Warum wir auch im Internetzeitalter Leitmedien brauchen

by Gastbeitrag on 2. Mai 2013

Gastbeitrag von Stephan Dörner*

In meinem Beitrag “Zeitungen: Ein betriebswirtschaftliches Problem und eine technische Lösung” habe ich kürzlich ausgeführt, warum ein Schlüssel zum Geschäftsmodell Journalismus im Internet in einer intelligente Filtertechnik liegt. Diesmal werde ich ausführen, warum ich unrecht hatte. ;)

Nein Scherz – ich glaube nach wie vor, dass mit einer guten Filterung ein Geschäft zu machen wäre. Doch ich glaube auch, dass die klassische Universalzeitung und das Magazin ihre Berechtigung haben.

Häufig wird darauf verwiesen, dass klassische Vollmedien zum Entdecken einladen – und den Leser so auf Themen abseits seiner “Filter Bubble” aufmerksam machen, die er ansonsten nie entdeckt hätte. Doch es gibt noch mehr, was klassische redaktionell und ohne Algorithmen erstellte Medien den Filterwerkzeugen voraus haben.

Habt ihr schon einmal das Phänomen gehabt, dass ein Film im Fernsehen lief und ihn geschaut habt, obwohl ihr ihn in irgendeiner Form besitzt und zu jeder anderen Zeit hättet sehen können? Zumindest für mich spielt es eine Rolle, ob ich der einzige bin, der gerade einen Film sieht – oder ob ich weiß, dass Millionen andere einen Film sehen. Und es hat auch eine praktische Auswirkung: Werde ich mich mit Freunden und Kollegen am nächsten Tag darüber austauschen können? Vielleicht sogar schon live während des Sehens via Twitter und Facebook?

Nun sind Zeitungen kein Echtzeitmedium. Aber wenn gestern ein Artikel auf einem Leitmedium wie Spiegel Online veröffentlicht wurde, ist die Wahrscheinlichkeit nicht gering, dass ich mich am nächsten Tag mit jemanden unterhalten kann, der den Artikel ebenfalls gelesen hat.

Menschen denken in Storys

Ich will an dieser Stelle etwas philosophisch werden: Ich glaube, dass Menschen die Tendenz dazu haben, in Geschichten zu denken. Das hat vermutlich den Sinn, die riesige Komplexität der Realität auf etwas zu reduzieren, was für den Menschen begreifbar ist. Journalisten sind in diesem Sinne Geschichtenerzähler und dienen dazu, was politisch, wirtschaftlich und gesellschaftlich passiert begreifbar zu machen.

Zu einer Gesellschaft gehört, dass sich die Mitglieder der Gesellschaft untereinander austauschen können. Ansonsten leben sie aneinander vorbei. Ich sehe beispielsweise eines der Hauptprobleme bei der europäischen Einigung darin, dass gemeinsame Sprache und Medien fehlen. Somit gibt es keine gemeinsame europäische Öffentlichkeit, keine gemeinsam im gesellschaftlichen Diskurs geschriebene Geschichte und keine Verständigung darüber, was eigentlich passiert.

Die Eurokrise ist auch eine Verständigungskrise

Medien und Öffentlichkeit in Deutschland, Spanien, Frankreich, Großbritannien, Portugal und Griechenland haben beispielsweise jeweils ihre eigene durch nationale Eigenheiten und Egoismen geprägte Geschichte der Eurokrise. Doch auch schon innerhalb Deutschlands gibt es Parallelgesellschaften. So weichen Sprache, Medien und Interpretation der aktueller Ereignisse rund um Themen wie Internet und Überwachung in Zirkeln der Piratenpartei und ihrer netzaffinen Unterstützerszene sicher stark vom Rest der Öffentlichkeit ab.

Leitmedien haben die Aufgaben eine Art kleinsten gemeinsamen Nenner zu finden. Sie sollten verschiedene Seiten der Gesellschaft zu Wort kommen lassen – aber eben auch eine grobe Interpretation von Ereignissen liefern, die im Großen und Ganzen als kleinster gemeinsamer Nenner gelten können. Ich will damit nicht sagen, dass Leitmedien mit ihrer Interpretation von Ereignissen immer richtig liegen. Doch ihre Debatten und ihre Geschichtsschreibung sind eine Art Referenzpunkt in der Gesellschaft, der Diskussion und Meinungsaustausch erst ermöglicht.

Der Beitrag ist ein Crosspost vom Online-Journalismus-Blog. Stephan ist Tech Editor beim Wall Street Journal Deutschland

Elen Mai 2, 2013 um 07:33 Uhr

Hallo!

Danke für einen guten Beitrag. Ich teile absolut die Stellung, dass Leitmedien viele Ereignisse nicht subjektiv darlegen. Und dies regt oft zu Diskussionen. Man ist etweder einverstanden oder nicht mit der Stellung des Autors. Also Medien erfüllen oft nicht bloß die informative Funktion. Und der solche Charakter der Darlegung macht den Leser aktiv, regt ihn zum Nachdenken und Argumentieren.

Beste Grüße
Elen

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