Chains of Finance – ein genauer Blick auf die finanzielle Wertschöpfungskette

by Gastbeitrag on 18. Januar 2018

Gastbeitrag von Ekaterina Svetlova*

Wir treten gerade in „das Zeitalter des Asset Managements“ ein, behauptete Andrew Haldane, damaliger Direktor für Finanzstabilität (und heute Chefökonom) der Bank of England, in einer Rede im April 2014. Zu diesem Zeitpunkt kontrollierten Asset Management-Unternehmen bereits 40% aller Finanzwerte. Die damals ca. 100 Billionen Dollar an verwaltetem Vermögen entsprachen einem Gegenwert von rund einem Jahr des globalen Sozialprodukts. Angesichts dieser Dimensionen ist es erstaunlich, dass ihre Arbeitsweise bisher nur selten zum Gegenstand ausdrücklicher wissenschaftlicher Untersuchungen und öffentlicher Diskussionen wurde. Die Aufmerksamkeit von Wissenschaftlern und der Medien konzentrierte sich bis jetzt eher auf Banken oder verschiedene Arten von Händlern und Spekulanten als auf die Investment-Management-Branche als solche – trotz der großen Auswirkungen der Letzteren auf die Wirtschaft und die Gesellschaft.

Das Buch „Chains of Finance – How Investment Management is Shaped (2017, Oxford University Press) fasst die Ergebnisse eines Forschungsprojektes zusammen, das genau darauf abzielte, diese Lücke zu schließen. Das Buch strebt einerseits an, das ganzheitliche Bild der Investmentindustrie zu präsentieren. Andererseits soll ihr Innenleben detailliert untersucht werden.

Ausgangspunkt der Forschungsarbeit war der Kay-Bericht von 2012. Hierbei handelte es sich um eine Untersuchung des englischen Ökonomen John Kay für das britische Wirtschaftsministerium über die Ursachen der Finanzkrise. Kay sollte die Funktionsweise des Aktienmarktes analysieren und kam zu dem Ergebnis, dass sie grundlegend gestört ist. Als Hauptursache identifizierte er kurzfristiges Denken bei Investoren und Unternehmern. Er führte dies auf einen Vertrauensverlust in der Finanzbranche sowie falsche Leistungsanreize zurück. Kay entwickelte den Begriff der „Investmentketten“ („Chains of Finance“) und argumentierte, dass man Zusammenhänge und Prozesse in der Wertschöpfungskette analysieren muss, wenn man die Probleme der Aktienmärkte verstehen möchte.

Allerdings fokussierte sich Kay vorwiegend auf die Anreize innerhalb der Kette, während das Buch tiefer geht und die weiteren sozialen und kulturellen Aspekte der Finanzintermediäre und ihrer Verbindungen zueinander sowie zu Kunden unter die Lupe nimmt. Das Buch verabschiedet sich von der in der Wissenschaft bisher üblichen Vorgehensweise, nur einzelne professionelle Gruppen zu untersuchen (wie Fondsmanager, Wertpapieranalysten und Anlageberater) und verlegt den Fokus auf die Beziehungen zwischen den Intermediären.

Um Finanzmärkte zu verstehen, muss man Beziehungen zwischen einzelnen Akteuren analysieren

Die Kernbotschaft des Buches ist einfach: Die Investmentbranche heute hat nur noch wenig mit einzelnen Anlegern zu tun, die sich entscheiden, welche Aktien oder Anleihen sie direkt auf dem Markt kaufen. Vielmehr fließt der größte Teil ihrer Gelder durch die Kette institutioneller Vermittler, die die Sparer mit den Unternehmen und Regierungen verbindet, die die Finanzinstrumente emittieren. Ein Verständnis der Finanzmärkte ist nicht möglich, wenn man die Beziehungen der einzelnen Teilnehmer untereinander nicht genau kennt.

Beispielsweise werden Investmententscheidungen häufig von Finanzberatern und Vermögensverwaltern gesteuert. Außerdem können Anleger bei der Auswahl von Investmentfonds durch spezialisierte Unternehmen wie Morningstar und Standard & Poor’s beeinflusst werden, die Fondsratings veröffentlichen. Darüber hinaus besteht ein Großteil der Anlagegelder aus Beiträgen zu betrieblichen Pensionsfonds, Stiftungen und anderen institutionellen Sondervermögen.

