Der Boom der Finanzderivate und seine Folgen

by Gastbeitrag on 19. Juli 2009

von Stephan Schulmeister in: Aus Politik und Zeitgeschichte 26/2009

Finanzvermögen – von Wertpapieren bis zu Bargeld – kann auf zweierlei Weise verwendet und vermehrt werden: als Transaktions- und Finanzierungsinstrument in der Realwirtschaft oder als Mittel zur Finanzveranlagung und -spekulation, also (nur) in der Finanzwirtschaft:

Im ersten Fall dient Geld als "Schmiermittel" realwirtschaftlicher Aktivitäten im Raum (insbesondere für den Handel) und in der Zeit (insbesondere für Investitionen), im zweiten Fall wird versucht, Geld durch häufigen Tausch einer bestimmten Geldform (Finanzinstrument) gegen eine andere zu vermehren, also durch kurzfristiges "trading", oder durch langfristiges "holding" eines Finanzinstruments während eines Trends.

Die typische Form der Vermehrung von Geld in der Realwirtschaft ist die Finanzierung von Investitionen: Jemand legt etwa sein Geld auf einem Sparbuch an, die Bank verleiht es an einen Unternehmer, der den Kredit für den Erwerb eines Investitionsgutes verwendet (Finanzkapital wird gewissermaßen in Realkapital verwandelt). Aus dem Mehrertrag durch die Investition bezahlt der Unternehmer den Zins, den sich Bank und Sparer teilen.

Dominiert diese "Arbeitsform" von Geld, so entwickelt sich ein Positiv-Summenspiel: Indem sich das Profitstreben auf die Realkapitalbildung konzentriert, wächst die Gesamtproduktion (das Bruttoinlandsprodukt/ BIP) stetig. In einem solchen "Regime" spielen Finanzsektor und -märkte eine wesentliche Rolle als Vermittler von Finanz- und Realkapital, allerdings ist ihre Rolle im Verhältnis zur Realwirtschaft eine dienende. Ich nenne die "Spielanordnung", in der die Rahmenbedingungen den "Vermehrungsdrang" von Finanzkapital systematisch auf die Realakkumulation lenken, "Realkapitalismus" (typisch für die erste Hälfte der Nachkriegszeit).

Versucht man, Geld "selbstreferentiell" zu vermehren, also durch Tausch unterschiedlicher "Geldarten" (Bankguthaben, Devisen, Aktien, Anleihen, Rohstoffderivate etc.), so wird es Mittel zum Selbstzweck. Dabei sind zwei "Arbeitsformen" zu unterscheiden: Erstens: Das "schnelle Geld" vermehrt sich durch das "trading" von Finanzinstrumenten wie Aktien, Anleihen oder Devisen, insbesondere aber durch den Handel mit den auf Aktienkurse, Zinssätze, Wechselkurse und Rohstoffpreise bezogenen Finanzderivaten (Futures, Optionen, Swaps, etc.). Zweitens: Das "langsame Geld" vermehrt sich durch "holding" solcher Finanzinstrumente, deren Wert während eines "bull market" über einen längeren Zeitraum steigt. Beispiele sind der Aktienboom der 1990er Jahre, der Anstieg der US-Immobilienpreise sowie der Boom der Rohstoffpreise zwischen 2005 und Mitte 2008. In analoger Weise kann man durch "short positions" bei Finanzderivaten von einem fallenden Kurstrend profitieren ("bear market").

Das "schnelle trading" eines bestimmten Finanzinstruments stellt ein Null-Summenspiel dar, das heißt, es werden keine (realen) Werte geschaffen, sondern (monetäre) Werte umverteilt: Die Summe der Gewinne ist immer gleich der Summe der Verluste. Für einen einzelnen, "tüchtigen Spieler" kann das Geld auf diese Weise viel mehr Gewinn bringen ("arbeiten") als bei realwirtschaftlicher Veranlagung, aber nur deshalb, weil andere verlieren.
Wenn sich das Geld durch das "Ausreiten" eines Preistrends nach oben ("bull market") vermehrt, so entstehen Bewertungsgewinne: Alle, die das entsprechende "asset" besitzen, werden reicher und niemand wird ärmer. Allerdings hat diese wundersame Geldvermehrung zwei Haken: Erstens sind die Bewertungsgewinne sehr ungleich verteilt: Wer früh einsteigt (tendenziell die "Profis"), gewinnt mehr als die "Späteinsteiger" (tendenziell die "Amateure"). Zweitens, jeder Boom, der über den realwirtschaftlich ("fundamental") gerechtfertigten (Gleichgewichts-)Preis "hinausschießt", zieht früher oder später einen Abwärtstrend nach sich, durch den die "überschießenden" Bewertungsgewinne wieder eliminiert werden.

Beide "Arbeitsweisen" von Geld stellen daher im Wesentlichen kurz- bzw. längerfristige Nullsummenspiele dar, wobei die Umverteilung in der Regel von den Amateuren zu den professionellen Akteuren stattfinden. Das ökonomische Gesamtsystem gewinnt nicht nur nicht, sondern es wird verlieren, und zwar deshalb, weil Spekulation die wichtigsten Preise wie Wechselkurse, Rohstoffpreise und Aktienkurse destabilisiert und dies wiederum dazu beiträgt, dass die Unternehmen ihr Profitstreben von Real- zu Finanzinvestitionen verlagern. Diese "Spielanordnung" in ihrer Gesamtheit nenne ich "Finanzkapitalismus".
Im Folgenden möchte ich an Beispielen zeigen, wie Geld durch kurzfristige Spekulation "arbeitet".

Hier geht es zu den weiteren Abschnitten

Spekulation mit Finanzderivaten

Spekulationsstrategien

Expansion der Finanztransaktionen

Die Gewinner und die Verlierer im "schnellen" Finanzhandel

Destabilisierung der wichtigsten Preise in der Weltwirtschaft

Eine generelle Besteuerung von Finanztransaktionen

Ulf Juli 19, 2009 um 03:22 Uhr

Das ist ein bisschen die Argumentation der Politik die ich seit Monaten lese. A) überhöhte Liquidität ist „heiße Kartoffeln Trading“. Der Autor nennt es Nullsummenspiel. Aber warum kommt der Autor darauf dass ausschließlich Glücksspiel die Motivation und Grund für überhöhte Handelsvolumina sei? B) Eine Investition ist oft eine Transformation von liquiditätsnahen Geld in immobiles Geld. Wenn letztere verbrieft wurden und deren Handelsvolumen überhoch sind, kann das auch Bestreben gewertet werden die Investition ungeschehen werden zu lassen, was aber physisch nicht geht. C) Nun merkt der Autor an dass in den letzten Jahrzehnten schier unendlich von Kontrakten kreiert wurden um immobiles Geld liquiditätsnah erscheinen zu lassen. Bei den vorliegenden Volumina frage ich mich ob das zunehmendes Glücksspiel oder zunehmendes Hin- und Herwerfen heißer Kartoffeln ist. Ist es letzteres, dann haben „bösen Finanzzauberer“ immerhin Zeit rausgeschlagen und der Autor schlägt eine Lösung für das falsche Problem vor.

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