Zum Beginn der Europameisterschaft 2012: Ergebnisse sind zu über 50% vom Zufall abhängig

by Dirk Elsner on 8. Juni 2012

Heute Abend wird in Warschau die Fußball Europameisterschaft eröffnet mit der Partie Polen gegen Griechenland. Deutschland und Europa fiebern dem Ereignis seit Monaten entgegen. Ein Grund für die Beliebtheit dieses Sports, so vermuten Wissenschaftler, liegt wie schon zur WM 2010 festgestellt in der Ungewissheit über den Ausgang von Fußballspielen und damit der Europameisterschaft selbst. Zwar gibt es auch diesmal wieder klare Favoriten, aber wir haben mit den Europameistern Dänemark und Griechenland in den letzten zwei Jahrzehnten schon zwei extreme Außenseiter als Titelträger gesehen, mit denen niemand gerechnet hat. Anschließend konnten Fachleute natürlich gut erklären, warum diese Teams Europameister geworden sind. Diese Erklärungen klingen dann stets so, als ob es nie einen anderen Sieger hätte geben dürfen.

OK, das ist jetzt etwas überspitzt, dennoch erinnern mich die Fachdiskussionen beim Sport an die Expertendiskussionen über Wirtschaft und Finanzmärkte. Auch hier hat man anschließend stets plausibel klingende Erklärungen für Ereignisse, mit denen vorher niemand gerechnet hat. Ignoriert wird dabei gern der Faktor Zufall. Und tatsächlich ist kaum eine Sportart so stark vom Zufall abhängig, wie das Ergebnis eines Fußballspiels. Das jedenfalls ist die Quintessenz diverser Studien der letzten Jahre, die sich mit Prognostizierbarkeit von Fußballergebnissen befasst haben (siehe Zusammenstellung unten).

Nach einer Untersuchung der Deutschen Bank wird mehr als die Hälfte der Spiele entscheidend vom Zufall beeinflusst. Zufall, so der Autor, scheint damit – zumindest kurzfristig – eine noch bedeutsamere Erfolgsdeterminante als die Finanzkraft der Vereine zu sein. Das mag die Anhänger der Mannschaften beruhigen, die nicht über die Mittel eines FC Barcelonas, FC Chelsea oder Bayern Münchens verfügen.

Dies gilt aber erst recht für die Fußball EM. Ginge es rein nach dem Marktwert, dann würde Spanien (Marktwert gem. Transfermarkt.de 658 Mio. €) mit einer überragenden Vorstellung Europameister werden vor Deutschland (459 Mio. €) und den Niederlanden (277 Mio. €). Schlusslicht wäre Polen mit 85 Mio. €. Nach Auffassung des

Ist nun alles vom Zufall abhängig und wie wird Zufall im Fußball überhaupt definiert? Der Autor der Studie, Jörn Quitzau, lieferte in einem wissenschaftlichen Aufsatz eine Definition des Zufalls im Fußball:

“Unter Zufall werden in diesem Beitrag all jene Umstände eines Fußballspieles verstanden, die bis zum Spielbeginn nicht bekannt bzw. nicht prognostizierbar sind. Der so verstandene Zufall kann sich aus mindestens zwei Sachverhalten zusammensetzen: Glück und Tagesform.

Unter den Begriff „Glück“ können sämtliche das Spiel beeinflussenden Ereignisse eingeordnet werden, die nicht auf die eigene (beabsichtigte) Leistung bzw. Anstrengung der vom Glück profitierenden Mannschaft zurückzuführen sind. Exemplarisch seien genannt: Schiedsrichter-Fehlentscheidungen, witterungsbedingte Einflüsse, Unebenheiten des Platzes oder Ausfälle wichtiger Spieler des Gegners kurz vor bzw. während des Spieles.”

Quitzau untersucht seine Hypothesen vom Einfluss des Zufalls auf Fußballspiele anhand der Wettmärkte und geht dabei von effizienten Vorhersagemärkte und rationalen Spielteilnehmern aus. Die Details mögen Interessenten bitte in den Studien nachlesen.

Den Einfluss des Zufalls auf die Ergebnisse von Fußballspiele bestätigt auch Eli Ben-Naim vom Los Alamos National Laboratory. Dazu war 2007 Jahren auf Spiegel Online zu lesen:

Seine Analyse von 300.000 Einzelspielen, darunter 43.000 aus der britischen Premier League (Fußball) ergab, dass es beim Kicken mit Abstand die meisten Überraschungen gibt. 45 Prozent aller Spiele werden vom vermeintlichen Underdog gewonnen, der laut Rangliste eigentlich verlieren müsste. Beim Basketball, wo pro Spiel von beiden Teams Dutzende Körbe geworfen werden, beträgt die Überraschungsquote gerade mal 36 Prozent. Genauso vorhersehbar ist American Football (NFL) mit 36 Prozent. Die Eishockeyliga NHL kommt auf 41 Prozent, bei Baseball gewinnen immerhin schon 44 Prozent aller Spiele die Underdogs.”

Wichtig aber, die Ergebnisse sind nicht vollständig vom Zufall abhängig. Die oben zitierten Untersuchungen sprechen etwas von einem Zufallsfaktor, der untersuchten Ligen, der zwischen 51% und 53% liegt. Der Rest wird durch Leistungsstärke, Tagesform etc. erklärt, wobei hier objektiv messbare Kriterien nicht so einfach zu erfassen sind und die Leistungsdaten pro Spieler bekanntlich von Spiel zu Spiel stark schwanken können. Daher stehen die Aussagen des DIW, dass der Ausgang eines Turniers maßgeblich vom Marktwert der Teams abhängt, dazu nicht im Widerspruch.

