Ökonomische Theorien: Das schöngerechnete Risiko

by Gastbeitrag on 28. November 2012

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„Insofern sich die Sätze der Mathematik  auf die Wirklichkeit beziehen, sind sie nicht sicher, und insofern sie sicher sind, beziehen sie sich nicht auf die Wirklichkeit.“
(A. Einstein, Geometrie und Erfahrung)

Gastbeitrag aus Agora42*

 

Glücksspiel statt Bafög

„Um dieses Stipendium zu bekommen, musst du mir etwas erzählen, das mich völlig vom Hocker reißt“, sagt der Juror zu Ben Campbell. Der Student ist dringend auf das Stipendium angewiesen, da er sich ansonsten das Medizinstudium an der renommierten Harvard Medical School nicht leisten kann. „Es geht an jemanden, dessen Lebensgeschichte sich so sehr vom Rest der Bewerber abhebt, dass sich die Entscheidung quasi von selbst ergibt.“

Mit dieser Szene startet der Film  21. Darin wird die Geschichte eines hochbegabten Studenten am Massachusetts Institute of Technology (MIT) in Boston erzählt, der von einem Medizinstudium an der Harvard-Universität träumt. Am MIT gehört Ben zu den Besten im Kurs für Nichtlineare Gleichungssysteme und ist somit prädestiniert, in ein ganz besonderes Team aufgenommen zu werden: Professor Micky Rosa erteilt ausgewählten Studenten einen Crashkurs darin, wie man den Zufall, durch den das Glücksspiel charakterisiert ist, überlisten und somit viel Geld verdienen kann. Rosa hat erkannt, dass dem Glücksspiel gewisse Regeln innewohnen – Regeln, die sich auch als Wahrscheinlichkeiten beschreiben, das heißt berechnen lassen. Ben, der intuitiv gut mit Zahlen umgehen kann, gewinnt bei seinen Reisen nach Las Vegas mehrere Hunderttausend US-Dollar, indem er beispielsweise die Methode des Kartenzählens anwendet.

Kartenzählen: Beim Black Jack, auch „17 und 4“ genannt, hat jede Spielkarte einen gewissen Wert. Das Ziel des Spiels besteht darin, Kartenkombinationen zu erhalten, deren Summe 21 beträgt (beziehungsweise die dieser Zahl möglichst nahe kommen). Da die Anzahl der möglichen Karten in einem Kartendeck
begrenzt ist, lassen sich die Werte der Karten, die noch nicht gespielt wurden, abschätzen, indem man sich die bereits gespielten Karten merkt (sie zählt).

Letztendlich schafft es Ben, den Juror zu überzeugen. Vermutlich nicht nur deshalb, weil er sich gespielte Karten gut merken kann, sondern auch, weil ihn weder die handfesten Argumente des Kasino-Sicherheitsmannes noch die Tatsache, dass er zweimal alles verloren hat, davon abhalten konnten, immer weiterzumachen.

Zugegeben: Als ich den Film zum ersten Mal sah, war ich geneigt, ins nächste Kasino zu marschieren und mir das Geld für mein Studium am Black-Jack-Tisch zu verdienen. Oder, noch besser, mit glücksspielähnlichen Finanzprodukten – schließlich wollte ich Finanzwirtschaft studieren.

Glücksspiel – Pate für Finanzprodukte

Das Prinzip des Glücksspiels auf Finanzprodukte anzuwenden, ist im Grunde ein alter Hut. Schauen wir uns den Münzwurf an: Hier stehen die Chancen genau 50 zu 50, dass Kopf oder Zahl gewinnt. Daraus lässt sich folgern, dass, wenn beispielsweise zehn Mal hintereinander Kopf geworfen wurde, beim nächsten Wurf mit einer höheren Wahrscheinlichkeit Zahl kommt. Schließlich muss sich das Verhältnis von Kopf zu Zahl wieder dem Verhältnis 50 zu 50 annähern. So weit, so einleuchtend.

Doch was passiert, wenn man diese simple Logik auf die Ökonomie überträgt?

