Die ungeliebte Gegenwart des Kapitalismus

by Karl-Heinz Thielmann on 22. Januar 2018

Der Kapitalismus ist äußerst unbeliebt.

Leistungsdruck, Umweltzerstörung und Ungerechtigkeiten machen uns zuschaffen. Regelmäßige Krisen vernichten immer wieder sicher geglaubte Arbeitsplätze und enormen Wohlstand. Von vielen Produkten wie Nahrungsmitteln oder Textilien wird weit mehr hergestellt als konsumiert – und damit ressourcenverschwenderisch direkt für die Mülltonne produziert.

Überall sind wir mit Werbung konfrontiert, die uns entweder aufdringlich mit absurden Versprechungen eines Konsumparadieses bedrängt, oder versucht, unser Unterbewusstsein zu manipulieren. Die kreative Zerstörung durch technologische Innovationen und globalisierten Wettbewerb stellt selbst erfolgreiche Businessmodelle immer schneller radikal infrage. Zukunftsängste über einen drohenden Niedergang verbunden mit allgemeinem Wohlstandsverlust sind weitverbreitet.

Edel sei der Mensch. Hilfreich und gut!“ forderte Johann Wolfgang von Goethe als Leitlinie für menschliches Handeln – ein Ideal, dem der egoistische Kapitalismus fundamental zu widersprechen scheint. Zum regelmäßigen Ritual ist es deswegen geworden, dass Kirchenvertreter und andere moralische Autoritäten das mit dem Kapitalismus verbundene Gewinnstreben geißeln und zur Umkehr zu mehr Gemeinsinn aufrufen.

Auch bei anderen Weltreligionen ist der Kapitalismus eher unbeliebt, wird aber weniger offen kritisiert, zumal die traditionell kapitalistischen Länder vor allem christlich geprägt sind. Die Kritik bleibt zumeist unwidersprochen, denn das kapitalistische Establishment verteidigt sich nicht öffentlich. Die meisten Vertreter verkriechen sich im Stillen; sofern es zu Stellungnahmen kommt, stimmen die Kapitalisten eher zerknirscht in den Chor ihrer Kritiker mit ein. Jüngstes Beispiel ist Ex-Dresdner Banker und Finanzinvestor Leonard Fischer, der in seinem Buch „Es waren einmal Banker“ die Auswüchse des globalen Finanzmarktkapitalismus anprangert.

Kapitalismus: die verdrängte Erfolgsgeschichte

Die Kritiker des globalen Kapitalismus regen sich gerne über einzelne Missstände auf, verdrängen aber, dass er – zumindest langfristig betrachtet – im Gesamtergebnis trotz aller negativen Seiten eine einmalige Erfolgsgeschichte darstellt. Denn das kapitalistische Gewinnstreben war zumeist mit einem Drang nach immer höherer Effizienz verbunden. Die hieraus resultierenden Produktivitätsgewinne haben zu einer dramatischen Wohlstandsvermehrung geführt … und nicht nur bei Eliten, sondern insbesondere bei den vorher Unterprivilegierten.

In vorkapitalistischen Zeiten – z. B. 1800 – lebten ca. 1 Mrd. Menschen auf der Erde. Das durchschnittliche Pro-Kopf-BIP lag unter 1000 € in heutiger Kaufkraft; die durchschnittliche Lebenserwartung betrug ca. 30-40 Jahre. Mehr als 90% der Menschen hatten einen Lebensstandard nahe dem Existenzminimum. Nur eine Minderheit konnte rechnen, lesen und schreiben.

Heute leben fast 7,5 Mrd. Menschen auf der Erde, das Pro-Kopf-BIP liegt bei ca. 12.000 €, die durchschnittliche Lebenserwartung ist 70 Jahre. Die ca. 1 Mrd. Menschen in entwickelten Industrieländern (OECD) haben sogar ein mehr als doppelt so hohes Sozialprodukt und eine Lebenserwartung von um 80 Jahren. Besonders vorangekommen ist insbesondere die Bekämpfung der Armut in der Phase beschleunigter Globalisierung in den vergangenen 35 Jahren. Nach 90% um 1800 lebten 1980 noch 44% der Weltbevölkerung in extremer Armut. Heute sind es weniger als 10%.

Abb. 1: Rückgang der Armut in kapitalistischen Zeiten (nach unterschiedlichen Berechnungsweisen)

Der Sozialismus als Alternative zum Kapitalismus ist in der Praxis kläglich gescheitert. Die Sowjetunion und China hatten angesichts ihres immer größer werdenden Entwicklungsrückstandes vor 30 Jahren einen Transformationsprozess hin zu einer kapitalistischen Wirtschaftsordnung ausgelöst, der nach wir vor anhält. Aktuell beweist der Sozialismus in Ländern wie Nordkorea oder Venezuela immer noch seine praktische Untauglichkeit. Alle Mängel des Kapitalismus waren und sind im Vergleich zu den durch zentralisierte Wirtschaftslenkung verursachten Desastern vernachlässigbar.

Auch die Suche nach einem „dritten Weg“ zwischen Kapitalismus und Sozialismus verlief bisher weitgehend erfolglos. Konzepte wie die deutsche „Soziale Marktwirtschaft“ oder der skandinavische Wohlfahrtsstaat sind in ihrem Kern kapitalistisch geblieben, wenn auch mit ihnen der Versuch unternommen wurde, durch Umverteilungsmechanismen Ungerechtigkeiten abzumildern.

Der Kapitalismus bleibt als Wirtschaftssystem alternativlos. Aber seine Spielregeln werden sich stark ändern. Das bereits erreichte Wohlstandsniveau und der demografische Wandel machen eine Veränderung des Leistungsangebots notwendig. Globalisierung und Technologiewandel haben in den vergangenen Jahrzehnten eine Dynamik erreicht, die bisher beispiellos ist, und damit die Gewinner sowie Verlierer des Kapitalismus kräftig durcheinandergewirbelt.

Insofern lohnt es sich, einen Blick auf die absehbare Zukunft des Kapitalismus zu werfen. Zu diesem Zweck werden in den kommenden Tagen einige Beiträge erscheinen, in denen die grundlegenden Tendenzen analysiert werden. Begonnen wird mit dem Beitrag „Die Zukunft des Kapitalismus – Teil 1: Immaterielle Güter werden immer wichtiger“ in 2 Tagen.

 

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