Heute die Fortsetzung zum gestern erschienenen ersten Teil über die Hilfestellungen der Physik für die Finanzmärkte. Die Inhalte sind aus mehreren Beiträgen (siehe Literaturhinweis) konsolidiert.
Berücksichtigung von Rückkopplungen
Die physikalischen Phänomene und die Vorgänge an der Börse haben vor allem eines gemeinsam: Unzählige Elemente sind in Netzwerken miteinander verkoppelt. Und Phänomene mit vielfachen Interaktionen ließen sich fast immer gut mit Potenzverteilungen beschreiben. Dies könnten in der Seismik etwa kleine Risse sein, in denen sich Energie aufbaut und sich in Kaskaden bis zum Ausbruch eines Erdbebens fortpflanzt, meint Sornette, der früher in Kalifornien in der Erdbebenforschung aktiv war. Bei Epilepsie sei es das Zusammenspiel von miteinander über Synapsen verbundenen Neuronen.
Ökonophysiker übertrugen das auf die Finanzmärkte und folgerten, dass die korrekte Verteilung von Kursschwankungen nur erklärt werden könne, wenn man die Interaktionen zwischen vielen Investoren und die daraus resultierenden Verhaltensweisen berücksichtige. Sornette nennt Nachahmungs- und Herdentrieb, positive Rückkoppelung, Panikreaktionen und spontane Selbstorganisation. Nicht jedermann ist allerdings mit solchen Analogien einverstanden. Der Finanztheoretiker Bruce Mizrach meint, die Tatsache, dass verschiedene Phänomene ähnlichen Potenzverteilungen folgten, bedeute keineswegs, dass sie den gleichen Gesetzen gehorchten.
Überprüfung mit Computermodellen
Durch solche Kritik lassen sich die Ökonophysiker allerdings nicht beirren. Mit Computermodellen versuchen sie herauszufinden, ob einfache Verhaltensregeln zwischen den Investoren (wie etwa «Kaufe die Aktie, wenn ihr Preis um fünf Prozent gefallen ist und der Kollege sie auch kauft») tatsächlich zum Platzen von Blasen und zu Börsencrashs führen können. Obwohl dies noch keinen Beweis darstellen würde, dass die Regeln tatsächlich gelten, wäre es zumindest ein Hinweis auf ihre Brauchbarkeit zur Erklärung des Marktverhaltens.
Zu den Forschern, die Finanzmärkte mit den Mitteln der statistischen Physik simulieren, gehört Blake LeBaron von der Brandeis University in Massachusetts. In seinen Computerprogrammen interagieren viele Agenten nach wenigen, möglichst einfachen Regeln. Manchmal treten dann kollektive Phänomene wie Panikreaktionen auf, die es in der «rationalen» Welt der klassischen Finanzmarkttheorie gar nicht geben sollte. So stellte sich bei den Simulationen heraus, dass Anlagestrategien, die in gewöhnlichen Zeiten nicht korreliert sind, in Krisenzeiten durch das «irrationale» Verhalten der interagierenden Investoren stark zu korrelieren beginnen. Der ursprüngliche Wunsch, das Klumpenrisiko zu vermindern, wird also in sein Gegenteil verkehrt: Mit zunehmender Volatilität werden Wertpapierbestände, die gut diversifiziert schienen, plötzlich Risiko-anfällig. Dies könnte einer der Gründe dafür sein, dass Crashs öfters auftreten, als man es aufgrund der Normalverteilung erwarten würde.
Ein Frühwarnsystem für Börsencrashs
Manche Ökonophysiker geben sich allerdings nicht damit zufrieden, mit ihren Modellen lediglich das statistische Verhalten der Märkte zu simulieren. Sie wollen einzelne Extremereignisse vorhersagen. Da physikalische Phänomene Gesetzmässigkeiten folgen, hofft Sornette, an dem von ihm gegründeten Financial Crisis Observatory der ETH Werkzeuge zum rechtzeitigen Erkennen zukünftiger Börsencrashs zu entwickeln. Dabei orientiert er sich zum Beispiel an dem sogenannten Omori-Gesetz aus der Geophysik, laut dem sich um ein Erdbeben typischerweise Vor- und Nachbeben entsprechend einer Potenzverteilung häufen. Solche charakteristischen Verhaltensmuster, die Sornette auch in den Finanzmärkten zu erkennen glaubt, sollen genutzt werden, um rechtzeitig vor drohenden Ereignissen zu warnen. Sornette ist vom Erfolg seiner Methoden so überzeugt, dass er demnächst eine nicht unbedeutende Summe seines eigenen Geldes in die Börse investieren will.
