Eine Experten-Warnung Teil 2

by Karl-Heinz Thielmann on 12. Oktober 2017

Noch absurder als in der Ökonomie haben sich die Anforderungen an die Sell-Side-Analysten von Investmentbanken entwickelt, die Unternehmen oder Finanzmärkte analysieren und hieraus Anlageempfehlungen ableiten. Denn ihre Leistung wird oftmals danach bewertet, wie präzise sie neben Unternehmensgewinnen auch Kurse vorhersagen. So verspricht beispielsweise Thomson Reuters, dass mit der Methodik für die „Analyst Awards“ die Qualität von Analysten objektiv eingeschätzt werden kann: Unterschieden nach 14 Regionen der Welt wird die Performance von Sell-Side-Analysten nicht nur auf der Basis der Genauigkeit ihrer Gewinnschätzungen bewertet, sondern auch aufgrund der Performance ihrer Kauf/Verkauf-Empfehlungen relativ zu einer Branchen-Benchmark. Das Handelsblatt maß bei seinen bis 2016 verliehenen Analysten-Awards nur die Kursentwicklung: Der Analyst, der diejenigen Aktien empfiehlt, die hinterher am stärksten steigen, ist der beste – so lautete die dahinterstehende Logik.

Doch speziell Kurse an Wertpapiermärkten lassen sich noch viel weniger prognostizieren als grundlegende ökonomische Entwicklungen. Denn Finanzmärkte sind hochkomplex, verarbeiten neue Information sehr schnell (wenn auch nicht immer richtig) und reagieren oft auch hochemotional. Analysten wie Anleger bilden ihre Erwartungen in Abhängigkeit von Verhaltensannahmen für andere Finanzmarktteilnehmer; Herdenverhalten spielt eine große Rolle bei der Bewertung sowie der Entwicklung von Angebot und Nachfrage von Wertpapieren. Selbst wenn Analysten ein Unternehmen sehr gut kennen und völlig richtig bewerten, können sie i.d.R. markttechnische Faktoren schlecht einschätzen. Insofern ist es praktisch unmöglich, dass sie eine richtige Kursprognose abgeben.

Zudem kommt in den Kurszielen der Analysten oft nicht ihre wahre Meinung zum Ausdruck. Sie sind in ihren Voten durch die Geschäftspolitik ihres Arbeitgebers beeinflusst und wagen es in der Regel nicht, allzu kritisch zu sein. Auch fürchten viele beruflich negative Konsequenzen, wenn sie zu stark von der Konsensusmeinung am Markt abweichen: Denn wenn sie sich damit irren, stehen sie hinterher individuell besonders dumm da.

Insofern ist es nicht verwunderlich, wenn empirische Untersuchungen immer wieder zeigen, dass Analysten-Voten und insbesondere die damit zusammenhängenden Kursprognosen zumeist völlig falsch sind. Insbesondere in Situationen, wo der Analysten-Konsensus entweder sehr optimistisch oder sehr pessimistisch ist, eignen sie sich deshalb – wenn überhaupt – nur als Kontra-Indikator: So ermittelte eine Analyse von AJ Bell für den britischen Aktienmarkt in 2016, dass von den TOP-10 Kaufempfehlungen der Analysten zu Beginn des Jahres nur 3 besser als der Markt waren, 7 hingegen schlechter. Im Durchschnitt war die Performance +2,1% vs. 12,5% beim Gesamtmarkt. Noch krasser war aber das Ergebnis bei den 10 unpopulärsten Aktien: Sie legten durchschnittlich um satte 56,2% zu, nur 3 hatten tatsächlich eine negative Kursentwicklung.

Gerade bei den anfangs negativ eingeschätzten Titeln kam es im Jahresverlauf zu strukturellen Veränderungen (Übernahmen, Managementwechsel etc.), die ein Analyst vielleicht erahnen, aber nicht in eine Punkt-Kursprognose oder simple Kauf/Verkauf-Aussage hineinarbeiten konnte. Solche strukturellen Veränderungen sind bei Krisen-Unternehmen nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Insofern zeigt sich bei „Hopp oder Top“-Situation deutlich, wie unsinnig konkrete Kursprognosen sind.