Das Hamburgische Weltwirtschafts Institut (HWWI) zieht direkt einen Zusammenhang zwischen der Qualität von Wettquoten als Vorhersageindikator und weiteren Faktoren:

Ein sehr einfaches Modell zeigt, dass sich die Wahrscheinlichkeiten eines Titelgewinns für die Mannschaften aus dem Transferwert, also näherungsweise der Summe der Individuellen Qualitäten, und der Standardabweichung als Maß für die Ausgeglichenheit eines Teams weitgehend erklären lassen. Rund 84 % der Varianz der Wahrscheinlichkeiten werden durch Unterschiede im Transferwert und in der Standardabweichung erklärt. Je höher der Transferwert und je geringer die Standardabweichung, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit auf den Titelgewinn. Beide Erklärungsgrößen sind statistisch signifikant. Dieses empirische Ergebnis hat eine theoretische Fundierung: Die Stärke einer Mannschaft ergib sich nicht aus der Summe der Einzelqualitäten, sondern aus deren Produkt. Das Ganze ist somit mehr als die Summe seiner Teile. Ein guter Stürmer ist nur halb soviel Wert, wenn er nicht präzise und oft aus dem Mittelfeld in Szene gesetzt wird.

Details darüber, dass der sportliche Erfolg von Mannschaften nicht nur von den individuellen Leistungen der Spieler abhängt, sondern maßgeblich davon, inwieweit diese ein „homogenes Kollektiv“ bilden, hat das HWWI in der Studie “Ein „ZIDANE-Clustering-Theorem“ und Implikationen für den
Finanzausgleich in der Bundesliga” untersucht (pdf-Download hier).

Jedenfalls, und das ist die beruhigende Botschaft, ist der Ausgang der EM offener, als es der Blick auf die Erwartungen zeigt. Die Wahrscheinlichkeit, dass Spanien den Titel holt, beträgt 25,48%. Damit und mit den Erkenntnissen dieser Studien dürfte für genügend Spannung gesorgt sein.

Olaf Storbeck ging 2010 für das Handelsblatt ebenfalls auf einige der hier zitierten Untersuchungen und weiteren Erkenntnisse von Ökonomen ein: Die ökonomische Wahrheit liegt auf dem Platz. Sehr intensiv hat sich übrigens Goldman Sachs mit der Ökonomie des Weltcups befasst. Wer Lust und Zeit hat, der kann hier die Erkenntnisse der Goldmänner als pdf herunter laden.

Sozialwissenschaftler der Uni Tübingen hatten in einer Studie (hier zum Download) über den Ausgang der WM 2010 ebenfalls die Einflüsse auf Fußballergebnisse veröffentlicht. Die Autoren schrieben: “Die Besonderheit der Studie ist ihr ganzheitlicher Blickwinkel. So fußen die Ergebnisse auf sportlichen Variablen, berücksichtigen aber auch den Einfluss von Politik, Ökonomie, Kultur und vielem mehr auf den sportlichen Erfolg. Laut der Studie wird Brasilien Weltmeister, Deutschland Zweiter, vor Frankreich und Italien. Im Viertelfinale scheitern Niederlande, England, Spanien und Portugal. Die Wahrscheinlichkeit der Prognose liegt bei 75%.”

Nachtrag

Jetzt ist mir Olaf Storbeck im Handelsblog doch zuvor gekommen:

Die Ökonomie des Fußballs: Spanien ist Top-Favorit

Dort gibt es auch noch einen Link auf eine weitere Studie:

DIW: Keiner kommt an Spanien vorbei –  außer dem Zufall

Studien

Deutsche Bank: Faktor Zufall als Spielverderber (pdf): Zur Prognostizierbarkeit von Fußballergebnissen  Wettmärkte als effizienter Informationslieferant

Jörn Quitzau: Zufall als Spielgestalter (pdf): Der übersehene Erfolgsfaktor im Profifußball und seine wettbewerbspolitischen Implikationen

Spon: Numerator Fußball ist Glücksspiel

HWWI: Der Faktor Zufall im Fußball Eine empirische Untersuchung für die Saison 2007/08 (pdf)

Uni der Bundeswehr: Erfolgsfaktor Zufall im Profifußball

Diskussionspapier: Warum gehen die Leute in die Fußballstadien? Eine empirische Analyse der Fußball-Bundesliga (pdf)

Zeit: „Bei zwei von fünf Toren ist Zufall im Spiel“

Handelsblog: Das Versagen von Bayern München, ökonomisch erklärt

DIW: Geld : Zufall = Spanien wird Fußballweltmeister, DIW Research Note Nr. 35 von Jürgen Gerhards und Gert G. Wagner | PDF, 167.56 KB

HWWI Update EM Spezial 2012: Teamgeist oder geniale Momente – was entscheidet die EM?

Und außerdem

FTD: Kickonomics: “Fußball ist das schlechteste Geschäft der Welt”: Der Londoner Professor Stefan Szymanski analysiert die Zusammenhänge zwischen Fußball und Wirtschaft. Er verteidigt die Mondgehälter von Spielerstars und rechnet vor, warum Deutschland nur eine 19-Prozent-Chance auf den WM-Sieg hat.

Lutz Breunig Juni 8, 2012 um 08:32 Uhr

No Risk, – no Fun!

egghat Juni 8, 2012 um 06:08 Uhr

Der Artikel ist aber zu großen teilen recycelt. Mir entgeht sowas nicht … Habe nämlich gestern Abend die 2010er Version verlinkt 🙂

Dirk Elsner Juni 8, 2012 um 08:56 Uhr

Genau so ist das. Aber er passte ziemlich gut und ist natürlich aktualisiert um ein paar neue Studien 🙂 Habe zur Klarstellung oben den Link auf die WM 2010 jetzt noch eingefügt.

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