Wie beim Glücksspiel gibt es in der Ökonomie gewisse Risiken, die sich nicht vermeiden lassen. Man muss mit ihnen leben. Und wie beim Glücksspiel versucht man anhand bestimmter Berechnungen vorherzusagen, mit welcher Wahrscheinlichkeit ein Ereignis eintreten oder auch nicht eintreten wird. Wenn man jedoch die Grundlagen wahrscheinlichkeitstheoretischer Berechnungen nicht beherrscht, kann dies mitunter katastrophale Folgen haben. So zeigten die zwei US-amerikanischen Mathematikprofessoren Donald Richards und Hein Hundal, dass zur Konstruktion der Constant Proportion Debt Obligations (CPDO) – ein Finanzprodukt, das
2006 noch als die Finanzinnovation des Jahres gefeiert und von der Ratingagentur Moody’s mit der Bestnote AAA bewertet wurde – gewisse wahrscheinlichkeitstheoretische Modelle zugrunde gelegt wurden, die sich für solche Finanzprodukte schlichtweg nicht eignen.

Constant Proportion Debt Obligation (CPDO): CPDOs sind Wertpapiere – allerdings in einem sehr abstrakten Sinne. Ihre Wertigkeit ergibt sich nämlich aus der Wertigkeit anderer Wertpapiere; genauer: der Wertigkeit von Kreditausfallversicherungen (CDS = Credit Default Swap). Ein CDS gibt beispielsweise
einer Bank die Möglichkeit, sich gegen den Ausfall eines Kredits, den sie an ein Unternehmen vergeben hat, zu versichern.
Steigt das Risiko des Kreditausfalls, betrifft dies zunächst das CDS, das an Wert verliert, weil die Wahrscheinlichkeit steigt, dass Zahlungen anfallen. Dementsprechend sinkt auch der Wert
der CPDOs, die sich auf dieses CDS beziehen.

Die CPDOs orientieren sich im Kern am Münzwurfprinzip: Man geht davon aus, dass die Risiken auf den Finanzmärkten bestimmten Wahrscheinlichkeiten unterliegen; treten diese Risiken nun vermehrt auf, so ist das zunächst gar kein Problem; schließlich bedeutet dies im Umkehrschluss, dass die Wahrscheinlichkeit auf das zukünftige Ausbleiben des Risikos immer mehr steigt – genau so, wie wir beim Münzwurf davon ausgehen, dass, je häufiger nacheinander „Kopf“ geworfen
wurde, die Wahrscheinlichkeit für „Zahl“ wieder steigen muss. Wo aber liegt hier der Denkfehler? Was hatten die beiden Mathematikprofessoren an dieser Vorgehensweise zu beanstanden?

Irrtum bei der Patenwahl

 

Eine wichtige Annahme von Wahrscheinlichkeitsaussagen ist folgende: Will man den Ausgang eines immer gleichen Ereignisses analysieren, so stellt man Beobachtungen an, aus denen sich irgendwann ein bestimmtes Muster herauskristallisiert. Dieses Muster ergibt sich aus dem Gesetz der großen Zahl, welches sich anhand des oben erwähnten Münzwurfes wunderbar verdeutlichen lässt: Wenn bei uns in den agora42-Redaktionsräumen mal wieder die Köpfe heiß laufen, weil der
Redaktionsschluss kurz bevorsteht, werfen wir eine Münze, um zu bestimmen, wer kühle Getränke besorgen muss. Jeder hat zu Beginn die gleichen Chancen: nämlich 50 Prozent, dass „Kopf“ gewinnt und 50 Prozent, dass „Zahl“ gewinnt. Trotzdem kann es durchaus sein, dass bei jedem Wurf „Kopf“ fällt, und derjenige, der bei „Zahl“ geblieben ist, sich auf den Weg machen muss. Das ist kein Widerspruch, denn wie der Name des Gesetzes schon sagt, pendelt sich das Verhältnis 50
zu 50 erst bei wirklich großen Zahlen, also bei wirklich vielen Münzwürfen ein. Würden wir also die Münze fast unendlich oft werfen, könnten wir feststellen, dass die Wahrscheinlichkeit „Kopf“ zu „Zahl“ tatsächlich 50 zu 50 beträgt.

