltethos-Institut Tübingen.

Der Beitrag ist in Ausgabe 1/2014 der  agora42, das philosophische Wirtschaftsmagazin erschienen, die den Titel Veränderung trägt. Der Beitrag erscheint hier mit Genehmigung des Verlages und des Autors.


Vom Autor empfohlen:

SACH-/FACHBUCH:

Thomas K. McCraw: Joseph A. Schumpeter. Eine Biografie (Murmann Verlag, 2008); eine gut lesbare Gesamtdarstellung, die nicht nur den Theoretiker Schumpeter plastisch werden lässt.

ROMAN:

Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften (drei Bände: 1930, 1933, 1943); riesiges Romanfragment, das eine Fülle von Beobachtungen zum Unternehmertum und zu Wirtschaftsprozessen enthält, auch gerade zu der Phase, in der Schumpeter selbst als Akteur politisch und ökonomisch aktiv war.

FILM:

Tucker. The Man and His Dream (1988) von Francis Ford Coppola; ein mit einem spielfreudigen Jeff Bridges wunderbar inszeniertes kleines Drama über Innovationen in der Automobilindustrie nach dem Zweiten Weltkrieg.

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