Mehr Europa ohne mehr Zentralisierung (Teil 2)

by Gastbeitrag on 9. August 2012

Fortsetzung von Teil 1

Gastbeitrag von Professor Jürgen Kunze*

Europa steht gut da – eigentlich (Teil 1)Fakten sind mehrdeutig (Teil 1)Wo liegt das Problem? (Teil 1)o Problem Banken? (Teil 1)

o Problem Staatsschulden? (Teil 1)

o Problem unterschiedlicher (Teil 1)

Wettbewerbsfähigkeit? (Teil 1)

Transferbasis (Teil 2)

Produktive und konsumtive Defizite (Teil 2)

Die missratene Dekade (Teil 3)

o Produktivitätsdilemma des Südens (Teil 3)

o Schuld des Euro? (Teil 3)

Konvergenz und Divergenz – Transferarchitektur? (Teil 3)

Mehr Europa mit mehr Divergenz und weniger Zentralisierung (Teil 3)

Transferbasis

imageDer Familienkrach in der Eurozone hat also viele Themen, eigentlich geht es aber um Trans­fers. Das ist das schwierigste Thema und deshalb wird es vielfältig und phantasievoll camoufliert. Die Camouflage besteht im Kern darin, dass in Teilbereichen Kredite von Kredit­nehmern für Transfers gehalten werden, die Kreditgeber das aber so nicht gemeint haben wollen. Auf Dauer hilft es aber nicht, den Fakten auszu­weichen: Selbstverständlich war Eu­ropa schon immer, schon im Format der römischen Ver­träge eine Trans­ferunion. Selbstverständlich wird sie das bleiben. Gestrit­ten werden kann und gestritten werden muss über die konkrete Transferpolitik, ihre Bedingun­gen und ihre Reichweite.

Transferfragen können in einer integrierten Wirtschaft wie der Eurozone durch unausgeglichene Leistungs­ströme zwischen Mitgliedsländern entstehen. In einem multilateral verfassten Handelsverbund ist das zunächst unproblematisch. Multilateralität ist eine elementare Errungenschaft im internationalen Handel – dort leider auf dem Rückzug – und eine Wohlstandsquelle für alle. Ein Ausgleich der Handelsströme zwischen zwei Mitglie­dern der Eurozone wäre also ein gänzlich unvernünfti-ges Ziel. Die Frage ist damit aber nicht erledigt. Wenn Über­schüsse und Defizite zwischen den Mitgliedern im Zeit­ablauf nicht wechseln, sondern sich nach Partner und Dauer verfestigen, ein Teil der Eurozone also struk­turell Überschüsse und vice versa Defizite mit dem anderen Teil hat, kommen Transferfragen auf den Tisch. Das ist vereinfacht die Nord-Süd-Frage in der Euro­zone.

Die Leistungsströme umfassen Güter und Dienste, Einkommen (hier Zins­zahlungen) und Trans­fers (Leistungen ohne direkte Gegenleistung). Ein dauerhaf­tes Defizit des Südens ge­genüber dem Norden wird über das Eurosystem durch Kredite, also durch Schuldenaufbau und nicht durch Transfers, finanziert. Die Schulden erfordern Zins­zahlungen und begründen einen Leis­tungsstrom von Süd nach Nord in Form von Zinsein­kommen für den Norden. Aus einem strukturellen Defizit in der Handelsbilanz (Güter- und Dienste) folgen Schuldenaufbau (privat und staatlich) und zunehmende Zinsverpflichtungen (Defizit in der Einkommensbi­lanz); das Defizit in der Leistungsbilanz wächst.

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Diese Konstellation hat sich in der letzten Dekade in der Eurozone entwickelt und verfestigt Ob dabei die Verschuldung des Südens gegenüber dem Norden staatlich oder privat tituliert ist, hat für den realwirtschaftlichen Grundvorgang keine Bedeutung. clip_image002[5]Realwirtschaftlich hat ein Wohlstands­transfer von Nord nach Süd bereits in der letzten Dekade stattgefunden. Der Nor­den hat netto Güter und Dienste an den Süden ab­gegeben und dafür Schuld­scheine er­halten. Wie diese eingelöst werden sol­len, also Wohlstand in Form von Zinsein­kommen zu­rückfließt, ist offen. Richtig ist aber auch: Der Nor­den hat Wohlstand abgegeben und Be­schäftigung ge­won­nen. Ein Exportüber­schuss bei den Güter- und Dienst­leis­tungs­strömen hat immer diesen diaboli­schen Ef­fekt: Weniger Wohl­stand, aber mehr Beschäftigung (und vice versa). Divergenzen der Nord-Süd-Leistungsströme kön­nen ohne Transfers und ohne Schulden­kumulierung auf zwei Wegen finan­ziert werden. Erstens kann das Netto­aus­landsvermögen, soweit und so­lange vorhanden, genutzt werden (oder auch Goldreser­ven wie im alten Gold-standard).

