Der Brexit kommt ganz sicher … vielleicht … später … oder doch nicht

by Karl-Heinz Thielmann on 27. Juni 2016

Wir haben in Hinblick auf das Brexit-Referendum vom 23.6. einige sehr verwirrende Tage hinter uns. Nachdem sich jetzt die erste Aufregung gelichtet hat und die Fakten klarer werden, scheint es für mich inzwischen sehr zweifelhaft, dass ein Brexit überhaupt stattfindet. Und wenn er doch kommt, so wird dies nicht so bald sein.

Die Gründe hierfür sind:

1) Im Gegensatz zum Eindruck, der in den Medien vermittelt wird, ist das Brexit-Referendum nicht bindend. Rein rechtlich hat es die gleiche Bedeutung wie eine Meinungsumfrage. Den Austritt aus der EU kann nur die Regierung vollziehen, nachdem vorher in den verschiedenen Kammern des Parlaments ein Gesetz hierzu beschlossen wurde.

So ein Gesetz muss aber erst von einer neuen Regierung erarbeitet werden. Diese Regierung gibt es aber noch nicht. Weiterhin sind in beiden Kammern des britischen Parlaments die Europa-Befürworter in der Mehrheit. Sie sind bei ihrer Abstimmung nur ihrem Gewissen verpflichtet und nicht dem Referendumsergebnis. Der ganze Prozess wird frühestens im November abgeschlossen sein. Eine Zustimmung zum EU-Austritt ist derzeit insbesondere im Oberhaus unwahrscheinlich, weshalb es aber tatsächlich sehr viel länger dauern dürfte.

Da die EU informelle Vorverhandlungen vor einer offiziellen Kündigung ablehnt, ist mit einem ernsthaften Beginn der Verhandlungen nicht vor 2017 zu rechnen.

2) Das Brexit-Lager muss inwischen einräumen, dass sie a) unrealistische Versprechungen gemacht hat; sowie b) keine wirklich konsistenten Pläne für den Vollzug des Brexits hat.

Boris Johnson versucht sogar inzwischen die logische Rolle rückwärts, indem er jetzt erklärt, dass sich nach einem Brexit die Kooperation mit Europa intensivieren wird. Wer soll ihm noch glauben?

Die Bildung einer Brexit-Regierung mit einem glaubwürdigen und umsetzbaren Programm dürfte daher sehr schwierig werden. Insofern kann es sein, dass der Brexit-Prozess schon zu Beginn an der Formulierung eines Brexit-Gesetzes scheitert.

3) Vielen Brexit-Wählern wird zunehmend klar, dass sie etwas gewählt haben, was sie nicht wollten, und tun dies öffentlich kund. Insofern kann man die Brexit-Kampagne durchaus als großangelegte Wählertäuschung ansehen. Das Ergebnis wäre dann nicht als Ausdruck des Willens einer Mehrheit anzusehen, die weiss was sie tut.

Andererseits muss man sich natürlich auch fragen, ob es wirklich ein Zeichen für demokratische Reife ist, wenn 17 Millionen Menschen für etwas stimmen, was sie überhaupt nicht kennen. Trotzdem ist eine Wiederholung durch eine jetzt besser informierte Öffentlichkeit gerechtfertigt, was ja auch zunehmend gefordert wird bzw. wofür es schon eine Online-Petition gibt. Allerdings sollte dann über einen konkreten Austrittsplan abgestimmt werden, damit die Wähler dann auch wissen, wofür genau sie abstimmen.

Das Brexit-Referendum erscheint im Nachhinein als Inszenierung, die schief gegangen ist

Alles in allem sind die praktischen Hürden für einen tatsächlichen Brexit so hoch, dass er kaum stattfinden wird. Dies wird zwar ökonomisch positiv sein, aber auch zur Konsequenz haben, dass sich die Spaltung in der britischen Gesellschaft vertieft.

Daher ist das Brexit-Referendum auf jeden Fall ein Debakel für die Demokratie – unter zweifelhaften Umständen ist eine Mehrheitsentscheidung für eine Politik zustandegekommen, die sich gar nicht umsetzen lässt. Egal, was jetzt passiert, eine Hälfte der britischen Bevölkerung fühlt sich als Verlierer. Gerade  diejenigen, die für den Brexit gestimmt haben, weil sie sich sowieso immer vom Establishment betrogen fühlen, werden bei seinem Scheitern wahrscheinlich erst recht sauer sein … und möglicherweise aggressiv reagieren.

Des weiteren wird durch das Pro-Brexit-Votum das Referendum als Inszenierung entlarvt, die schief gegangen ist. Indem David Cameron den Wählern als Alternative zur EU eine praktisch kaum durchführbare Variante anbot, glaubte er sich auf der sicheren Seite. Allerdings war die Mehrheit „so dumm“, nicht das vernünftige zu wählen, sondern das unbekannte. Im Ergebnis haben die britischen Politiker jetzt einen Wählerauftag für eine ökonomisch schwachsinnige und praktisch kaum umsetzbare Politik. Egal, wer das Land in Zukunft regiert, er wird auf jeden Fall grundlegende Entscheidungsprobleme haben. Dies wird das Land möglicherweise auf Jahre hinaus politisch lähmen.

Peter Juli 10, 2016 um 21:14 Uhr

Der Austritt der Briten aus der EU ist ein gewaltiger Schritt und gerade Mal 50 % naja ist fragwürdig – die Hürde war zu niedrig angesetzt worden. Sie haben Signale gesetzt – doch das Referendum ist nicht bindend – die Politiker sind am Zuge.

Felix Juni 27, 2016 um 20:36 Uhr

Der Hauptfehler liegt aus meiner Sicht in der fehlerhaften Ausgestaltung des Referendums. Ein Ausstieg aus einer Gemeinschaft wie der EU ist nun mal sehr aufwändig. Viele Briten sind in Gremien und Ausschüssen in Brüssel tätig. Büros sind besetzt, Korrespondenten vor Ort und Übersetzer etc. am Werk. Zudem müssen zahlreiche Verträge geändert werden. Volksbefragung gut und richtig, aber man hätte von Vornherein eine höhere Hürde (z.B 2/3 Mehrheit) setzen müssen. Wenn deutlich über die Hälfte der Menschen für einen Ausstieg ist, dann raus. Jetzt ist vielleicht gerade mal die Hälfte dr Bevölkerung. Das ist aus meiner Sicht zu dünn für so einen gewaltigen Schritt.

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