Was die Finanzmärkte von der Physik lernen können (Teil 1)

by Dirk Elsner on 13. Dezember 2008

Advanced Theoretical Physics

Formeln fortgeschrittener theoretischer Physik: Können sie die Finanzmärkte erklären?

Die klassische Finanzmarkttheorie erlebt in diesen Wochen ein Waterloo, das das ganze Theoriegebäude zum Einsturz bringt. Die Häufung der weltweiten Krisen in den Finanzmärkten gibt Wirtschaftswissenschaftlern Rätsel auf. Laut ihren Modellen sollten ausserordentliche Ereignisse wie der Absturz der Börse 1987, das Platzen der Dotcom-Blase von 2000, der scharfe Anstieg des Ölpreises im vergangenen Sommer oder der jetzige Crash viel seltener auftreten, als es tatsächlich der Fall ist.

Viele Menschen brauchen Formeln, Muster und Systeme, um unserer Umwelt das Maß an Konstanz abzugewinnen, welches für ein geordnetes Dasein notwendig erscheint. Der Finanzmarkt verhält sich dabei offensichtlich schwieriger als das Universum. Während einigermaßen verlässliche Naturgesetze den Kosmos en Gros steuern, zeichnet sich der globale Finanzmarkt durch eine extrem dynamische und daher undurchsichtige Komplexität aus.

Das Versagen der traditionellen Erklärungsansätze hat Wissenschafter aus anderen Fachgebieten dazu ermutigt, sich der Wirtschaft zuzuwenden. Viel ist in den letzten Wochen von den psychologischen und neurologischen Einflüssen zu lesen. Aber auch die Physik befasst sich mit den Finanzmärkten, wie man in mehreren Beiträge (siehe Literaturhinweis) nachlesen kann. In zwei Teilen versuche ich einige Erkenntnisse dieses Fachgebiets für die Finanzwirtschaft zu konsolidieren. Der zweite Teil folgt morgen.

Mangelhafte Risikomodelle der Wirtschaftswissenschaft

Es geht darum, die systemischen Risiken besser zu erfassen. Die Risikoabschätzung der Banken schon beim einzelnen Finanzprodukt erscheint nicht so stringent, wie man es in naturwissenschaftlichen Systemen gewohnt ist, wo jede Hypothese und jede Theorie sehr streng empirisch nachgeprüft werden. In der Finanzwelt sind dagegen viele Axiome aus vergangenen Jahrzehnten noch gang und gäbe, die nie so streng an der Empirie geprüft wurden, wie es notwendig gewesen wäre. Das Optionspreismodell von Black und Scholes aus dem Jahr 1973 wird immer noch breit angewandt, obwohl es auf falschen Annahmen über die Häufigkeit von großen Preisänderungen beruht. Naturwissenschaftler hätten ein solches Modell längst über Bord geworfen.

Das systemische Risiko in der Finanzwelt wird viel zu wenig erfasst. Wie können sich Unsicherheiten und falsche Risikobewertungen zu einer Lawine im Gesamtsystem aufbauen? Diese Frage ist theoretisch noch weit weniger untersucht als die Risiken eines einzelnen Derivats.

Symbiose zwischen Physik und Finanztheorie hat schon 1900 begonnen

Begonnen hatte die Symbiose zwischen Physik und Finanztheorie im Jahre 1900, als der französische Mathematiker Louis Bachelier in Paris eine Doktorarbeit präsentierte, in der er Börsenbewegungen mit eigens dafür entwickelten mathematischen Mitteln untersuchte – notabene fünf Jahre bevor Albert Einstein unabhängig von ihm dieselben Mittel neu erfand, um eine erratische Bewegung von winzigen Schwebeteilchen in einer ruhenden Flüssigkeit, die sogenannte Brownsche Bewegung, vorherzusagen.

Man kann die Finanzwelt sicherlich nicht so im Detail beschreiben wie ein physikalisches Modell. Aber es gibt Prinzipien und Phänomene, die man in realen sozioökonomischen Systemen beobachten kann, etwa den Herdentrieb oder Lawineneffekte, die aus physikalischen Systemen bekannt sind. Die Physik kann daher durchaus Abschätzungen finden für verschiedene Verhaltensweisen auch in komplexen Finanzsystemen.

Börsenturbulenzen sind turbulente Strömungen

Hinter dem geläufigen Ausdruck „Turbulenzen an der Börse” steht eine ungeahnte Ähnlichkeit zwischen dem Auf und Ab des Finanzmarktgeschehens und der Unordnung in einer turbulenten Strömung. Die Forschung der letzten Jahre konnte zeigen, dass die Komplexität beider Systeme auf kaskadenartigen Prozessen beruht. Die Kaskadenprozesse, die die Energie in der Turbulenz von großen auf kleine Wirbel übertragen, scheinen auch für die typischen Phänomene der Kurzzeitschwankungen am Finanzmarkt grundlegende Bedeutung zu haben.

