Warum der Aktienmarkt so gestört ist (Teil 2): Die Kay-Review und Deutschland

by Karl-Heinz Thielmann on 14. März 2013

Leider blieb die vor einigen Tagen in diesem Blog vorgestellte Kay-Review hierzulande bisher weitgehend unbeachtet. Wenn man allerdings die Aktienmärkte von Deutschland und Großbritannien vergleicht, so stellt man fest, dass sich die allgemeine Bestandsaufnahme von John Kay durchaus auch auf deutsche Verhältnisse übertragen lässt: Der Aktienmarkt hat seine Rolle als Finanzierungsquelle für produktive Investitionen verloren. Neuemissionen dienen vor allem als Ausstiegsmöglichkeit von Altinvestoren. Kurzfristige Anleger dominieren das Börsengeschehen, der Bezug zwischen Aktienkursen, Gesamtwirtschaft und Unternehmensentwicklung scheint verloren gegangen.

Doch lassen sich die Ergebnisse und Empfehlungen von John Kay auch im Detail auf Deutschland übertragen? Um diese Frage zu beantworten, muss die Situation am Kapitalmarkt und bei den Unternehmen unterschieden werden.

Am Kapitalmarkt gibt es große strukturelle Unterschiede zwischen beiden Ländern. Publikumsfonds sind in Großbritannien wie in Deutschland ungefähr gleich wichtig. Institutionelle Investoren wie Versicherungen oder Pensionskassen spielen in Großbritannien aber traditionell eine größere Rolle am Aktienmarkt wie in Deutschland. Allerdings ist in beiden Ländern ihre Bedeutung im vergangenen Jahrzehnt geschrumpft, weil verschärfte Aufsichtsregeln in beiden Ländern vor allem Versicherungen dazu zwangen, die Aktienquoten deutlich zurückzufahren.

In Deutschland sind bei Privatanlegern sog. Zertifikate populär, während diese in Großbritannien von der Finanzaufsicht sehr negativ gesehen werden. Zertifikate zählen zu den strukturierten Finanzprodukten und sind ein Sammelbegriff für Inhaberschuldverschreibungen, die über derivative Komponenten verfügen, sodass ihre Wertentwicklung von der Wertentwicklung anderer Finanzprodukte abhängt. Während sie in Deutschland von Banken mit Milliardenvolumen auch an wenig qualifizierte Privatanleger verkauft werden, ist in Großbritannien der Gebrauch strukturierter Produkte ausgesprochenen Spezialisten vorbehalten.

Zertifikate sind sehr oft mit begrenzten Laufzeiten versehen und daher vor allem für kurz- und mittelfristige Anlagen geeignet. Sie stehen sehr stark in der Kritik, weil bei ihnen sowohl die echte Kostenbelastung wie auch die Risikosituation viel schwerer zu beurteilen ist als wie bei anderen Finanzinstrumenten.

In Großbritannien sind dafür andere Formen der langfristigen Kapitalanlage populär, wie z. B. Investmenttrusts. Dies sind geschlossene und auf unbestimmte Zeit angelegte Anlagegesellschaften, die langfristige Investmenthemen verfolgen. Ihre Anteile werden wie Aktien an der Börse gehandelt; es gibt keine Rücknahmegarantie zum Nettoinventarwert wie bei offenen Publikumsfonds.

In Deutschland hingegen sind sogenannte geschlossene Fonds recht beliebt, mit denen Kapitalanleger sich für einen Zeitraum von mehreren Jahren an einem unternehmerischen Projekt beteiligen, z. B. gewerbliche Immobilien, Filmproduktion, Schifffahrt, alternative Energien, Rohstofferschließung etc. Problematisch an diesen Fonds sind vor allem zwei Dinge: 1) Die Risikostreuung ist mangelhaft und 2) sie gehören dem grauen Kapitalmarkt an. Sie unterstehen daher nicht der Finanzaufsicht und können auch von unseriösen Anbietern angeboten werden. Hier ist allerdings Besserung in Sicht, derzeit bereitet die Bundesregierung einen Gesetzent¬wurf zur Verbesserung des Anlegerschutzes vor.

