Finanzmärkte in Emergenzen denken (I): Eine Annäherung

by Dirk Elsner on 1. Oktober 2012

complexity of the simple

Die Komplexität einfacher Dinge (Foto flickr/clickkbd)

Vorletzte Woche habe ich in “Frisbee mit den Märkten” einen bemerkenswerten Text von Beate Reszat besprochen über eine andere Sichtweise auf die Finanzmärkte beleuchtet und zwar als komplexe adaptive Systeme. Auch wenn diese Ansätze schon länger in der Fachwelt diskutiert werden, habe ich mit diesen Text das erste Mal das Gefühl erhalten, dass sich verschiedene Denkansätze, die ich hier schon lange im Blog verfolge (Auswahl von Artikel dazu hier), so langsam zusammen fügen. Unterschlagen habe ich in dem Beitrag eine besondere Eigenschaft, die Beate erwähnt hat und auf die ich nicht ausdrücklich eingegangen bin: Die Emergenz

Auf das Denken in Emergenzen stieß ich erneut am Wochenende bei der Lektüre von David Brooks “Das soziale Tier”. Brooks steigt in das Thema Emergenz mit einer Kritik am Reduktionismus ein. Dem Reduktionismus liegt die Annahme zugrunde, dass wir glauben, große und komplexe Probleme leichter begreifen und erklären zu können, sobald wir die Teile verstanden haben. Daher, so Brooks, versuchen wir große Zusammenhänge in ihre Bestandteile zu zerlegen und diese dann zu verstehen. Brooks schreibt:

“Diese Sichtweise verleitet Menschen zu dem Glauben, sie könnten ein Problem verstehen, indem sie es in seine Einzelteile zerlegen. Sie könnten die Persönlichkeit eines Menschen verstehen, wenn sie nur alle seine genetischen und umweltbeeinflussten Eigenschaften herauspräparieren und untersuchen würden.”

Die Schwäche dieser Art des Denkens liegt darin, “dass sie dynamische Komplexität, die das zentrale Merkmal jedes Menschen, jeder Kultur und jeder Gesellschaft ist, kaum erklären kann.” Das ist schon einmal eine wichtige Erkenntnis, die man durchaus auf Finanzmärkte und ökonomische Systeme übertragen kann. Auch hier glauben wir, man könne die Aktivitäten auf den Finanzmärkte in Teilprobleme zerlegen und mit einfachen Modellen.

In anderen Wissenschaftszweigen hat man dieses Defizit erkannt und der Struktur emergenter Systeme größere Beachtung geschenkt. Brooks erklärt das wie folgt:

“Emergente Systeme liegen vor, wenn verschiedene Elemente zusammenkommen und ein Ganzes bilden, das größer ist als die Summe seiner Teile. Oder, um es anders auszudrücken, die Bestandteile eines Systems beeinflussen sich gegenseitig und aus ihrer Interaktion geht etwas völlig Neues hervor. So kann es zum Beispiel passieren, dass solche an sich harmlosen Dinge wie Luft und Wasser aufeinandertreffen und, aufgrund eines bestimmten Interaktionsmusters, ein Hurrikan entsteht. Laute und Silben kommen zusammen und erzeugen eine Geschichte, die eine emotionale Wucht hat, welche nicht auf ihre Bestandteile zurückgeführt werden kann.

Emergente Systeme haben keinen zentralen Steuerungsmechanismus. Vielmehr ist es so, dass ein bestimmtes Interaktionsmuster, sobald es sich herausgebildet hat, das Verhalten der Bestandteile beeinflusst.”

Er erläutert dies dann plastisch am Beispiel einer Ameisenkolonie, die sich komplett neu organisieren kann, wenn sich das Wissen eines einzelnen Mitglieds ändert, etwa weil es auf eine neue Nahrungsquelle gestoßen ist. Sie ändert dann nämlich ihre Richtung, was von anderen Ameisen registriert wird, die sich dann ebenfalls anpassen und ihre Richtung ändern, ohne alle Informationen der ersten Ameise zu haben. Immer mehr Ameisen folgen schließlich der Richtungsänderung. Brooks zitiert dazu Steven Johnson: “Lokale Information kann zu globalem Wissen führen.”

Brooks zählt in der Folge diverse Beispiele für emergente Systeme auf: Das Gehirn, Kulturen, die Ehe oder Armut.  Wichtig ist, dass die Eigenschaften eines emergenten Systems nicht bzw. nicht vollständig auf die Eigenschaften der Bestandteile zurückgeführt werden können, wenn man diese isoliert betrachtet.