Systemische Risiken beachten
Jede Bank und jeder Finanzakteur haben ein Interesse daran, für sich selbst so viele Informationen wie möglich zu besitzen. Jeder will den Preis richtig einschätzen können. Und Märkte sind grundsätzlich wild und zum Teil chaotisch. Es wäre ein frommer Wunsch, zu meinen, dass man ein so dynamisches System ins Gleichgewicht bekommen kann. Es geht eher darum, einerseits das Ungleichgewicht optimal auszunutzen, um damit Geld zu verdienen. Diesen Teil beherrschen die Finanzakteure auch ganz gut. Aber andererseits muss darauf geachtet werden, wann das gesamte System kippen kann in einen Modus, wo niemand mehr gut damit leben kann. Das sind die systemischen Risiken. Im gegenwärtigen Zustand, wo jeder Akteur nur seine eigene Verhaltensweise optimiert, führt die Summe der Verhaltensweisen nicht dahin, dass das gesamte System stabilisiert wird. Deshalb müssten separate Mechanismen dafür sorgen, dass die Gefahren frühzeitig erkannt und bekämpft werden. Die Anzeichen für die Finanzmarktkrise waren ja frühzeitig sichtbar, aber die lokalen Optimierungsstrategien der einzelnen Institute haben das lange ignoriert.
Die systemischen Risiken von Finanzmärkten sind nicht ausreichend erforscht, und deshalb fehlen auch die richtigen Handlungsanweisungen. Man brauchte eine ganz andere Fragestellung der Forschung. Es gibt durchaus Physiker, die zu Banken gegangen sind, aber dort müssen auch sie wieder im Käfig der klassischen Ansätze operieren. Es sollte aber vielmehr um die Frage gehen, an welchem Punkt ein System in einen ganz anderen, ungewollten Modus rutschen kann. So wie ein magnetisches Stück Eisen, das beim Erwärmen plötzlich bei einer ganz bestimmten Temperatur seine Magnetkraft verliert. Wann genau dies passiert, kann das einzelne Atom nicht verstehen, weil es eine Systemeigenschaft des Zusammenwirkens aller Atome ist.
Wie würden Physiker jetzt die Weltfinanzordnung überprüfen?
Wir haben derzeit ein System, in dem die Banken sich gegenseitig nicht mehr vertrauen und kein Geld mehr leihen. Diese Vorsicht gegenüber Risikobewertungen der anderen Institute ist verständlich, denn schließlich wurden Finanzprodukte als risikoarm bewertet, die aus vielen kleinen Derivaten zusammengesetzt waren, die aber mit einem hohen Risiko behaftet waren. Die Konsequenz daraus wäre zunächst einmal, die Risikoberechnungen und die Preisfindung auf einen sehr, sehr gründlichen Prüfstand zu stellen. Wenn man als Physiker ein Modell baut, dann wird extrem selektiert, welche Theorien dabei zur Anwendung kommen dürfen. Die Finanzwelt ist ein großes experimentelles System, in dem man durchaus strikt naturwissenschaftlich vorgehen kann, um Risikobewertungen zu verbessern. Dies würde nicht nur das Vertrauen zwischen den Finanzinstituten verbessern, sondern auch die Basis bilden, um die systemischen Risiken internationaler Finanzmärkte im Detail zu untersuchen.
Auch Physik wird nicht für Vorhersehbarkeit sorgen können
Die Erklärungsansätze aus der Physik mögen für viele gelernte Ökonomen ungewöhnlich aber dennoch plausibel klingen. Die Ansätze werden allerdings auch eines nicht können: Die Entwicklungen auf den Finanzmärkten genau vorherzusagen. Es wäre schön, könnten wir mittels einer mathematischen Formel Sicherheit und vor allem mehr Vorhersagbarkeit in diese eigenwillige Dynamik bringen. Doch es gibt das Phänomen des Interventionsparadoxons: Das vorausberechnete, hypothetische Ergebnis beeinflusst die Ausgangssituation derart, dass es die Eintrittsrealität der Vorauskalkulation unmöglich macht. Die Folge sind hilflose Annahmen, verpackt in komplizierte Berechnungen mit vielen Wenn und Abers, die so viele Wahrscheinlichkeiten hervorbringen, dass sie zur Voraussage nicht wirklich taugen.
Literatur
FAZ: Ein Physikprofessor zur Finanzkrise „Märkte sind grundsätzlich wild
NZZ: Herdentrieb und Panik statt Angebot und Nachfrage
Uni Oldenburg: Turbulenzen und Finanzmarkt
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