Analysten aufgrund der Genauigkeit ihrer Kursprognosen zu bewerten, ist daher irreführend. Sonst könnte man auch Roulettespieler als „besonders treffsicher“ auszeichnen, die mehrfach hintereinander gewinnen. Allerdings hat sich bei Roulettegewinnen inzwischen herumgesprochen, dass sie aus einem Zufallsprozess resultieren.

Richtige Kursprognosen sind reine Zufallstreffer, die über die Fähigkeiten eines Analysten nicht das Geringste aussagen. Wenn etablierte Informationsanbieter wie Thomson Reuters oder Fachzeitungen wie das Handelsblatt auf einer solchen Basis Auszeichnungen vergeben, erscheint dies sehr fragwürdig. Zumindest das Handelsblatt hat im Jahr 2017 bisher darauf verzichtet, vielleicht hat man hier ja etwas gelernt.

In komplexen Situationen sollte man Prognostikern vertrauen, denen man instinktiv misstraut

Bei klar strukturierten Problemen mit eindeutigen Wirkungszusammenhängen und einer überschaubaren Anzahl von Lösungsmöglichkeiten – was vor allem für naturwissenschaftliche, künstlerische, handwerkliche und technische Fragen zutrifft – gibt es eigentlich kein Problem mit Experten: Sie sind i.d.R. kompetenter und finden schneller und sicherer eine richtige Lösung als ein Laie.

Bei gesellschaftlichen, ökologischen, ökonomischen und speziell den Finanzmarkt betreffenden Fragen haben wir es hingegen mit nicht linearen komplexen Problemen zu tun. Hierfür gibt es grundsätzlich zwei Arten von Experten: 1) diejenigen, die aufgrund ihres reduktiven Bias ein klares Bild der Zukunft vermitteln und dabei fast immer völlig falsch liegen; sowie 2) denjenigen, die sich versuchen, einer komplexen Realität anzunähern, indem sie verschiedene Zukunftsvarianten entwickeln und ihre Prognosen immer wieder revidieren.

Der erste Typus von Experten wird von Politik, Medien und Interessenverbänden bevorzugt. Dennoch ist es der Öffentlichkeit nicht verborgen geblieben, dass sie sowieso immer alles falsch prognostizieren, wie es Michael Gove formuliert hat. Viele Menschen haben inzwischen aus vielen spektakulär missglückten Prognosen gelernt, dass man Experten grundsätzlich nicht trauen sollte.

Dummerweise misstrauen wir aber auch dem anderen Typ von Prognostikern, und zwar instinktiv. Ein Grund hierfür liegt in einem Phänomen der Verhaltenspsychologie begründet, welches auch immer wieder Betrug begünstigt: Menschen glauben selbstsicher auftretenden Personen automatisch eher als unsicher wirkenden, völlig unabhängig von der Qualität ihrer Aussagen. Wer seine Prognosen vieldeutig und differenziert formuliert, wirkt aber leider automatisch unsicher. Sicher auftretende Scharlatane überzeugen hingegen auch ohne gute Argumente.

Ein weiterer Grund für das Misstrauen liegt in der Missachtung von unsicher wirkenden Experten durch die Medien. Dies führt dazu, dass in Rundfunk, Zeitungen und dem Fernsehen fast nur Experten auftreten, die klare, aber falsche bzw. zu oberflächliche Statements abgeben. Menschen vertrauen automatisch eher Personen, die sie oft wahrnehmen; und misstrauen genauso automatisch Unbekanntem. „Bekannt aus Funk und Fernsehen“ ist vielfach ein Gütesigel, das nicht nur für Schlagerstars gilt, sondern leider auch für Experten. Ähnlich wie Konsumenten meist zumeist einer durch Werbung bekannten Marke vertrauen und sie kaufen, anstatt etwas Unbekanntes auszuprobieren, stehen sie Experten gegenüber: Denjenigen mit hoher Medienpräsenz wird eher vertraut als unbekannten. Selbst wer gegenüber Experten generell skeptisch ist, traut im Zweifelsfall denjenigen mit hoher öffentlicher Wahrnehmung instinktiv immer noch eher als unvertrauten.