Bis hierhin haben auch die Finanzingenieure den Münzwurf verstanden. Worüber sie jedoch stolperten, war die Tatsache, dass beim Münzwurf das Ergebnis eines Wurfes keinerlei Einfluss auf den Ausgang des darauf folgenden hat. Jeder Münzwurf ist isoliert von den anderen zu betrachten. Anders bei den CPDOs: Hier hat das eine Ergebnis sehr wohl einen Einfluss auf das darauf folgende. Schließlich wettete man hier nicht auf Münzwurfe, sondern auf komplexe Finanzkonstruktionen, deren zugrunde liegende Variablen eng miteinander in Verbindung standen. Dies alles in Erwägung ziehend, zeigten die beiden Mathematikprofessoren auf, dass
bereits bei der Konstruktion der CPDOs feststand, dass die Chancen auf Gewinn höchstens bei zehn Prozent lagen. Anders ausgedrückt: Derjenige, der in solch ein Produkt investierte, verlor mit einer Wahrscheinlichkeit von 90 Prozent sein eingesetztes Geld.

Wahrscheinlichkeit als Gratwanderung

Von diesem sehr speziellen Finanzprodukt, dessen Konstrukteure in ihren Vorlesungen zur Wahrscheinlichkeitsrechnung geschlafen haben müssen (oder aber Anhänger der Greater Fool h  eory sind: „We may be fools, but as long as we find a bigger fool, it doesn’t matter“), einmal abgesehen, kommt die Ökonomie beim Versuch, den richtigen Umgang mit dem Risiko zu fin-
den, nicht um die Wahrscheinlichkeiten herum. Warum ist das so?

Das Problem eines Managers ist dem der Finanzingenieure recht ähnlich: Er bewegt sich in einem komplexen und dynamischen Umfeld und muss doch in der Lage sein, zu planen und Entscheidungen treffen zu können. Doch damit nicht genug, schließlich muss er seine Entscheidungen in der Regel anderen gegenüber vertreten und braucht dafür gute Argumente. Wie auch die Finanzingenieure, versucht er in der Wirklichkeit gewisse Muster zu beobachten, die bestimmten Regeln folgen. Regeln, an denen er dann sein Handeln ausrichten kann und die ihm zur Begründung seiner Entscheidungen dienen.

Mit diesen Modellen der Wirklichkeit bewegt sich der Manager jedoch auf einem schmalen Grat: Auf der einen Seite liegt eine Welt, in der alle Prozesse klaren Regeln und Gesetzen folgen, auf der anderen Seite liegt das reine Chaos, in dem Ordnungslosigkeit und Unsicherheit vorherrschen. So überraschend es auch klingen mag, aber genau dieser Grat ist letztlich auch der Grund dafür, dass es überhaupt Manager gibt. Denn in einer vollständig geordneten Welt könnte man problemlos auf eine Person verzichten, die doch nur Entscheidungen fällt, die von vornherein feststehen. Und auch in einer Welt der Unordnung und des Chaos wäre der Manager überflüssig. Denn wenn ohnehin nichts sicher ist, bedarf es auch keiner Person, die Strategien und sorgfältige Planungen aufstellt.

Auf dem Grat, auf dem unser Manager wandelt, hat er es jedoch mit einer Mischung aus Ordnung und Chaos zu tun. Hier herrschen nicht Gesetze, sondern lediglich Wahrscheinlichkeiten – Wahrscheinlichkeiten, die wiederum durch Häufigkeiten und Grenzwerte gekennzeichnet sind. Das Risiko bezieht sich nun darauf, dass wir nicht mit Sicherheit wissen können, wann sich die
Wahrscheinlichkeiten realisieren und welche Variablen die Eintrittswahrscheinlichkeit eines Ereignisses beeinflussen.