Die Wikipedia beschreibt “Emergenz als disziplinübergreifendes Konzept

“Das Phänomen der Emergenz wird oft als Argument gegen einen reduktionistischen naturwissenschaftlichen Atomismus angeführt. Emergenztheoretiker bestreiten damit, dass eine vollständige Beschreibung der Welt allein aufgrund der Kenntnis der Elementarteilchen und allgemeiner physikalischer Gesetze prinzipiell möglich sei (vgl. Laplace’scher Dämon). Die Anerkennung emergenter Phänomene muss allerdings nicht zu einem Verzicht auf wissenschaftliche Erklärungen führen. Vielmehr zeigen die Entwicklungen in der Systemtheorie und der Chaosforschung, dass emergenzverwandte Phänomene wie Selbstorganisation und ihre Entstehungsbedingungen durchaus systematischen und objektiv nachvollziehbaren Erklärungen zugänglich sind. Allerdings tritt an die Stelle der Einheit der Wissenschaft aufgrund einer hierarchischen Ableitung aus universalen Gesetzen ein transdisziplinärer Dialog, dessen Ziel es ist, analoge Strukturen komplexer Systeme auf unterschiedlichen Emergenzebenen zu vergleichen.”

Die Idee, Finanzmärkten bzw. ihren Akteuren ebenfalls die Eigenschaften der Emergenz zuzurechnen, ist nicht neu. Schon Bachelier (Anfang des 20. Jahrhunderts) und Mandelbrot sind diese Eigenschaften aufgefallen, ohne dass sie meines Wissens den Begriff der Emergenz verwendeten. Beate Reszat selbst hat 2000 diesen Ansatz ausführlich in einem Diskussionspapier des HWWA erläutert.

In der öffentlichen Diskussion spielt diese Eigenschaft aber leider weiter keine große Rolle. Der Philosoph Richard David Precht kritisierte dies Anfang des Jahres in einem Essay für den Spiegel. Dort schrieb er u.a. über Verhalten in der Wirtschafts und der Finanzmärkte:

“Man wird dem Phänomen wohl nur gerecht, wenn man es bio-philosophisch mit dem Begriff der Emergenz erklärt. Was die englischen Psychologen Conwy Lloyd Morgan und Samuel Alexander in Bezug auf die Herausbildung des Bewusstseins annahmen – dass es mehr sei als die Summe seiner Teile -, gilt offensichtlich auch in sozialen und ökonomischen Systemen. Das Kennzeichen solcher Systeme: So, wie sich Organismen nicht auf die Eigenschaften ihrer Gene reduzieren lassen, so ist die Gesellschaft mehr als die Summe der an ihr beteiligten Menschen. Ihre Eigenschaften sind andere.

Auch Märkte, insbesondere die Finanzmärkte, verfügen über andere Eigenschaften als Banken, Schattenbanken, Zentralbanken, Versicherungen, Pensionsfonds oder öffentliche Finanzinstitute. Sie sind Prozesse kollektiven Handelns, die sich selbst organisieren, ohne dabei (anders als einzelne Akteure des Marktes) an einem kollektiven Ziel orientiert zu sein. Dass das Kapital mehr ist als die Summe der Kapitalisten, wusste schon Karl Marx. Seine politische Ökonomie freilich scheiterte an einem anderen Phänomen solcher Systeme, nämlich an deren Unvorhersagbarkeit. Die Summe der Einflüsse, Selbstverstärkungsprozesse und Rückkopplungen in ihnen sprengt jede Berechnung. Hier liegt der Grund für die gegenwärtige Konfusion in den Wirtschaftswissenschaften, die ja keine exakten Wissenschaften sind, sondern Schulen, Lehren und Glaubensgemeinschaften.”

In der Folge kritisiert Precht die Psychologisierung der “Märkte” durch Ökonomen, Politiker und Journalisten:

“In der Realität jenseits der Medien und Metaphern aber können Märkte gar nicht „nervös“ und folglich auch nicht „beruhigt“ werden; sie „misstrauen“ auch nicht und „schöpfen keinen Verdacht“, denn sie sind keine Individuen, nicht einmal ein Kollektiv von Individuen. Menschen haben Absichten, Interessen, Wünsche und Ängste – Märkte nicht. „Nervös“ ist nicht der Markt, sondern es sind seine Analysten und Analytiker. … Statt den Finanzmarkt als emergentes System zu begreifen, hat seine Personifizierung als Akteur, als Patient oder Monster einen Mythos geschaffen, der zugleich seine Unbesiegbarkeit gewährleistet. Entsprechend schicksalsergeben gebärdet sich die Politik. Überzeugte Atheisten und Atheistinnen knicken vor der unsichtbaren Macht der Märkte ein und sinken ergeben auf die Knie, wenn die Hohepriester des Mammons raunen, der Markt der Märkte habe sein Vertrauen in ihr Volk verloren.”

