Blick Log Retro: Das Dilemma des Komplexitätsreduktionismus in der Wirtschaftspraxis (Teil 1)

by Dirk Elsner on 22. Mai 2013

Während Deutschland dem Finale der Champions League am kommenden Samstag entgegenfiert, nähert sich auch meine Urlaubszeit ihrem Finale. Zeit für einen weiteren Griff in das Archiv des Blick Logs:

„Alles Leben ist Problemlösen.“ (Karl Popper)

Ob man sich heute mit konkreten Fragen der Unternehmensführung oder den Finanzmärkten befasst – fast automatisch stößt man auf das Thema Komplexität. Genauer: auf das Schlagwort von der „gestiegenen Komplexität“ und die mit ihr verbundenen Probleme. Die Vorschläge zur Bewältigung dieser Probleme basieren jedoch zumeist auf einer einseitigen Sichtweise, die der komplexen ökonomischen Praxis nicht gerecht wird.

Seit Jahrzehnten konzentriert sich die betriebswirtschaftliche Literatur und Praxis auf die Berechenbarkeit und Planbarkeit von Unternehmenserfolgen. Komplexität taucht als „Störung“ meist nur am Rande auf und wird gerade vom Top-Management „nur“ als operatives Problem gesehen, das sich mittels entsprechender Werkzeuge und Anstrengungen in den Griff bekommen lassen müsse.

Häufig dient Komplexität, so vermutet der Managementforscher Fredmund Malik, zur Entschuldigung eigener Unfähigkeit und zur Rechtfertigung für eine reduktionistische Strategie – das heißt eine Strategie, welche die Mehrdimensionalität beziehungsweise Komplexität ausblendet und stattdessen auf eindimensionale Erklärungen und Vereinfachung setzt. Die ausdrückliche Thematisierung von Komplexität und die aufwändige Untersuchung ihrer Folgen werden so vermieden. Die Konsequenzen können wir täglich beobachten: Das Management kommt aufgrund unterschätzter Komplexität zu falschen Einschätzungen und dies führt in der Folge zu Fehlern, Kalkulationsabweichungen und Schadensfällen (die Fälle Toyota und BP sind nur die jüngsten prominenten Beispiele).

Der reduktionistische Umgang mit Komplexität hat in der Wirtschafts- und Managementpraxis viel mit Informationsverarbeitung zu tun. So ist es gängige Praxis, Entscheidungsvorlagen und Präsentationen (Powerpoint lässt grüßen) für das Top-Management bis auf einen „One-Pager“ zu reduzieren. Man glaubt, dadurch schneller zu Entscheidungen gelangen zu können (trifft das den Kern Ihrer Aussage? ja). Auch in der Literatur für die Wirtschaftspraxis dominieren einfach gestrickte Patentrezepte. So wird man von Ratgebern, die ein „Prinzip“ anpreisen, geradezu überrollt: “Das Hannibal-Prinzip:”heißt ein Buch mit dem Untertitel: “Mutig führen, menschlich bleiben”. Daneben beglücken uns “Das Magellan-Prinzip”, “Das Odysseusprinzip” und viele mehr. Beliebt sind daneben die Tier-Prinzipien, wie “Das Pinguin-Prinzip” oder Die Mäusestrategie für Manager”.

Diese und unzählige andere Konzepte verfolgen das Ziel, über „geänderte Verhaltenstechniken“, durch Einführung neuer Unternehmensstrukturen, die Nutzung neuer Technologien oder den sinnvollen Einsatz menschlicher Fähigkeiten den Unternehmenserfolgs zu steigern. In zahlreichen Untersuchungen wird die Wirksamkeit solcher Rezepte bezweifelt und widerlegt. Häufig erweisen sie sich sogar als schädlich, weil sie reduktionistische Erklärungen für komplexe Sachverhalte bieten und daraus zu simple Handlungsempfehlungen ableiten – doch diese sind selten mit der Komplexität der ökonomischen Praxis in Einklang zu bringen.

Der Wirtschafts- und Sozialforscher Peter Kappelhoff hat sich in einem Arbeitspapier kritisch mit der auf der „Mode“ Komplexität reitenden Managementliteratur auseinandergesetzt und bemängelt die Fundierung vieler Ansätze. Der Wirtschaftswissenschaftler Joachim Hentze pflichtet ihm bei und stellt fest, dass viele eingesetzte Instrumente den heutigen unternehmerischen Herausforderungen nicht gerecht werden. So werden etwa durch den Einsatz starrer und vereinfachender Systeme im Bereich des Informationsmanagements viele Abhängigkeiten übersehen – zum Beispiel bei Anwendung von Methoden wie Re-Engeneering oder Six Sigma. Dies hat eine übermäßige Spezialisierung zur Folge, die dazu führt, dass man den Überblick verliert und somit Unternehmensreorganisationen in blindem und wirkungslosem Aktionismus münden, weil man nicht weiß, wo Prioritäten zu setzen sind. Dadurch kann sogar der Kollaps von ganzen Systemen zustande kommen. Als Beispiel mag der Flash-Crash am amerikanischen Aktienmarkt im vergangenen Jahr dienen, dessen Ursachen weiter ungeklärt sind (siehe dazu dieses Working Paper .The Microstructure of the ‘Flash Crash’)

Märkte und Unternehmen sind komplexe ökonomische Systeme, in denen Menschen auf unterschiedlichste Weise interagieren. Gleichwohl dominiert weiterhin eine mathematische Fiktion die ökonomische Grundausbildung: der Homo oeconomicus. Vielleicht liegt es genau an diesem Menschenbild, dass Ökonomen Komplexität unterschätzen und wegdefinieren.

Der zweiten Teil geht der Frage nach, wie wir mit Komplexität umgehen sollen und enthält ein umfangreiches Literaturverzeichnis.


Dieser Beitrag ist eine leicht überarbeitete und um Hyperlinks erweiterte Fassung meines Artikels für die Ausgabe 2 (Februar/März) des Magazins agora42. Ein Blick in das Magazin ist hier über Issuu möglich. Dieser Beitrag ist urheberrechtlich geschützt.

Rainer Linse Mai 25, 2013 um 02:55 Uhr

Sehr geehrter Herr Elsner,
als ich diesen Artikel das erste Mal las, bekam „Komplexitätsreduktionismus“ eine ganz neue Bedeutung für mich. Wer sich einmal mit Entscheidungstheorie und der Unterscheidung zwischen einer Entscheidung unter Risiko und einer Entscheidung unter unvollständiger Information beschäftigt hat, weiß, dass es viel leichter ist, Dinge komplizierter zu machen, als einfacher. Schon Goethe hat geschrieben: „Ich hatte leider keine Zeit, deshalb ist der Brief so lang.“ Welche Botschaft hat dieser Artikel? Oder kommt die in Teil zwei mit umfangreichem Literaturverzeichnis. Für mich gilt: Man sollte die Dinge so einfach wie möglich machen, aber nicht einfacher. Das gilt m. E. auch für Artikel im ICV Blog.
Mit freundlichen Grüßen
Rainer Linse
ICV Delegierter Deutschland Süd

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