Diese Fonds haben in der Regel treuhänderische Verwalter, die zwar für die Anlage des Vermögens verantwortlich sind, diese Tätigkeit im Allgemeinen weiter an Portfoliomanager delegieren. Die Entscheidungen der Treuhänder, welche Investment-Management-Firmen sie mit der Geldverwaltung beauftragen, werden oft von Investment Consultants unterstützt und gesteuert. Außerdem müssen Fondsmanager entscheiden, wo sie ihre Aufträge zum Kauf oder Verkauf von Aktien oder Anleihen ausführen. Diese Entscheidungen werden stark von den Beziehungen der Fondsmanager zu Brokern oder Händlern beeinflusst.

Die Investmentkette folgt sozialen Beziehungen

Der Vorgehensweise der „Social Studies of Finance“ folgend betrachtet das Buch die Investmentkette als eine Reihe von sozialen Beziehungen, welche Handlungen von Einzelnen sowohl einschränken als auch ermöglichen. Es zeigt sich zum Beispiel, dass die Entscheidungen sowie Erfolge und Misserfolge von Fondsmanagern nicht richtig verstanden werden können, indem man lediglich ihre Prognosefähigkeit bzw. Überzeugungen über bestimmte Wertpapiere oder Märkte analysiert. Die Handlungen der Portfoliomanager werden von Kunden, Brokern, Anlageberatern, Wertpapieranalysten und sogar Gewerkschaften und Politikern entscheidend mitgestaltet.

Die im Buch vorgestellten Argumente und Fallstudien basieren auf ethnografischen und autoethnografischen Arbeiten in der Investmentindustrie an mehreren wichtigen Standorten (Paris, Zürich, Frankfurt, Edinburgh, New York und London). 451 Tiefeninterviews mit Mitarbeitern der Assetmanagement-Industrie wurden durchgeführt. Die ethnografische Feldforschung ermöglicht eine gründliche Analyse aus einer sozialwissenschaftlichen Perspektive und liefert Erkenntnisse, die mit einer rein theoretischen Arbeit nicht gewonnen werden könnten.

Beispiel Principal-Agent-Beziehung: Die Praxis ist komplizierter als die bisherige Theorie

Zum Beispiel hinterfragt das Buch das theoretische Konzept der Principal-Agent-Beziehung: Investoren werden als Auftraggeber (Principal) gesehen, die Fondsmanager (Agenten) als Experten beauftragen, ihr Geld zu verwalten. Dies führt zu verschiedenen Interessenkonflikten: Fondsmanager arbeiten vielleicht nicht hart genug, um die Ziele der Anleger zu erreichen; sie können „Frontrunning“ machen (z. B. Aktien vorkaufen, bevor die gleiche Transaktion im Fonds durchgeführt wird), oder sie könnten sich nicht ausreichend bemühen, die Kosten der Anlage zu minimieren. Einige Portfoliomanager verlangen hohe Gebühren als Entlohnung für aktive und scheinbar anspruchsvolle Anlageprozesse, obwohl sie gleichzeitig kaum vom Index abweichen („closet benchmarking“).

Daher erwartet die Principal-Agent-Theorie, dass sich Anleger vor allem auf die Kontrolle der Leistungen von Fondsmanagern konzentrieren: Die Performance wird in kurzen und langen Zeitabständen gemessen, um die Manager mit schlechten Resultaten zu identifizieren und zu bestrafen (d. h. ihnen das Mandat entzogen).