Sichere Erwartungen an eine unsichere Zukunft leiten ganz sicher in die Irre

Prognosen sagen uns mehr über den Prognostiker als über die Zukunft schrieb Warren Buffett vor genau 40 Jahren in seinem berühmten Essay “How inflation swindles the equity investor“. Hieran hat sich bis heute nichts geändert. Je genauer uns ein Prognostiker die Zukunft vorhersagt, umso weniger ist er als Experte ernst zu nehmen und desto wahrscheinlicher liegt er komplett daneben.

Dennoch sind Prognosen nicht sinnlos, speziell für Kapitalanleger: Denn wir müssen uns auf Chancen und Risiken der Zukunft einstellen, und hierzu benötigen wir Wirtschaftsvorhersagen als Orientierungsmarken. Allerdings muss beachtet werden, dass jede Prognose nur eine von unendlich vielen möglichen zukünftigen Weltzuständen beschreibt. Daher wäre es für einen seriösen Experten eigentlich Pflicht, bei Prognosen immer verschiedene Varianten anzugeben, die Annahmen klar darzulegen und sie im Zeitverlauf immer wieder Revisionen zu unterziehen. Gerade Kapitalmarkexperten vermeiden dies aber, weil Kunden die mangelnde Präzision als unsicher und daher wenig vertrauenswürdig empfinden könnten.

Stattdessen hat sich am Kapitalmarkt eine besondere Spezies von Pseudoexperten entwickelt: der Investment-Guru. Hierbei handelt es sich fast immer um einen medienwirksamen älteren Herren (eine Ausnahme war Elaine Gazzarelli, die Crash-Prophetin von 1987), der zu extremen Aussagen neigt – und damit in der Vergangenheit auch gelegentlich sogar schon mal recht gehabt hat. Allerdings beruht dieses „Recht bekommen“ i.d.R. auf Zufall, was den jeweiligen Guru aber nicht daran hindert, aus jedem Zufallstreffer überlegene Prognosequalitäten für immer und ewig abzuleiten. Ihre Selbstinszenierung schließt zumeist die Herausstellung ganz besonderer und einmaliger persönlicher Fähigkeiten ein. Abgesehen vom seriösen Anzug, der normalerweise getragen wird, erinnert dies Gehabe stark an Magier oder Priester dubioser Kulte. Im Ergebnis produzieren die Gurus auf die Dauer aber nur Enttäuschungen und tragen dazu bei, dass Experten noch weiter in Verruf geraten.

Gurus – wie auch die „einhändigen Ökonomen“ – warnen auch gerne vor konkreten Krisen oder Katastrophen, die unmittelbar bevorstehen. Wenn seriöse Experten vor künftigen Gefahren warnen, so vermeiden sie allerdings i.d.R. Festlegungen auf katastrophale Zukunftsszenarien. Raghuram Rajan warnte 2005 nicht vor der Finanzkrise, weil er eine solche nicht konkret vorhersehen konnte. Er versuchte aber, die Risikofaktoren im Finanzsystem zu identifizieren und zu zeigen, dass es nicht mehr so weitergehen konnte wie bisher. Dies ist entscheidend für eine ernst zu nehmende Experten-Warnung: nicht die Vorhersage einer Katastrophe, sondern das „es kommt drauf an“ zu zeigen: das Herausfinden und die Analyse von Gefahrenquellen.

Die notwendige Ungenauigkeit und Variabilität von seriösen Prognosen geht gegen unseren Instinkt. Unser Anforderungsprofil ist traditionell daraufhin programmiert, dass wir automatisch lieber selbstsicher auftretenden Experten mit klarem Weltbild und eindeutigen Vorhersagen vertrauen. Sie scheinen uns die Unsicherheit über die Zukunft zu nehmen, genau wie früher die Priester, die mit „Gottes Wille“ oder „Schicksal“ alles zu erklären versuchten.

Sichere Erwartungen an eine unsichere Zukunft leiten uns ganz sicher in die Irre. Vertrauen wir lieber den unsicher wirkenden Experten, die sich zögerlich in die Zukunft vorantasten, und auch mal zurückgehen, wenn der falsche Weg eingeschlagen wurde. Mit ihnen hat man zumindest die Chance, dass man langfristig ungefähr auf dem richtigen Pfad bleibt. Und hiermit hätte man schon sehr viel erreicht.

 

Dieser Text erschien in leicht abgewandelter Form ebenfalls in „Mit ruhiger Hand“ Nummer 54 vom 9. Oktober 2017.

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