In Hinblick auf die Risikomanagementvorschriften für institutionelle Investoren muss festgehalten werden, dass hier die gleichen, von Kay kritisierten Risikomodelle angewandt werden. Bei der Erzeugung überflüssiger und irreführender Datenmengen hat Deutschland Großbritannien weit hinter sich gelassen: Sowohl die vorgeschriebenen Informationen zu Anlageprodukten wie auch viele Pflichtmeldungen von Banken und Vermögensverwaltern an das BaFin verursachen inzwischen eine Unmenge von Daten ohne Aussagekraft. Ein Beispiel für die noch restriktiveren Vorschriften für deutsche Vermögensverwalter ist die inzwischen eingeführte Verpflichtung zum monatlichen Performancereporting, deren einziges konkretes Ergebnis bisher war, dass Kunden in einer Papierflut ertrinken.

Hoffnung besteht allerdings in Hinblick auf die von Kay bemängelte Ignoranz der Aufsichtsbehörden bezüglich falscher Anreizsetzung. In Großbritannien wurde ab Januar 2013 verboten, dass Berater Provisionen beim Vertrieb von Finanzprodukten annehmen, womit eine wesentliche Ursache für Beratungsmissbrauch beseitigt worden ist. Bis September vergangenen Jahres plante die EU ähnliches auch für das übrige Europa. Dieses Vorhaben wurde jedoch im EU-Parlament im letzten Moment gestoppt.

Grundsätzlich muss man daher sagen, dass die auf den Kapitalmarkt bezogenen Kritikpunkte von John Kay für Deutschland noch sehr viel stärker gelten. Die in Deutschland üblichen Finanzinstrumente sind sehr viel mehr auf kurzfristige Anlagezeiträume ausgelegt, bei einigen langfristigen Investments wie geschlossenen Fonds ist der Anlegerschutz (noch) mangelhaft. Dafür werden noch mehr nichtssagende Daten produziert.

Auf der Unternehmensseite hingegen hebt sich Deutschland positiv von Großbritannien ab, wie auch Kay in seinem Report mehrfach anhand von Beispielen feststellt. Zwar gibt es auch in Deutschland Beispiele für Unternehmen, die ihre Geschäftspolitik an der kurzfristigen Optimierung des Börsenkurses ausrichten, allerdings sind diese sehr viel seltener als in Großbritannien.

Kay selbst nennt als Grund für die stärker ausgeprägte Weitsichtigkeit deutscher Aktiengesellschaften den stärkeren Einfluss von Unternehmerfamilien, die ihr Engagement an einer Firma langfristig und generationenübergreifend verstehen. Wir würden zudem als weiteren Grund noch die grundsätzlich stärkere Exportorientierung vieler deutscher Gesellschaften sehen. Wer im internationalen Wettbewerb dauerhaft bestehen will, muss am langfristigen Aufbau seiner Marktposition arbeiten und kann sich kurzfristiges Denken nicht leisten. Deutsche Unternehmen setzen sich in der Regel im Qualitätswettbewerb durch und nicht durch niedrige Preise. Verlässliche Qualität setzt aber einen langfristigen Ansatz sowohl bei Forschung und Entwicklung wie auch bei der Produktion und dem Marketing voraus.

Es gibt zwar auch am britischen Aktienmarkt inzwischen einige Gesellschaften mit typisch deutschen Eigenschaften. Ihre Rolle wächst zwar, sie sind aber in Relation zum Gesamtmarkt weit weniger bedeutend.