Das Buch zeigt, dass diese Darstellung der Beziehungen zwischen Portfoliomanagern und ihren Kunden eine starke analytische Vereinfachung impliziert. Was man eher zwischen Kunden und Fondsmanagern beobachtet ist kein primitives Principal-Agent-Problem, sondern ein facettenreiches und kontextabhängiges Verhältnis. Das Buch zeigt, dass die Beziehungen zwischen Fondsmanagern und Kunden oft durch Gegenseitigkeit, Vertrauen, Loyalität und sogar Freundschaftlichkeit gekennzeichnet sind, weniger durch Kontrolle und Bestrafung. Die „Menschlichkeit“ dieser Beziehungen führt dazu, dass sowohl private als auch institutionelle Kunden oft erstaunlich loyal zu ihren Geldverwaltern sind, sogar in den Zeiten schlechter Performance.

Gute persönliche Beziehungen sind oft wichtiger als niedrige Kosten

Ähnliche Phänomene werden beobachtet, wenn man sich entlang der Kette in die Richtung der „sell-side“ bewegt. Fondsmanager müssen entscheiden, wer, wo und wie ihre Kauf- und Verkaufsorder ausführt. Das Buch zeigt, dass diese Entscheidungen stark von den persönlichen Beziehungen der Fondsmanager zu Brokern oder Händlern beeinflusst werden. Bis jetzt haben Kompensationen in diesen Beziehungen oftmals die Form von so genannten „Soft Dollar Arrangements“ angenommen: Broker bekamen die Kauf- und Verkaufsaufträge zum Ausführen und „zahlten“ dafür mit kostenlosem Research der Finanzanalysten, aber auch mit Theatertickets, Wein, Büchern und Reisen. Aus diesen „Soft Dollar Arrangements“ entstanden manchmal lebenslange Freundschaften, die die Entscheidungen über die Orderausführungen viel stärker beeinflussten als rationale Überlegungen. Aktuell versucht die EU mit ihrer Finanzmarktdirektive Mifid II, Soft Dollar Arrangements zu unterbinden, damit Leistungen und Gegenleistungen transparent und eindeutig zuordenbar werden. Inwieweit sie damit im Endeffekt mehr Schaden anrichtet, weil sie für ein Marktfunktionieren wichtige soziale Beziehungen zerstört, ist im Moment dahingestellt.

Wie wichtig diese Beziehungen sind, zeigt das Beispiel der „Dark Pools“ der ersten Generation: Diese neuen anonymen, computerisierten Handelsplattformen boten an, billig zu handeln („to trade for a cent per share“). Sie hatten aber am Anfang große Schwierigkeiten, sich zu behaupten: Viele Fondsmanager waren bereit, schlechtere und teurere Ausführungen von Aufträgen in Kauf zu nehmen, weil sie auf die „Soft Dollar Arrangements“ und menschlichen Umgang (assoziiert mit Vertrauen) nicht verzichten wollten. Das bestätigt noch einmal eindeutig, dass die wichtigsten Entscheidungen in der Investmentbranche nicht nur durch materielle Überlegungen, sondern auch durch soziale Beziehungen beeinflusst werden. „Chains of Finance“ untersucht, wie die Intermediäre der Investmentkette wechselseitig die Praktiken der jeweils anderen Marktteilnehmer prägen.

Der Zwang zur Inszenierung: Kontrolleure in der Investmentkette bedingen „Theaterspiel“

Ein weiterer neuer Aspekt des Buches ist, dass die Konsequenzen gezeigt werden, die sich ergeben, wenn einige Intermediäre in der Kette als kritische Beobachter von anderen, mit denen sie verbunden sind, agieren. Treuhänder und Investment-Consultants, die zum Beispiel Fondsmanager kritisch beobachten und ihre Performance ständig messen, zwingen die Fondsmanager dazu, sich ständig als kompetent und erfolgreich zu präsentieren. Dieser Aspekt der Inszenierung ist zentral für unser Verständnis des Funktionierens der Investmentkette. Die Marktteilnehmer erfüllen nicht nur ihre unmittelbaren (Gewinn maximierenden) Aufgaben, sondern „spielen auch Theater“.