Ein zentrales Problem in der statistischen Beschreibung beider Systeme ist das Auftreten anomaler Statistiken. Diese anomalen Statistiken umfassen für die Strömungsturbulenz die unerwartet große Häufigkeit von kleinen sehr energiereichen Wirbeln und für die Finanzmärkte die unerwartet große Häufigkeit von extremen Kursschwankungen. Das tiefere Verständnis dieser Statistiken ist zum Beispiel für die Risikomodellierung von Windböen oder von Börsencrashs bzw. Börsenhaussen wichtig.

In den Naturwissenschaften gilt die Turbulenz, wie sie sich bei der Strömung von Gasen und Flüssigkeiten ergibt, als ein großes ungelöstes Problem. Im Gegensatz zu vielen anderen wissenschaftlichen Herausforderungen begegnen uns die Phänomene der Turbulenz alltäglich, so zum Beispiel beim Kochen von Wasser oder beim Wetter. Das wissenschaftliche Problem im Verständnis der Turbulenz lässt sich wie folgt beschreiben: Zum einen kennen wir seit mehr als 150 Jahren die Grundgleichungen (die so genannten

Physik betrachtet Marktteilnehmer als Agenten

Physiker analysieren nicht die einzelnen Akteure und ihre Aktivitäten. Sie betrachten die Marktteilnehmer vielmehr als «Agenten», die wie die Teilchen eines Gases interagieren und so ein bestimmtes Marktverhalten hervorbringen. Die Analyse geschieht mit den Methoden der statistischen Mechanik, die ursprünglich entwickelt worden war, um makroskopische Eigenschaften von Gasen wie Druck oder Temperatur auf das mikroskopische Verhalten der Atome und Moleküle zurückzuführen.

Magnetomodelle helfen bei der Modellierung

Beim Wetter funktioniert die Modellierung nur unzulänglich, weil die Klimazusammenhänge so hoch komplex sind, dass langfristige Vorhersagen nie möglich sein werden. Den Brückenschlag zur Finanzwelt kann man aber zum Beispiel mit Magnetmodellen machen. Einzelne Teilchen ziehen sich gegenseitig an. Sie stehen für die Händler, die jeweils das machen, was andere Marktteilnehmer auch tun, bis eine neue Information auf den Markt kommt. Daraus lassen sich am Computer statistische Zeitreihen erstellen, die sich ganz ähnlich verhalten wie Zeitreihen von Aktienindizes. Diese Modelle liefern etwas, was klassische Gleichgewichtsmodelle nicht liefern können. Sie können zum Beispiel den Herdentrieb in einer Simulation abbilden. Und wenn man solche statistischen Eigenschaften von Gesamtsystemen versteht, dann kann man auch die Preismodelle und die Risikoabschätzung für einzelne Finanzprodukte verbessern.

Ablösung der Normalverteilung …

Physiker suchen Verteilungen, die besser zur Beschreibung von Börsendaten geeignet sind als die in der Finanztheorie dominierende Normalverteilung. Dabei stiessen sie auf Skalengesetze und Potenzverteilungen, die Benoît Mandelbrot, der Begründer der Chaostheorie, verwendet hatte, um die Länge von Küstenlinien, die Oberfläche von Blumenkohl und eben auch Preisänderungen an Rohstoffmärkten zu beschreiben. Ökonophysiker wiesen darauf hin, dass viele Naturerscheinungen diesen Verteilungen folgen. Zum Beispiel fand Didier Sornette, der heute an der ETH Zürich forscht, heraus, dass die Statistik von plötzlichen Ausschlägen an den Finanzmärkten Ähnlichkeiten mit jener von Erdbeben und epileptischen Anfällen aufweist. Und der Däne Per Bak stellte Zusammenhänge zwischen Börsencrashs, dem Abgang von Sandlawinen und dem Auftreten von Verkehrsstaus her.

… durch Potenzverteilungen

Nachdem festgestellt worden war, dass Potenzverteilungen die Börsenbewegungen gut beschreiben, musste ihre Verwendung theoretisch gerechtfertigt werden. Denn wie Stanley zugibt, machen statistische Beobachtungen bloss Angaben über die relative Häufigkeit extremer Erscheinungen, sagen aber nichts über die Gründe für deren Auftreten aus. Um also zu verstehen, wieso Börsenbewegungen und verschiedene Naturerscheinungen ähnliche Charakteristiken aufweisen, muss man herausfinden, was der Grund für das weitverbreitete Auftreten von Potenzverteilungen ist.

Hier geht es zu (Teil 2)

Literatur

FAZ: Ein Physikprofessor zur Finanzkrise „Märkte sind grundsätzlich wild

NZZ: Herdentrieb und Panik statt Angebot und Nachfrage

Uni Oldenburg: Turbulenzen und Finanzmarkt

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