Komplett gestört ist in Deutschland die Kommunikation zwischen Kapitalmarkt und Managern. Ich selbst weiß aus vielen Gesprächen, dass die meisten Unternehmer den Kurskapriolen am Aktienmarkt völlig fassungslos gegenüberstehen. Nur wenige Fondsmanager und Analysten werden von den Unternehmenslenkern wirklich ernst genommen; wie ich leider feststellen musste, zurecht. In Deutschland können die Manager zumeist nichts von den Investoren lernen, sondern umgekehrt.

Auch wenn John Kay das mangelhafte Engagement der institutionellen Aktionäre in Großbritannien kritisiert, so muss doch festgestellt werden, dass sie sehr viel aktiver sind als in Deutschland. Insbesondere in Hinblick auf die Verhinderung von überzogenen Managementvergütungen (z. B. bei Glaxo oder Aviva) oder zweifelhafter Akquisitionen (z. B. bei Prudential) konnten sich die Aktionärsvertreter gelegentlich durchsetzen. In Deutschland hingegen war das Verhalten von institutionellen Investoren gegenüber Unternehmen lange von den Interessen der Banken geprägt, zu denen die jeweiligen Investmentfirmen gehörten. Einmischung galt als Tabu. Erst seit einigen Jahren beginnt sich dies zu wandeln. Die großen Fondsgesellschaften haben inzwischen spezialisierte Beauftragte, die sich teilweise sehr kritisch mit Unternehmensleitern auseinandersetzen. Zu größeren Konflikten zwischen Fondsvertretern und Managern ist es in Deutschland im Gegensatz zu Großbritan¬nien aber noch nicht gekommen.

Abschließend kann man sagen, dass die Kay-Review viele interessante Punkte enthält, die sich trotz aller Unterschiede im Wesentlichen auch auf Deutschland übertragen lassen. Denn die Kernaussagen, dass kurzfristiges Denken die Funktionsweise des Aktienmarktes stört sowie falsche Anreize und berechtigtes Misstrauen in den Finanzmarkt die Ursachen hierfür sind, gelten für beide Länder. Sehr wahrscheinlich kann man sie auch auf die meisten anderen bedeutenden Volkswirtschaften übertragen. Im Detail unterscheiden sich aber alle Nationen, insofern sind die Analyse und die Empfehlungen nur bedingt übertragbar. In Deutschland besteht weniger auf der Unternehmensseite Handlungsbedarf, am Aktienmarkt um so mehr.

Funktionsfähige Kapitalmärkte sind eine Voraussetzung für echten Wohlstand. Aktienmärkte haben eine volkswirtschaftliche Funktion, wenn sie zum Spielcasino verkommen, ist etwas verkehrt. Wenn Finanzmärkte durch Financial Engineering Vermögenswerte produzieren, die nur auf dem Papier stehen, ist die Katastrophe vorprogrammiert, weil sich die fiktiven Wertzuwächse irgendwann mit einem großen Knall in Luft auflösen. Dies ist zuletzt 2008 geschehen und wird wieder passieren, wenn die strukturellen Ursachen für Finanzkrisen nicht angegangen werden. John Kay muss das Verdienst zugesprochen werden, dass er Systemfehler und mögliche Lösungsansätze klar benennt. Sein Report sollte weltweit zur Pflichtlektüre für alle Wirtschaftspolitiker, Bankvorstände, Fondsmanager sowie Finanzmarktregulierer werden und sie sollten die richtigen Konsequenzen hieraus ziehen. Dann besteht vielleicht Hoffnung für die globale Finanzwelt.

Teil 1 und 2 des Textes „Warum der Aktienmarkt so gestört ist“ sind aktualisierte Fassungen von „Der Kay-Report und seine Bedeutung für Deutschland“, erschienen am 1. Oktober 2012 in „Mit ruhiger Hand“ Nummer 6.

Robert Michel März 14, 2013 um 18:40 Uhr

„Der Aktienmarkt hat seine Rolle als Finanzierungsquelle für produktive Investitionen verloren. “

Jede Kapitalerhöhung widerlegt diese These.

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