Zweitens können Defizite des Südens mit dem Norden durch Überschüsse mit Dritten ausge­glichen werden. In der letzten Dekade hatten Griechen­land, Zypern, Portu­gal, Spanien Doppel-Defizite, also Defizite im EU27-Raum und gegenüber dem Rest der Welt (z.T. ausgeglichen durch Dienstleistungsüberschüsse). Eine Ten­denz zu solchen Doppeldefiziten zeichnet sich zuletzt auch für Frank­reich, Ita­lien und Slowe­nien ab.

 

Produktive und konsumtive Defizite

Der grundsätzliche wirtschaftliche Zusammenhang zwischen dauerhaften Exportüberschüs­sen bei Gütern und Diensten einer Region gegenüber einer anderen kann durch Finanzin­strumente nicht aufgehoben werden. Wenn es keine dritten Quellen gibt – Überschüsse der Defizitregion gegenüber anderen Regionen oder Entsparen zu Lasten des Nettoauslands­vermögens – erreicht die Defizitregion zunächst einen realen Wohlstandsgewinn und nimmt eine externe Verschuldung in Kauf. In der Folgezeit wird ein Leistungsstrom in Form von Zins­zahlungen an die Überschuss­region fällig. Wird die Zinslast zu groß, stellt sich ersatz­weise die Transferfrage. Eine Kreditierung von Defiziten hat insoweit immer auch das Merk­mal eines Eventual-Transfers. Das gilt auch für die Nord-Süd-Frage in der Eurozone. Entscheidend für die Zweck­mäßigkeit und Tragfähigkeit eines dauerhaften Handels­defizits ist, ob die Defizite produktiv oder konsumtiv verwendet werden.

clip_image002[9]Das Defizit kann produktiv für höhere Investitionen genutzt werden, ohne die Kon­sum­standards zu senken. Wenn die Investi­tionen das Produk-tions­poten­zial erhö­hen, kön­nen die Zin­sen für die exter­nen Kredite aus der dann höheren Pro­duktion ge­leistet werden. Bei­spielhaft verein­facht: Wenn der Produk­tions-strom um 10% wächst und der Zinslaststrom 5% be­trägt, rechnet sich das ur­sprüngli­che Defizit. Die Defizitregion er­reicht ein höheres Wohl­standsniveau aus eigener Kraft.

Das ist die Grundidee für die globa­len Nord-Süd-Bezie­hun­gen seit 50 Jahren. Erfolgreich war sie in den letzten 20 Jahren prak­tisch nur in Europa bei der EU-Süderweiterung und dann bei der EU-Osterweiterung. Die­sen Erfolg kenn­zeichnet die Weltbank zutreffend als Erfindung der „Konvergenzmaschine“. Entwick­lungs­fortschritte in anderen Regionen folgen im Zuge der Globalisierung und auch nach schlech­ten Erfahrungen mit dem IWF überwiegend nach dem Münchhausen-Prinzip: Sich selbst aus dem Sumpf wirt­schaftlicher Schwäche herauszie­hen. Ob Brasilien oder China, Export­über­schüsse haben sich als neues Entwicklungsmuster etabliert. Die Erfolge schließen glo­bale Wohlstandstransfers von Süd nach Nord ein. Das be­deutet zugleich niedrigere Einkom­men als nach der Produktions­leistung möglich.

Alternativ kann das kreditfinanzierte Handelsdefizit ohne Wirkung auf das Produktions­potenzial den laufenden Konsum erhöhen. Nach einigen Jahren wird die Zinslast für die ku­mulierte externe Verschuldung der Region untragbar. Dann kommt es – in welchen Finanz­mänteln auch immer verpackt – zur Transferfrage.

Handelsdefizite können nach ihrer Funktion typisiert werden:

  • Konvergenzdefizite werden produktiv genutzt und rechnen sich. Sie sind vorüber­gehend und werden durch eine Mischung aus Krediten und Transfers (incl. zins­verbilligter Kredite) finanziert. Konvergenzdefizite sind strapaziös.
  • Transferdefizite stützen dauerhaft den Konsum der Defizitregion. Sie werden durch Transfers der Überschussregion an die Defizitregion finanziert. Es gibt keinen Schuldenaufbau. Transferdefizite sind angenehm.
  • Stabilisierungsdefizite entstehen durch ungleichzeitige Schwankungen der regionalen wirtschaftlichen Aktivitäten. Sie bestehen zeitweilig und werden durch Marktmechanismen und – wenn nötig – durch makroökonomische Politiken bewältigt. Sie sind notwendig für alle Handelspartner.

Fortsetzung am 10.8.