Beate Reszat hat emergenten Eigenschaften der Finanzmärkte in dem oben erwähnten Arbeitspapier am Beispiel von Japans Finanzmärkten untersucht. Ausgangspunkt ihrer Analyse ist eine Beschreibung der Stärken und Schwächen der Anwendung dieses Ansatzes auf die Finanzmärkte.

Ich bin noch weit davon entfernt, die Konsequenzen dieses Denkansatzes auch für die praktische Wirtschafts- und Finanzmarktpolitik zu verstehen. Aber ich finde, es lohnt sich, das Thema weiter zu betrachten. In einem Folgebeitrag schaue ich, wie man sich bemüht mit agenten-basierten Simualtionen die komplexen Wechselwirkungen abzubilden.

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Fortsetzungen

Finanzmärkte in Emergenzen denken (II): Agenten-basierte Simulation

Finanzmärkte in Emergenzen denken (III): Anwendung agenten-basierter Simulation

Wirtschaftswurm Oktober 1, 2012 um 07:25 Uhr

Letztlich scheint mir Emergenz auch nur ein Begriff für etwas zu sein, das man nicht versteht.

Dirk Elsner Oktober 1, 2012 um 10:41 Uhr

Eigentlich doch nicht.
Es geht doch darum, dass zwei Elemente, Wirtschaftssubjekte oder was auch immer miteinander interagieren und dabei etwas heraus kommt, was sich nicht so einfach vorhersehen lässt.

renee.menendez Oktober 1, 2012 um 02:39 Uhr

Die Schwäche dieser Art des Denkens liegt darin, “dass sie dynamische Komplexität, die das zentrale Merkmal jedes Menschen, jeder Kultur und jeder Gesellschaft ist, kaum erklären kann.”

Moment mal, das ist auch lediglich nur eine Behauptung, daß das alles so furchtbar komplex sei. Denn der Grundwiderspruch dabei ist immer, daß die Erkenntnis von Komplexität daran gebunden ist, daß sie überhaupt erfaßt werden kann. Nur: wenn man etwas „kaum erklären kann“, kann man auch keine Qualifizierungen darüber abgeben. Dann kann man nämlich nur sagen: ich verstehe es nicht! Dann kann man aber auch keine Ergüsse darüber verfassen.

Und: diese Geschichte ist alles andere als neu: da ja Goethe derzeit „in“ ist: das ist genau der Gegensatz zwischen Faust und Wagner:

Faust:
Wer will was Lebendigs erkennen und beschreiben,
versucht den Geist herauszutreiben,
dann hat er die Teile in seiner Hand,
fehlt leider nur das geistige Band.

Wagner:
Es wird! Die Masse regt sich klarer!
Die Überzeugung wahrer, wahrer:
Was man an der Natur Geheimnisvolles pries,
das wagen wir verständig zu probieren.
Und was sie sonst organisieren ließ,
das lassen wir kristallisieren.

Noch was:
„Emergente Systeme haben keinen zentralen Steuerungsmechanismus. Vielmehr ist es so, dass ein bestimmtes Interaktionsmuster, sobald es sich herausgebildet hat, das Verhalten der Bestandteile beeinflusst.”

Das nennt man „contradictio in adjecto“. Denn das Interaktionsmuster, welches Systeme steuert nennt man in der Systemtheorie „Sinn“! Und „Sinn“ ist tatsächlich ein kommunikativer Steuerungsmechanismus.

Ich denke, daß 99,9% der Leute die „Komplexität“ schreiben sich nur wichtig machen wollen. Da erkennt man daran, daß die Frage, warum ein System komplex ist, selten überhaupt ventiliert wird. Gut, für Techniker ist das eindeutig: sobald sie es mit mehreren nichtlinearen Differentialgleichungen zu tun haben ist es für sie komplex. Warum? Weil sie es nicht mehr analytisch, sondern allenfalls mit Hilfe von Simulationen lösen können. Das könnte aber auch was mit der Problembeschreibung zu tun haben.

Zur Erinnerung: das geozentrische Weltbild war ja nicht falsch, nur daß dessen mathematische Beschreibung halt „komplex“ war – man kann auch „höllisch kompliziert“ dazu sagen. Heliozentrisch bekommt man eine Beschreibung mit einem einfachen Zirkel hin! Die Geozentriker waren ja nicht blöd, sie haben schlichtweg nur komplizierter gedacht, als es nötig gewesen wäre!

Vielleicht hast Du ja eine Erklärung dafür, wie man über Komplexität reden/ schreiben kann, ohne sie erklären zu können?

Dirk Elsner Oktober 1, 2012 um 06:13 Uhr

Ich denke darüber nach.

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