Auch Ben, der in seiner Zeit als professioneller Spieler mit nicht annähernd so vielen Variablen wie ein Manager zu kämpfen hat, muss die schmerzhafte Erfahrung machen, dass eben nicht alles planbar ist. Denn selbst wenn er durch die Methode des Kartenzählens die Wahrscheinlichkeiten im Glücksspiel halbwegs abschätzen kann, so gibt es noch weit mehr Variablen, die den Eintritt eines Ereignisses beeinflussen können. Als ihn eines Abends aufgrund von aufgestautem Frust sein rationales Denkvermögen im Stich lässt, verliert Ben schließlich über 200.000 Dollar. „Rechne immer damit, dass sich die Variablen ändern können“, so sein Professor. Das ist das Risiko.

Theorie und Praxis

 

Aber sind unter diesen Umständen überhaupt Modelle denkbar, die uns von der Sorge um das Risiko befreien? Die Antwort lautet nein. Und das im Wesentlichen aus zwei Gründen: Erstens bräuchte man unendlich viele Werte, um die Wahrscheinlichkeiten exakt berechnen zu können – beziehungsweise zumindest so viele Werte, um verlässliche Näherungswerte berechnen zu können. Wie viele das sein müssen, ist ungewiss. Die Daten aus vier Jahren, die bei der Berechnung der CPDOs zur Verfügung standen, reichten jedenfalls bei weitem nicht
aus. Zweitens kann man nie mit letztgültiger Sicherheit sagen, dass man alle relevanten Variablen berücksichtigt hat und inwiefern diese Variablen von anderen beeinflusst werden. In den meisten Fällen behauptet man es jedoch trotzdem. Zu welchen Irrtümern das führen kann, zeigt Professor Donald Richards in seiner Auflistung von Annahmen (Theorie), die Finanzingenieure bei der Konstruktion ihrer Produkte zugrunde legen, und stellt diese der Realität gegenüber (Praxis):

Theorie:
Es gibt eine unendliche Zahl möglicher Käufer.
Praxis:
Die Zahl der Käufer ist begrenzt (in Zeiten der Panik
gibt es nicht mal einen einzigen).
Theorie:
Das Risiko wird anhand des Betas (eines speziellen Parameters, der die Preisschwankungen misst) bestimmt.
Praxis:
Das Risiko wird dadurch bestimmt, dass man sich überlegt, wie viel man verlieren kann und wie wahrscheinlich dieser Verlust ist.
Theorie:
Alle Händler gehen rational vor.
Praxis:
Über lange Sicht verliert die Mehrheit der Händler Geld, was im Widerspruch zur Rationalitätsannahme steht.
Theorie:
Die Händler stehen im Wettbewerb zueinander.
Praxis:
Und Insiderhandel gibt es nicht?
Theorie:
Zur präziseren Vorhersagbarkeit haben wir komplizierte theoretische Modelle aus der Physik auf die Finanzmärkte übertragen.
Praxis:
Tatsächlich wurde nur versucht, fehlende Erfahrungswerte durch theoretische Hirngespinste zu kompensieren, Spekulation als Investition auszugeben.

* Dieser Beitrag ist in Agora 42, Ausgabe 5/2011 erschienen und von der Redaktion verfasst. Agora ist ein zweimonatlich erscheinendes Print-Magazin für Ökonomie, Philosophie und Leben. Der Beitrag ist urheberrechtlich geschützt und mit Erlaubnis der Redaktion hier exklusiv online gestellt.

Marcus November 28, 2012 um 14:40 Uhr

Hoch interessanter Artikel! Vielen Dank erst einmal dafür.

Interessieren würde mich noch, wo man den Film sehen kann. Kam der im Kino? Oder gibt es denn nur auf kleineren Portalen zu schauen?

Danke
Marcus

Dirk Elsner November 28, 2012 um 22:19 Uhr

Der Film lief 2008 oder so im Kino und war richtig sehenswert.
http://www.amazon.de/21-Jim-Sturgess/dp/B001C6UDCG/ref=sr_1_1?ie=UTF8&qid=1354137541&sr=8-1

MartinGreenDolphin November 28, 2012 um 10:30 Uhr

Ein wirklich interessanter Artikel. Komplexe Mathematik hat in der Finanzwelt nichts verloren – was dabei rauskommt haben wir ja gesehen.

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