* Jürgen Kunze war Professor für Finanzdienstleistungen und Volkswirtschaftslehre an der Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin. Ich habe den Aufsatz in Abstimmung mit Herrn Professor Kunze in drei Abschnitte aufgeteilt. Der Aufsatz ist bisher unveröffentlicht. Teil 1 ist am 7.8. erschienen.

Guenni7 August 9, 2012 um 03:01 Uhr

@renee

Grundsätzlich geht die Rechung „mit Investition läßt sich der Kapitaldienst decken““ schon auf. Voraussetzung ist aber, das Unternehmer am Werk sind, nicht Staaten.
Im Falle von GR und SP wurden mit dem vielen Investorengeld aber keine Investitionen in Unternehmen getätigt, sondern in Sozialausgaben und Immobilienspekulation. Wäre mit dem Geld eine vernünftige Produktion finanziert worden, sähe es heute ganz anders aus.

Die Argumentation von Prof. Kunze kann ich nicht wirklich teilen.

Zitat: „Ein Ausgleich der Handelsströme zwischen zwei Mitglie­dern der Eurozone wäre also ein gänzlich unvernünfti-ges Ziel. “

Ein dauerhaftes Handelsbilanzdefizit soll nicht schlimm sein? Das gilt aber doch allerhöchstens für den Fall, das das entsprechende Land Handelsbilanzüberschüsse mit einem anderen Land erwirtschaftet, oder?
Eine dauerhaft negative Handelsbilanz bedeutet doch nur, dass man sich mehr leistet, als man könnte, weil man das ja mit gar nichts bezahlen kann (und deswegen Schulden anhäuft). Warum Transferzahlungen daran etwas verbessern können sollen, ist mir nicht ersichtlich. Zumal das konsumieren auf Kredit ja nun auch irgendwo ein Ende hat, wie wir nun sehen….

Ehrlich gesagt, entweder habe ich den Professor mit meinem bescheidenen Intellekt nicht verstanden, oder es handelt sich um einen Aufsatz, der weit ab der Realität ist.

causb August 9, 2012 um 11:12 Uhr

Nun wenn man sich vorstellt, dass es auch Dreieckshandelsbeziehungen geben soll, dann schadet man sich selbst mit einem (periodenweisen) jeweils bilateralen Ausgleich.
Zur Unausgeglichenen Handelsbilanz schreibt er ja auch:
„Alternativ kann das kreditfinanzierte Handelsdefizit ohne Wirkung auf das Produktions­potenzial den laufenden Konsum erhöhen. Nach einigen Jahren wird die Zinslast für die ku­mulierte externe Verschuldung der Region untragbar. Dann kommt es – in welchen Finanz­mänteln auch immer verpackt – zur Transferfrage.“

Womit wir in der laufenden Gegenwart angekommen wären.
Ich freu mich schon auf den morgigen Teil.

renee.menendez August 9, 2012 um 01:45 Uhr

„…können die Zinsen für die externen Kredite aus der dann höheren Produktion geleistet werden.“

Sie formulieren auf recht schöne Weise genau die Falle, welche den „Entwicklungsländern“ zum Verhängnis geworden ist. Denn genau die Vorstellung, daß man nur mehr produzieren müsse, um den Kapitaldienst tragen zu können, hat für 50 Jahre Entwicklungspannen gesorgt. Wo war der Fehler? Der besteht darin zu glauben, daß Produktion auch Einkommen bedeutet. Falsch gedacht! Ändern sich die Marktpreise, geht die Kalkulation ins Minus! Da können Sie noch so viele „Rechnungen“ aufmachen, das haut nicht hin. Wenn Sie es nicht glauben wollen, informieren Sie sich einfachheitshalber mal hinsichtlich der tausendfach fehlgeschlagenen „Entwicklungsprojekte“, die – weil sie den „Weltmarkt“ überflutet haben, wofür jeder einzelne nichts kann(!) – so gut wie allesamt in die Hose gegangen sind. Was wollen Sie mit den Prinzipien, die nur auf der ‚ceteris paribus‘ Klausel beruhen? Ich hatte geglaubt, Sie argumentieren volkswirtschaftlich – da ist aber c.p. nicht erlaubt!

Sie sagen es doch selbst:
„Exportüberschüsse haben sich als neues Entwicklungsmuster etabliert.“
Das wußten die Merkantilisten aber auch schon vor 250 Jahren! Und die Chinesen haben es von F. List abgekupfert! Das ist doch so einfach wie simpel! Die haben halt die Theorie von der Auslandsverschuldung nicht geglaubt – und waren erfolgreich!

Und:
Daß man dann, wenn man nur auf Pump lebt irgendwann in die Bedrouille kommt, ist ja nun auch keine so neue Erkenntnis!

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