In „Chains of Finance“ wird gezeigt, zum Beispiel, wie die Assetmanagement-Abteilung einer Frankfurter Bank ein neues „Quant“-Team etabliert hat. Mit dieser Entscheidung reagierte die Bank auf die externen Erwartungen von Kunden, Investment-Consultants und Konkurrenten. Die Manager der Abteilung wollten zeigen, dass sie einen neuen quantitativen, „rigorosen“, „wissenschaftlichen“ Ansatz neben ihrer bestehenden „fundamentalen“ Methode einführen. Mit anderen Worten, die Einrichtung des quantitativen Teams wurde durch Marketing vorangetrieben, weil es helfen konnte, die Arbeit der Fondsmanager als rigoros und wissenschaftlich zu präsentieren. Kunden und Investment-Consultants möchten von strengen und konsequenten Investmentprozessen hören. Der Absatz-Erfolg der Portfoliomanager hängt weniger von tatsächlichen Anlageergebnissen ab, als davon, wie es ihnen gelingt, diese Strenge, Wissenschaftlichkeit und Rigorosität zu inszenieren. Zum Teil geht es bei dem Erfolg eines Asset Managers tatsächlich um seine Fähigkeit zur theatralischen Inszenierung.

Entgegenwirkende Zwänge in der Investmentkette können zur Blockade führen

Das Buch beschreibt, dass die Investmentkette Entscheidungen und Geldfluss nicht nur ermöglicht, sondern auch beschränkt. Beispielsweise zeigt eine Fallstudie die Bemühungen verschiedener Akteure, die amerikanische Tochtergesellschaft eines französischen Automobilherstellers dazu zu drängen, die Gewerkschaften in ihren Werken anzuerkennen und die Arbeitsbedingungen dort zu verbessern.

Bei verschiedenen Treffen kamen Fondsmanager, Pensionsfonds-Treuhänder, Vertreter verschiedener französischer Gewerkschaften, französischer Politiker und US-amerikanischer Arbeitnehmer zusammen. Sie versuchten einen Weg zu finden, die Beteiligung an der Autofirma zu nutzen, um notwendige Veränderungen herbeizuführen. Was folgte war jedoch vor allem eine Demonstration der Zwänge, welche die Investmentkette ihren Bestandteilen auferlegt. Fondsmanager wollten nur auf Anweisung ihrer Kunden handeln. Pensionskassentreuhänder wollten nichts tun, was ihren gesetzlichen Pflichten widersprechen könnte. Die Politiker waren unsicher, ob sie Druck auf eine amerikanische Tochtergesellschaft ausüben durften. Die Gewerkschaften konzentrierten sich darauf, das beste Angebot für französische Arbeiter zu bekommen. Mit anderen Worten haben sich die Intermediäre in der Kette gegenseitig blockiert, sodass letztendlich eine wichtige Entscheidung mit nachhaltigen gesellschaftlichen Folgen nicht herbeigeführt werden konnte.

Das Verständnis der Investmentkette ist zentral für eine Erklärung der Finanzmärkte

Die Analyse der Investmentkette in „Chains of Finance“ kommt zu einer Zeit, in der eine Sichtweise der Finanzmärkte als Netzwerke an Einfluss gewinnt. Sie wird nicht als eine konkurrierende Theorie zu bisherigen Ansätzen betrachtet, soll aber bei einem genaueren Verständnis vieler Phänomene helfen. Die Kette ist eine Art, über Finanzmärkte nachzudenken, die dazu beiträgt, den Charakter verschiedener Interaktionen und Gründe für ihre Erfolge und Misserfolge deutlicher zu machen.

Das Konzept der Investmentkette ermöglicht einen komplementären Ansatz für die Frage, wo sich Macht, Einfluss und Risiken innerhalb der Finanzwelt „verstecken“. Wenn eine schlecht funktionierende Investitionskette unbefriedigende Anlageergebnisse begünstigt sowie zu weniger Wachstum, Diskriminierung und Umweltproblemen beiträgt, sollte ihre bestmögliche Funktionsweise zu einer dringenden akademischen und politischen Frage werden. Das Buch „Chains of Finance“ möchte sowohl einen Beitrag hierzu leisten als auch weitere Forschungen anregen.

Dieser Text erschien in leicht abgewandelter Form ebenfalls in „Mit ruhiger Hand“ Nummer 55 vom 15. Januar 2018.

Comments on this entry are closed.

Previous post:

Next post: